Den Vormittag verbrachte Emilio in Phinas Vinothek. Er konnte nicht behaupten, dass er der Arbeit mit Freude oder gar mit Begeisterung nachging. Er tat dies einzig Phina zuliebe. Denn es nervte ihn, mit wildfremden Menschen Konversation zu machen, erst recht, mit ihnen über Wein zu reden. Vor allem dann, wenn sie vom Thema wenig bis gar keine Ahnung hatten. Leider traf das in der Mehrzahl der Fälle zu. Wobei es ein interessantes psychologisches Phänomen gab, dem er den Namen «reziproke Geschwätzigkeit» gegeben hatte. Denn nach seiner Beobachtung redeten jene Kunden in der Vinothek am klügsten daher, die am wenigsten von Wein verstanden.

Gerade hatte er einen Karton Grauburgunder an einen Mann verkauft, der seiner jungen Freundin zuvor wortreich erklärt hatte, dass die Traube identisch mit der für den französischen Chablis sei, nur wäre der Wein in Südtirol viel billiger. Ein in jeglicher Hinsicht haarsträubender Unsinn. Hätte er ihn korrigieren sollen? Damit hätte er den Mann vor seiner Freundin bloßgestellt und ihm den Tag versaut. Wogegen ja grundsätzlich nichts sprach, aber er war heute gnädig gestimmt. Auch hatte er der Versuchung widerstanden, ihm zusätzlich eine Flasche Chardonnay zu verkaufen und zu behaupten, die Traube wäre verwandt mit dem Gewürztraminer – nur nicht so aromatisch. Wahrscheinlich hätte er diesen Schwachsinn sogar geglaubt. Immerhin waren ja beides Weißweine.

Emilio schaute auf die Uhr. Noch eine halbe Stunde, dann

Eine attraktive Frau kam herein, im besten Alter und ohne männliche Begleitung. Na bitte, es geschahen noch Zeichen und Wunder. Durch die Scheibe sah er ihr geparktes Auto. Ein alter, grüner Porsche 911. Ein Klassiker. Emilio fasste den Entschluss, sich in der verbliebenen Zeit ausschließlich um sie zu kümmern. Ob sie was von Wein verstand? Und wenn nicht, machte es auch nichts. In ihrem Fall würde er nachsichtig sein. Zudem war er durchaus der Ansicht, dass man von Wein nicht viel Ahnung haben musste; es genügte völlig, wenn man wusste, welcher Wein einem schmeckte. Es musste nicht einmal ein besonders teurer sein. Ihn störte es nur, wenn siebengescheit dahergeredet wurde.

Aus dem Augenwinkel beobachtete er, wie sie an den Weinregalen entlangging – und genau bei den richtigen Flaschen stehen blieb.

Ihn beschlich das Gefühl, dass sie seine Theorie der reziproken Geschwätzigkeit widerlegen könnte.

Schließlich kam sie zu ihm an die Theke. Sie hatte keinen Lippenstift aufgelegt und verbreitete keine Parfümwolke. Das waren schon mal gute Voraussetzungen. Wenigstens würde sie riechen, was im Glas war.

«Wie kann ich Ihnen helfen?»

«Frau Perchtinger ist nicht da?», fragte sie in gutem Deutsch, aber mit italienischem Akzent.

«Leider nein, sie hat einen Termin in Trient. Sie müssen mit mir vorliebnehmen», erwiderte er in fließendem Italienisch. Emilio hatte eine italienische Mutter und war zweisprachig aufgewachsen. Er liebte es, Italienisch zu sprechen. Vor allem

Erstaunlicherweise fiel ihm bei ihr das Lächeln ganz leicht. Ob er einen blauen Burgunder vorschlagen sollte, passend zu ihrer Augenfarbe? Doch er wusste sich zu beherrschen.

«I miei complimenti, Ihr Italienisch ist ausgezeichnet», antwortete sie. «Ich würde tatsächlich gerne einen Wein probieren, aber ich weiß nicht, ob Sie mir meinen Wunsch erfüllen können.»

Ihm gefiel ihre Stimme. Gleichzeitig ging ihm durch den Kopf, dass er gerade schon genug Probleme mit Frauen hatte. Mit Phina, mit Tilda – und mit der Toten aus dem Bunker. Ob sie so ähnlich ausgesehen hatte? Die blonden Haare stimmten schon mal, auch die Körpergröße. Nur war die Tote wohl um einiges jünger gewesen.

«Ich würde nämlich gerne von einem bestimmten Wein vier verschiedene Jahrgänge probieren», fuhr sie fort. «Meinen Sie, das geht?»

«Könnte schwierig werden. Hängt natürlich von Ihrem präferierten Wein ab.»

Gerade wollte sie antworten, da hob er eine Hand.

«Sagen Sie nichts! Machen wir eine Wette: Ich gieße Ihnen verdeckt ein Glas ein, und Sie sagen mir, welcher Wein das ist und ob ich den richtigen getroffen habe. Falls ja, würde ich mich um die anderen Jahrgänge bemühen.»

Emilio konnte nicht sagen, warum er diesen Vorschlag machte. Aber er fand ihn spannend.

«Ich liebe es zu wetten», erwiderte sie mit einem vieldeutigen Lächeln, «vor allem, wenn der Einsatz stimmt.»

Er glaubte ihr aufs Wort.

«Das freut mich. Darf ich Sie um einen Moment Geduld bitten? Ich bin gleich wieder da.»

Er öffnete die Flasche, roch am Korken, probierte … tadellos. Er goss den Wein in ein Degustationsglas – und ging mit diesem zurück in die Vinothek. Jetzt war er neugierig.

Sie nahm das Glas entgegen. Sie schwenkte den Wein im Glas, routiniert aus dem Handgelenk – so hatte er es erwartet –, und roch an ihm.

«Was ist eigentlich Ihr Einsatz?», fragte sie lächelnd.

«Dass ich mich um die anderen Jahrgänge bemühe, das ist mein Einsatz. Sie dagegen haben nichts zu verlieren. Eigentlich eine blöde Wette.»

«Da haben Sie recht. Sie haben unser Spiel wirklich nicht durchdacht.»

Er konnte ihr nicht widersprechen. Hätte er als Einsatz ein gemeinsames Candle-Light-Dinner vorschlagen sollen? Nein, er hatte schon so genug Probleme am Hals.

Er beobachtete sie beim Probieren. Sie tat das sehr gewissenhaft und doch ohne die übertriebene Attitüde des ausgiebigen Schlürfens und Schmatzens, die er ziemlich albern fand.

«Und? Ist das der Wein, für den Sie sich interessieren? Können Sie mir vielleicht die Rebsorte sagen?»

Sie schaute ihn belustigt an.

«Baron, Sie beleidigen mich. Natürlich erkenne ich die Rebsorte.»

Baron? Die Frau wusste, wer er war?

«Nur haben Sie einen älteren Jahrgang geöffnet. Wenn ich mich nicht sehr täusche, einen vorzüglichen 2000er. Sehr generös. Das war einer meiner vier Wunschjahrgänge.»

Er hatte es geahnt. Die Frau stellte seine Theorie der reziproken Geschwätzigkeit auf den Kopf. Sie sagte wenig – und wusste alles. Sogar den Jahrgang.

«Ganz genau. Respekt!»

Sie lächelte.

«War nicht so schwierig, mein lieber Baron. Nach allem, was ich von Ihnen gehört habe, hätten Sie das auch gekonnt.»

Sie hatte von ihm gehört? Hoffentlich nur Gutes. Was aber unwahrscheinlich war.

«Gut möglich», sagte er mit der gebotenen Bescheidenheit. «Aber dennoch: Respekt!»

«Außerdem gebe ich das Kompliment zurück. Sie haben meine Gedanken gelesen und exakt den richtigen Wein geöffnet. Das war fast schon übersinnlich. Insofern haben wir beide die Wette gewonnen.»

«Ja, so könnte man das sehen. Nachdem Sie offenbar wissen, wer ich bin, darf ich auch Sie um Ihren werten Namen bitten?»

«Sabrina – sagen Sie einfach Sabrina zu mir», antwortete sie lächelnd.

Nun, ihr Vorname war nicht wirklich zielführend. Aber er respektierte ihre Zurückhaltung.

«Sabrina, fast kann ich mir denken, für welche anderen Jahrgänge dieses Weins Sie sich interessieren …»

«Ich denke mir, dass Sie sich das denken können.»

Wieder dieses bezaubernde Lächeln.

«Aber dafür müsste ich in unsere Schatzkammer. Wir

«Ich verstehe sehr wohl. Wenn mir die Jahrgänge zusagen, nehme ich alle Flaschen, die zu haben sind. Zum Preis, den Sie mir nennen. Das wäre der Deal, einverstanden?»

Wow, dachte Emilio, das war für ihn heute der mit Abstand interessanteste Tag, den er je in Phinas Vinothek verbracht hatte. Apropos Phina: Sie war in Trient. Also konnte er sie nicht fragen, geschweige denn ihr diese ominöse Sabrina vorstellen. Aber er hatte Prokura, gewissermaßen – jedenfalls ging er davon aus. Sie deshalb anzurufen fände er uncool.

«Sabrina, auch Sie können meine Gedanken lesen. Ja, ich bin einverstanden. Wollen wir, nur zur Sicherheit, die Jahrgänge präzisieren?»

«Nicht nötig. Wenn Sie nichts dagegen haben, begleite ich Sie in die Schatzkammer.»

Ihm schoss durch den Kopf, dass sie auch eine potenzielle Diebin sein könnte, die die örtlichen Gegebenheiten ausspionieren wollte. Es konnte sich ebenfalls um eine zahlungsunfähige Verrückte handeln, die zufällig viel von Wein verstand. Aber er hörte auf seine innere Stimme. Und die sagte ihm, dass diese Sabrina alles sein könnte, nur keine Betrügerin. Wer wie sie nicht nur einen Wein, sondern sogar den Jahrgang identifizieren konnte, war eine Auserwählte, von Bacchus geküsst – und zu keiner Straftat fähig.

Als sie die Vinothek verließen, um über den Hof ins Haupthaus zu gehen, in dessen Keller sich die «Schatzkammer» befand, fuhr ein Kleinbus mit Besuchern vor.

«Tut mir leid. Wegen Krankheitsfall geschlossen!», rief er dem Fahrer zu. Sie beschleunigten ihre Schritte.

Sabrina hakte sich bei ihm ein.

*

Zwanzig Minuten später hatten sie den Termin im Keller absolviert. Mit Anstand. War ja klar. Sie standen nun auf dem Hof vor ihrem grünen Porsche.

«Wir sind also handelseinig», sagte sie und streckte die Hand aus. «Ich schicke Ihnen morgen per Mail meine Bestellung. Wäre nett, wenn Sie mir diese umgehend bestätigen könnten.»

Er schlug ein und besiegelte das Geschäft. Auf die gute alte Art.

«So, ich muss weiter», sagte sie. «War nett, Sie kennengelernt zu haben.»

«Ganz meinerseits. Für mich war es sogar ein außerordentliches Vergnügen.»

«Das haben Sie nett gesagt. Wir sehen uns bestimmt mal wieder. Und grüßen Sie Frau Perchtinger von mir.»

Sie steckte ihm ihre Visitenkarte in die Brusttasche seines Sakkos. Dann stieg sie in ihren Porsche, winkte ihm zu – und fuhr davon.

Sekunden später kam Phina mit ihrem Auto durchs Tor. Sie bremste direkt vor Emilio, stieg hektisch aus und deutete dem Porsche hinterher.

«Sag mal, war das die Reganza?»

Er zuckte mit den Schultern. «Welche Reganza? Ich weiß nur, dass sie Sabrina heißt.»

Er fischte die Visitenkarte aus der Brusttasche und schaute kurz drauf.

«Stimmt, Sabrina Reganza.» Er runzelte die Stirn. «Reganza, Reganza … Irgendwie kommt mir der Name bekannt vor.»

Aber er konnte ihn nicht zuordnen.

«Das ist die Chef-Sommelière gleich mehrerer Sternerestaurants in Italien, Frankreich und Deutschland. Sie kauft für die Restaurants die besten Weine ein und bildet die Sommeliers aus. So ein Mist, dass ich nicht da war. Vielleicht hätte ich ihr einige Flaschen von mir verkaufen können. Ein Traum, sie auf einer Weinkarte in einem ihrer Restaurants zu finden …»

Phina sah richtig unglücklich aus. Emilio nahm sie in den Arm.

«Alles gut. Dein Traum geht in Erfüllung.»

Dann erzählte er ihr von Sabrinas Bestellung.