Bozen wird oft mit den Flüssen Etsch und Eisack assoziiert, dabei wird der Ort in Wahrheit durch die Talfer geprägt. Der Fluss entspringt auf über zweitausend Meter Höhe am Penser Weißhorn, fließt durch das Sarntal und schließlich mitten durch Bozen. Was auch insofern bedeutend ist, dass auf der östlichen Seite traditionell die vorwiegend deutschsprachige Bevölkerung lebt. Während jenseits des anderen Talferufers als Folge der Zuwanderungspolitik unter Mussolini primär Italienisch gesprochen wird. Tatsächlich stellt heute die italienische Sprachgruppe in Bozen die überwältigende Mehrheit dar.
Emilio fühlte sich auf beiden Seiten der Talfer gleichermaßen wohl. Er genoss es geradezu, nach Lust und Laune zwischen den Sprachen und Kulturen zu pendeln. Schon gab es in den Restaurants statt Topfenknödel und Speckwurzen köstliche Tagliolini con gamberi und Branzino al forno. Man wünschte sich una bella giornata, und zum Abschied bekam die Bedienung un bacino auf die Wange. Wenig später konnte man dann wieder unter den Lauben zur Verdauung einen Nusseler trinken oder einen Edelbrand.
Als bekennender Flaneur war Emilio auch sonst ein großer Fan der Talfer, denn entlang des Flusses gab es auf beiden Seiten Promenaden, Grünflächen – und Bänke, auf denen man sich niederlassen konnte. Wie heute, wo er mit Mariella verabredet war. Von der Quästur an der Via Marconi musste Sandrinis Sekretärin in der Mittagspause nur die Drusus-Brücke überqueren, um über die Passeggiata Lungo Talvera degli Alpini zur Wassermauer Promenade zu gelangen, wo er auf sie wartete. Etwas Bewegung tat ihr nach seiner Einschätzung gut, weshalb er ihr nicht entgegenging.
Obwohl es nicht weit war, hatte Mariella bei ihrer Ankunft einen roten Kopf. Kurzatmig war sie also auch noch. Sie sollte wirklich etwas gegen ihr Übergewicht unternehmen. Aber das würde er ihr nie sagen. Jeder war für sich selbst verantwortlich.
«Mein lieber Baron», begrüßte sie ihn. «Es ist schon lange her, dass ich mich mit einem Mann auf einer Bank an der Talfer verabredet habe. Wie romantisch.»
Er glaubte ihr aufs Wort. Jedenfalls, was die Zeitspanne betraf. Das mit der Romantik sah er natürlich anders.
«Wie schön, dass Sie Zeit haben», sagte er ausweichend.
Mariella klimperte mit den Augen. «Für Sie doch immer, mein lieber Emilio.»
Oje, jetzt musste er aufpassen. Am besten käme er gleich auf den wahren Grund ihres Treffens zu sprechen. Aber er sollte die Kurve nicht allzu abrupt nehmen, sonst würde er ihre Gefühle verletzen.
«Was macht die Kirchenmusik?», fragte er stattdessen. «Singen Sie noch im Chor?»
Sie klatschte freudig in die Hände. «Dass Sie sich das gemerkt haben? Natürlich singe ich noch. Nächste Woche in der Herz-Jesu-Kirche. Vielleicht können Sie es einrichten, auch dorthin zu kommen? Ich würde mich über Ihren Besuch sehr freuen.»
Sie holte aus ihrer Handtasche ein Döschen.
«Ich habe Ihnen meine selbstgebackenen Maronenplätzchen mitgebracht, die Sie so lieben.»
Emilio fühlte sich an seine Kindheit erinnert. Da hatte er mal zum Geburtstag von seiner Mutter eine Prinzregententorte bekommen und aus Höflichkeit gesagt, dass sie ihm gut schmecken würde. Fortan hatte er bis ins Erwachsenenalter zum Geburtstag immer eine Prinzregententorte erhalten. Dabei mochte er viel lieber Käsekuchen. Und später sogar Kaviar. Aber nein … immer wieder aufs Neue Prinzregententorte. Da sah man mal wieder, was falsche Höflichkeit anrichten konnte.
Auch bei Mariella kam er aus der Nummer nicht mehr raus. Gott sei Dank wusste sie nicht, wann er Geburtstag hatte.
Emilio nahm eines von den angebotenen Plätzchen. Immerhin waren sie wirklich köstlich.
«Morgen fahre ich erneut nach Mals im Vinschgau, um mich mit dem Apfelbauern Gustl Mayr zu treffen», sagte er, um diskret einen Themenwechsel herbeizuführen.
«Apropos Äpfel, kennen Sie eigentlich meine leckeren Apfelkekse? Die müssen Sie unbedingt mal probieren …»
Emilio beschloss, sich nicht ablenken zu lassen.
«Haben Sie zufällig was über ihn in Erfahrung gebracht?»
«Über den Mayr Gustl aus Mals? Natürlich habe ich das – beziehungsweise habe ich nicht, wenn Sie verstehen.»
Jetzt wurde sie auch noch kompliziert.
«Nicht ganz, meine liebe Mariella. Wollen Sie damit andeuten …?»
«Ganz genau, Sie verstehen mich auch ohne Worte. Der Mayr aus Mals hat sich im Leben noch nicht viel zuschulden kommen lassen. Also gab es nichts, was ich in Erfahrung bringen könnte. Sieht man mal von einer Wirtshausschlägerei ab, in die er letztes Jahr verwickelt war, und von einem Strafverfahren wegen Steuerhinterziehung. Aber das sind ja Kavaliersdelikte. Sonst hat er eine reine Weste. Wie Sie wahrscheinlich wissen, ist der arme Mann verwitwet. Da tut er mir wirklich leid …»
Mariella konnte sehr empathisch sein. Verstümmelte Leichen machten ihr wenig aus, aber gebrochene Herzen gingen ihr an die Seele.
«Was ist mit seinem Sohn Ludwig?»
«Ein fescher junger Mann. Wir haben sein Foto in unserer Kartei. Gut schaut er aus, das schon, aber er fährt zu schnell Auto. Und er trinkt zu viel. Er hat schon mal seinen Führerschein abgeben müssen. Auch hatte er vor Jahren mal eine Anzeige wegen versuchter Vergewaltigung am Hals …»
Hoppla, das war interessant.
«… aber das Verfahren wurde eingestellt. Das Mädel hat ihre Anzeige zurückgezogen.»
Emilio warf Mariella einen skeptischen Blick zu. «Weil der Vater bezahlt hat?»
Sie zuckte mit den Schultern. «Keine Ahnung. Aber Sie haben recht; oft läuft es so.»
«Ich mag den Ludwig nicht», gab Emilio zu. «Und jetzt mag ich ihn noch weniger.»
«Können Sie sich vorstellen, dass der Ludwig Mayr die Frau im Bunker umgebracht hat?»
«Ich kann mir grundsätzlich alles vorstellen. Aber deshalb muss es nicht so gewesen sein. Wäre fast zu einfach.»
«Richtig, da wäre auch der Commissario drauf gekommen …»
Emilio grinste. «Schon deshalb kann es eigentlich nicht stimmen.»
«Oder vielleicht doch? Sie werden es herausfinden.»
Mariella reichte ihm zum Abschied einen Umschlag.
«Hat mich einige Überredungskünste gekostet. Aber dem Commissario steht momentan das Wasser bis zum Hals, da unterschreibt er fast alles.»