Emilio Baron von Ritzfeld-Hechenstein war kein Freund von Feierlichkeiten und Empfängen. Genau genommen scheute er sie wie der Teufel das Weihwasser. Ihm widerstrebte es, wildfremden Menschen die Hand zu schütteln und dabei ein freundliches Gesicht aufzusetzen. Er hasste es, dumm herumzustehen und inhaltsleere Gespräche zu führen. Er verabscheute lauwarmen Prosecco. Das herumgereichte Fingerfood löste bei ihm nur verständnisloses Kopfschütteln aus. Warum sollte er wie in der Steinzeit mit den Fingern essen? Wenn dann noch Reden gehalten wurden, denen man mit geheucheltem Interesse folgen sollte – spätestens in solchen Momenten setzte sein Fluchtreflex ein.
Dass Emilio trotz dieser ausgeprägten Abneigung am heutigen Tag genau einer solchen Veranstaltung in Meran beiwohnte, war einzig auf die Überzeugungskraft von Phina Perchtinger zurückzuführen. Und darauf, dass er seiner Freundin nur schwer etwas abschlagen konnte. Im Ortsteil Obermais wurde ein Waisenhaus eingeweiht, in dem vor allem Flüchtlingskinder untergebracht waren. Ihre alte Unterkunft war abgebrannt, doch jetzt hatten sie ein neues Zuhause bekommen. Dank eines anonymen Spenders. Wie schön – aber musste man sich deshalb ein schlecht gespieltes Adagio von Händel anhören? Auf der Blockflöte? Emilio langweilte sich zu Tode, aber noch hielt er den Fluchtreflex unter Kontrolle. Ob Phina seine Selbstdisziplin zu schätzen wusste?
Er sah sie von der Seite an und stellte fest, dass sie glücklich lächelte. Wenigstens etwas. Für Phina, die im Überetsch zwischen Bozen und Kaltern ein Weingut besaß, auf dem er mit ihr wohnte, war das Waisenhaus eine Herzensangelegenheit. Er konnte sich noch gut an die Panik in ihren Augen erinnern, als sie von dem schlimmen Brand gehört hatte. Und an ihre Erleichterung, als sich herausstellte, dass von den Kindern keines ernsthaft verletzt worden war.
Nun hielt sich Emilio nicht gerade für einen Kinderfreund. Aber natürlich hatte auch er sich gefreut, dass den Kindern kein Leid geschehen war. Sie konnten ja nichts dafür, dass sie auf der Welt waren. Grundsätzlich konnte er den Fortpflanzungstrieb der Menschen nicht verstehen. Abgesehen von dem Akt als solchem … Aber musste man dafür gleich Kinder in die Welt setzen? Emilio hielt es für einen Segen, dass mit ihm der uralte Adel derer von Ritzfeld-Hechenstein ausstarb. So ersparte er einem Kind, mit seinen degenerierten Genen leben zu müssen.
Während Emilio noch darüber nachdachte, was für eine Zukunft eine Welt haben würde, auf der es keine Kinder gab – was vielleicht doch keine so schöne Perspektive war, jedenfalls für die Menschheit –, hörte die Musik plötzlich auf. Vorne stand ein Rednerpult. Der Bürgermeister von Meran machte sich auf den Weg dorthin. Ganz zweifellos mit der Absicht, eine Rede zu halten. Emilio spürte, wie sich sein Atem beschleunigte. Der Fluchtreflex ließ sich nicht länger unterdrücken.
«Phina, bitte entschuldige, ich muss mal kurz raus.»
Sie sah ihn fassungslos an. «Du kannst doch nicht einfach gehen, ausgerechnet jetzt …»
«Tut mir leid, mir geht’s gerade nicht so gut.»
Er hauchte Phina einen Kuss auf die Wange und trat die Flucht an. Sie versuchte noch, ihn festzuhalten. Vergeblich. Wenn Emilio einen Entschluss gefasst hatte, war er nur schwer zu stoppen.
Draußen angekommen, holte er einige Male tief Luft. Schon ging es ihm besser. Tatsächlich hatte er sich ja nicht wirklich schlecht gefühlt. Er hatte es einfach nicht länger ausgehalten. Emilio lief zu seinem Landrover. Weil er es eilig hatte, klemmte er sich seinen antiken Gehstock, den er immer bei sich führte, unter den Arm. Er kam gut auch ohne ihn zurecht. Genau genommen brauchte er ihn nicht. Aber er hatte sich nach einer schon lang zurückliegenden Schussverletzung am Bein an den Stock gewöhnt. So wie andere Leute an ihr Handy, das sie sich fortwährend ans Ohr oder vors Gesicht hielten. Das war eine schreckliche Zivilisationskrankheit. Sein Gehstock dagegen war ein Familienerbstück, und zwar ein ganz besonderes. Er war innen hohl, und wenn Emilio ihn entriegelte, dann konnte er den darin verborgenen Degen herausziehen. Sein Großvater hatte mit ihm mal die Unschuld einer feinen Dame verteidigt. Wie ritterlich. Aber nicht ganz selbstlos. Schließlich hatte er sie später geehelicht und mit ihr fünf Kinder gezeugt.
Minuten später parkte Emilio vor einer nahe gelegenen Weinschenke. Der Einfachheit halber auf dem Bürgersteig. Emilio liebte kleine Gesetzesübertretungen. Er neigte zum zivilen Ungehorsam. Anders verhielt es sich bei gröberen Verstößen gegen Recht und Ordnung. Wenn sie von kriminell veranlagten Menschen begangen wurden, ließ er sich sogar dazu hinreißen, sie unnachsichtig zu verfolgen – vorausgesetzt, es gab einen Auftraggeber, der ihn dafür bezahlte. Das war eine Frage des Prinzips. Und der Ehre. Das Geld brauchte er nicht. Nicht mehr. Seiner Tante Theresa sei Dank. Er sollte ihr mal wieder Blumen ans Grab stellen.
Er bestellte einen Grappa. Die Wirtin sah ihn verwundert an. Er bestellte sonst nie Tresterschnaps. Aber sie konnte ja nicht wissen, was er gerade durchgemacht hatte. Als er gleich im Anschluss einen seiner Lieblingsweine aus der hervorragenden Lage Mazzon orderte, schien sie beruhigt. Das war der Emilio, den sie kannte – und liebte. Behauptete sie wenigstens. Gott sei Dank platonisch, denn sie hatte die Figur einer trächtigen Haflinger-Stute.
Emilio ließ den Blauburgunder im Glas kreisen. Er erfreute sich an der kirschroten Farbe, er inhalierte den Duft und goutierte zarte Himbeeraromen, er ließ den ersten Schluck eine Weile auf der Zunge und am Gaumen verweilen … und zu guter Letzt durch die Kehle rinnen. Emilio verstand es, aus einem Glas Wein den maximalen Genuss herauszuholen. Das war eine Kunst, die er beherrschte wie kaum ein anderer. Sie war ihm quasi in die Wiege gelegt worden. Er war auf dem väterlichen Weingut im Rheingau aufgewachsen. In zwölfter Generation. Dann hatte sich sein Vater erhängt – und das renommierte Weingut gehörte mittlerweile einer Bank. Doch das war eine andere Geschichte. Kein Mensch interessierte sich mehr dafür, nicht einmal er selbst. Tempi passati …
Die Wirtin servierte ihm unaufgefordert ein Gericht von der Mittagskarte. Ein Risotto mit Radicchio. Sie wusste, was ihm guttat.
Als er mit dem Teller fertig war, bekam er unerwarteten Damenbesuch. Phina! War denn der Empfang schon vorbei? Oder hatte auch sie das Weite gesucht?
«Habe ich mir doch gedacht, dass du hier bist», begrüßte sie ihn. «Hättest wenigstens noch die Rede des Bürgermeisters abwarten können.»
«Eben nicht», grummelte er.
«Er hat sich bei allen bedankt …»
«Ich hab’s befürchtet.»
«Ganz besonders bei dem Finanzier des Waisenhauses, der anonym bleiben möchte.»
Emilio verdrehte die Augen. «Anonym? Ein anonymer Idiot. Wie kann man so sentimental sein und sein Geld für diese unerzogenen Kinder zum Fenster hinauswerfen?»
Er bemerkte, dass Phina ihn seltsam ansah. Weil er sich über den Spender lustig machte? Das Recht nahm er für sich in Anspruch.
«Stimmt, du bist ein Idiot», stellte sie fest. «Ein anonymer, ein sentimentaler Idiot, um genau zu sein. Außerdem schizophren, sonst könntest du nicht so einen Unsinn daherreden.»
Schizophren? Jetzt schoss sie aber deutlich über das Ziel hinaus. Nur weil er gelegentlich Dinge tat, die im Widerspruch zu seinen Äußerungen standen, war er doch nicht psychisch krank. Höchstens ein wenig sonderbar; das mochte sein.
Phina beugte sich zu ihm. «Kimm, loss dr a Bussl gebn», sagte sie auf gut Südtirolerisch.
«Wer von uns beiden ist jetzt sentimental?»
«Ich bin es ganz sicher», antwortete sie. «Außerdem muss dir ja jemand im Namen der Kinder für alles danken.»
«Besser du als der Bürgermeister. Er riecht nach Knoblauch, ist dir das aufgefallen?»
«Gibst du mir nur deshalb den Vorzug?»
Emilio runzelte die Stirn. «Muss ich noch darüber nachdenken. Wo bleibt das Bussl?»