Die junge Frau war bezaubernd schön, sie hatte schulterlange blonde Haare, drehte sich im Kreis und lächelte ihn an. Sie öffnete ihr Kleid und ließ es zu Boden gleiten. Darunter war sie … nackt.

Emilio wälzte sich im Bett auf die andere Seite. Normalerweise schlief er tief und fest wie ein Stein. Schon gleich neigte er nicht zu erotischen Träumen. Dennoch hatte sich die Frau soeben vor seinen Augen ausgezogen. Warum hatte sie das getan? Jetzt strich sie sich zärtlich … nein, nicht über ihre Brüste, sondern über ihr gewölbtes Bäuchlein. Fast schon beruhigt konstatierte Emilio, dass ihn im Schlaf keine Sexphantasien heimsuchten. Um wenige Atemzüge später festzustellen, dass ihm das fast lieber wäre – jetzt, wo er wusste, wer die junge Frau in seinem Traum war. Mit den Bildern einer nackten Venus vor seinem geistigen Auge könnte er selig weiterschlafen. Aber nicht angesichts einer entblößten Frau, zu deren Füßen ein rotes Kleid lag, die ein goldenes Kettchen am Fußgelenk trug und die ihm etwas zuflüsterte. Er konnte ihre Worte verstehen: «Hilf mir …», wisperte sie.

Wie sollte er ihr helfen? Die Frau war tot, schon seit vielen Jahren. Da kam jede Hilfe zu spät.

«Hilf mir», wiederholte sie, «indem du meinen Mörder findest. Ich will, dass er bestraft wird. Ich will, dass er Höllenqualen erleidet, die mindestens so schlimm sind wie jene, die er mir angetan hat …»

Sie winkte ihn zu sich heran. «Komm näher, komm ganz nah zu mir …», raunte sie leise mit samtener Stimme.

Oje. Warum denn das? Er zog es vor, selbst im Traum einen Sicherheitsabstand einzuhalten.

«Dann verrate ich dir seinen Namen», fuhr sie fort. «Ich flüstere ihn dir ins Ohr, damit du ihn finden und bestrafen kannst …»

Das würde sie tun? Okay, überredet. Denn damit würde alles beträchtlich einfacher sein. Also überwand Emilio seine Scham und näherte sich der nackten Frau. Er war voller Begierde – aber nicht auf ihren Körper, sondern auf den Namen, den sie ihm gleich verraten würde.

«Findest du mich eigentlich schön?», hauchte sie. «Schön und begehrenswert?»

«Ja, du bist schön und begehrenswert», antwortete er. Was sollte er sonst sagen? Erstens stimmte es, und zweitens wollte er sie nicht verstimmen. Hoffte er doch, aus ihrem Mund, der seinem Ohr schon ganz nah war, gleich etwas anderes zu hören, nämlich den Namen …

Stattdessen schlug ihm plötzlich ein Kissen auf den Kopf. «Sog amoll, spinnscht iatz?», fuhr ihn eine höchst irdische Stimme auf Südtirolerisch an. «Wer soll schön und begehrenswert sein?»

Verdammt, hatte er im Traum gerade laut gesprochen? Und

Wieder traf ihn das Kissen. «Trau di nitt zu sogn, du hasch grod von mir getramt! Deis glab i dir nitt.»

Aber genau das lag ihm auf der Zunge. Die Ausrede, dass er von ihr geträumt hätte, wäre aus seiner Sicht völlig plausibel. Außerdem hatte er vor wenigen Sekunden noch geschlafen. Wie sollte ihm da auf die Schnelle eine bessere Begründung einfallen? Eine, die Phina überzeugen würde? Emilio fühlte sich von dieser Situation völlig überfordert. Erst die tote Frau und jetzt Phina. Die eine lockte ihn, näher zu kommen, um ihm was ins Ohr zu säuseln. Die andere schlug mit dem Kissen nach ihm. Gott sei Dank nur mit einem Kissen …

*

Stunden später, beim gemeinsamen Frühstück, konnte sich Emilio nicht mehr erinnern, wie er die Situation entschärft hatte. Er beobachtete Phina beim Aufschäumen der Milch für den Cappuccino. Vor ihm stand ein Glas mit frisch ausgepresstem Orangensaft. Es sah ganz so aus, als ob sie ihm verziehen hätte. Dabei hatte es gar nichts zu verzeihen gegeben. Er war im Traum nur seiner Arbeit nachgegangen und hatte ein Mordopfer befragt. Oder hatte die Leiche von sich aus zu ihm gesprochen? Er wusste es nicht mehr. Nur, dass sie aus unerfindlichen Gründen nackt war und ihm den Namen ihres

Phina setzte sich zu ihm und bestrich eine Scheibe Krustenbrot mit hausgemachter Marillenmarmelade, die es auch in ihrer Vinothek zu kaufen gab.

«Du hast also wirklich nicht von deiner Tilda geträumt?», brachte sie unversehens das Thema erneut zur Sprache, von dem er gehofft hatte, es wäre erledigt.

Aber er hätte es sich denken können. Phina war vom Sternzeichen Skorpion. Und Skorpione waren nicht nur leidenschaftlich, was er definitiv bestätigen konnte, sie waren auch eifersüchtig und nachtragend. Das wusste er von seiner Tante Theresa. Die hatte ihm mal einen Text über die Charaktereigenschaften von Skorpionen vorgelesen. Allerdings fast nur positive, weil sie mit Phina befreundet gewesen war.

Emilio schüttelte den Kopf. «Ganz bestimmt nicht. Außerdem ist sie nicht meine Tilda.» Er deutete auf zwei Mappen, die vor ihm lagen. «Das hier sind der Untersuchungsbericht der Spurensicherung und das forensische Gutachten vom Professor Turmstaller. Die habe ich gestern Abend vor dem Zubettgehen gelesen, und die Ergebnisse sind mir offenbar in der Nacht durch den Kopf gegangen …»

«‹Schön und begehrenswert› hast gesagt. Klingt, ehrlich gesagt, mehr nach Tilda als nach einer vertrockneten Mumie.»

«Die Frau war aber nicht immer eine Mumie. Laut Turmstaller war sie zu Lebzeiten schön und begehrenswert.»

Hatte der Professor das tatsächlich so gesagt?, überlegte Emilio. Na ja, jedenfalls so ähnlich.

«Tut mir leid. Soll nicht wieder vorkommen», antwortete er lächelnd.

«Das will ich dir auch geraten haben. Weder von ihr solltest in meinem Bett träumen – noch von Tilda. Apropos, hast du dich mit ihr schon wieder getroffen?»

Eifersüchtig und nachtragend … Langsam begann er, an Sternzeichen zu glauben.

«Mit der Leiche oder mit Tilda?», versuchte er es mit einem Scherz.

«Mit Tilda natürlich.»

Phina war offenbar nicht zum Scherzen aufgelegt.

«Nein, warum sollte ich?»

Gegenfragen waren ein probates rhetorisches Mittel, sich unter Bedrängnis Vorteile zu verschaffen.

Doch bei Phina versagte auch dieser Trick, indem sie einfach nicht darauf einging.

Sie sah ihn ernst an. «Überleg dir genau, was du tust.»

Emilio nahm ihre Hand. «Das tu ich, meine liebe Phina. Du musst dir wegen Tilda keine Gedanken machen.»

Fast glaubte er im Moment selber daran. Doch wusste er, dass es ganz so einfach nicht war.

Ihm fiel als weiterer rhetorischer Kniff der entschlossene Themenwechsel ein. Allerdings konnte dieser nur funktionieren, wenn er mit einer hammerartigen Neuigkeit verknüpft war.

«Habe ich dir schon gesagt, dass die tote Frau aus dem Bunker schwanger war?», fragte er.

Phina sah ihn konsterniert an.

«Wirklich? Sie war schwanger?», stammelte sie.

«Ja, im fünften Monat. Mit einem Mädchen.»

«O mein Gott …»

Rhetorisch war diese Bemerkung ein Fehler, weil sie den bereits vollzogenen und geglückten Themenwechsel mit dem vorher Gesagten in Zusammenhang brachte. Aber er wollte den Casus Tilda mit einem rationalen Argument abhaken.

«Ja, ja …», antwortete Phina leise. Sie war mit ihren Gedanken tatsächlich nicht mehr bei Tilda. Ihre Liebe zu den Waisenkindern im Meraner Heim tat ein Übriges. Er konnte ihr ansehen, dass sie emotional tief getroffen war. Einen erwachsenen Menschen umzubringen, das war eine Sache, doch einem Embryo die Chance auf ein Leben zu nehmen eine ganz andere.

«Ich darf mir das gar nicht vorstellen», fuhr sie fort. «Mit der Mutter geht auch das heranreifende Kind in ihrem Leib zugrunde. Wie schrecklich. Meinst du, der Mörder hat von ihrer Schwangerschaft gewusst?»

Gute Frage – die hatte er sich auch schon gestellt.

«Wenn ich das wüsste, wäre ich einen großen Schritt weiter.»

«Oder war es vielleicht sogar der Vater?», setzte sie ihren Gedanken fort.

«Das eine schließt das andere nicht aus. Vielleicht war es der Vater, der aber keine Ahnung von ihrer Schwangerschaft hatte. Auch das wäre möglich. Alternativ könnte der Täter ihr Ehemann gewesen sein, der von einem Seitensprung seiner Frau erfahren und sie deshalb umgebracht hat. Mit oder ohne Kenntnis ihrer Schwangerschaft. Oder die Schwangerschaft hatte mit dem Mord überhaupt nichts zu tun, auch das könnte sein.»

«Trug sie einen Ehering?»

«Nein, aber das besagt nichts. Außerdem ist Mord aus Eifersucht an keinen Trauschein gebunden.»

Der Witz war gut. Fast hätte Emilio gelacht – dann fiel ihm ein, dass ihre Bemerkung womöglich gar nicht als Witz gedacht war. Zuzutrauen war es ihr. Folglich war es besser, keine Reaktion zu zeigen.

«Die Tote hatte zwar keinen Ehering, aber am Fuß ein hübsches Kettchen mit kleinen Herzen und einem Edelstein», berichtete er. «Das wollte ich dir sowieso zeigen. Für den Augenblick ist das Fußkettchen meine einzige Spur.»

«Wo soll die Spur hinführen?»

Emilio zuckte mit den Schultern. «Zu ihrem Mörder?»

Er stand auf und holte den kleinen Klarsichtbeutel mit dem Kettchen.

«Hier ist das Corpus Delicti. Kannst es gerne rausnehmen und dir genauer anschauen.»

«Das hat die Tote am Fuß gehabt? Nein, do graus i mi davor.»

Nur kurz ging Emilio durch den Kopf, wie widersprüchlich Menschen sein konnten. Vor kurzem hatte er Phina beobachtet, wie sie im Weinkeller mit bloßen Fingern eine tote Maus am Schwanz aufgehoben und entsorgt hatte. Da hätte er sich geekelt.

«Ist in der Pathologie gereinigt, sterilisiert und poliert worden», erklärte er. «Musst dich nicht grausen.»

Phina nahm die Kette zögerlich heraus und betrachtete sie.

«Hübsche Arbeit. Aber ein Name ist nicht eingraviert.»

«Schön wär’s. Aber vielleicht kann ich den Juwelier finden, der das Stück hergestellt hat?»

«Wird schwer sein. Die Kette kann ja von überall herkommen.»

«Du verstehst es, mich zu motivieren.»

«Tut mir leid, aber ist halt so.»

Sie schüttelte den Kopf. «Wie soll ich das wissen? Du weißt doch, dass ich keinen Schmuck trage. Ich kenn mich mit Rebscheren aus und mit Schubkarren, aber doch nicht mit kleinen Goldherzen, die man am Fußgelenk trägt.»

Stimmt, sie war die falsche Ansprechpartnerin, wenn es um filigranes Geschmeide ging. Dagegen wüsste vielleicht Tilda … Aber an Tilda wollte er gerade nicht denken.

«Könntest mir allerdings mal einen Schmuck schenken», regte Phina an. «Aber bitte nicht so ein Futzlzuig für die Füße.»

Er lächelte. «Hinweis verstanden. Aber was ist mit dem Schmuck, den du von Tante Theresa geerbt hast?»

«Der ist nun wirklich futzlig …»

«Ich bitte dich – der ist bestimmt sehr wertvoll», unterbrach er sie.

«Mag ja sein, aber den trage ich frühestens, wenn ich mal im reifen Alter zum Kaffeekränzchen bei Hofe eingeladen werde. Wobei Theresas Schmuck wahrscheinlich selbst der Kaiserin Elisabeth zu spießig gewesen wäre.»

Phina gab ihm das Kettchen zurück.

«Viel Glück damit. Ich würde mir wirklich wünschen, dass du das Schwein erwischst.»

«Ganz sicher», sagte er leise. Wobei er nicht hätte sagen können, worauf sich seine Zuversicht gründete. Höchstens auf seine Lebenserfahrung. Denn bisher hatte er noch jeden erwischt. Nur schade, dass der Täter das nicht wusste, sonst würde er vielleicht nervös werden und sich zu unüberlegten Handlungen hinreißen lassen. Oder, noch besser, er ergab sich gleich freiwillig.