Tilda Kneissl bummelte durch Bozen. Das tat sie gerne. Auch wenn sie einige Modegeschäfte vermisste, die sie früher geliebt hatte. Dafür machten an anderer Stelle neue auf. In Bozen war gerade viel in Bewegung – nicht zuletzt durch Filialen internationaler Ketten und das Projekt «WaltherPark» im Bahnhofsareal. Von allen modebewussten Frauen Südtirols traf der Umbruch Tilda wohl am wenigsten. Denn durch ihre Arbeit als Fotografin kam sie regelmäßig nach Mailand, Paris, London und sogar New York. Dort holte sie sich ihre Inspirationen. Bei ihrem heutigen Bummel durch Bozen hatte sie sowieso ein anderes Ziel im Auge. Sie hatte ihr iPad dabei, auf dem die Zeichnung des roten Kleides gespeichert war. Es war markant, nicht zuletzt aufgrund der rautenförmigen Pailletten. Dennoch machte sie sich keine falschen Hoffnungen. Tilda lächelte vor sich hin. Nun ja, ein klein wenig wohl schon, sonst könnte sie sich ja die Mühe sparen.
Sie konzentrierte sich auf jene Boutiquen, die es schon länger gab, denn der Kauf des Kleides musste ja viele Jahre zurückliegen. Deshalb machte es auch keinen Sinn, mit Verkäuferinnen zu reden, die erst seit kurzem im Job waren. Sie zeigte ihre Illustration gezielt älteren, erfahrenen Fachkräften. Diese wunderten sich zwar, warum sie ausgerechnet die Herkunft dieses Kleides wissen wollte. So toll war es nun auch nicht. Dennoch fühlten sich die meisten herausgefordert und holten sogar alte Kataloge hervor, um dort in den Kollektionen nachzusehen.
Zu dumm, dass im Kleid kein Modelabel gefunden wurde. Wofür es mehrere Erklärungen geben konnte. Möglicherweise war es im Laufe der Jahre verrottet. Oder das Kleid war ohne Etikett in den Verkauf gekommen, was freilich unwahrscheinlich war. Oder die junge Frau hatte das Etikett herausgetrennt, was nach Tildas Erfahrung wiederum zwei Ursachen haben konnte. Sie selbst trennte alle Etiketten heraus, die auf der nackten Haut kratzten. Den zweiten Grund kannte sie nicht aus eigener Erfahrung, weil sie nur exklusive Mode trug. Aber viele Frauen entfernten die Etiketten, wenn sie von Billiglabels stammten. Das allerdings wäre die ungünstigste Variante, denn in diesem Fall würde die Spur des Kleides nie zur Identität der Käuferin führen. Ach so, es gab sogar eine noch ungünstigere Möglichkeit: Das Kleid könnte die Tote selbst geschneidert haben. Tilda verwarf den Gedanken, denn sie war ein Mensch, der sich weigerte, immer von den schlechtesten Annahmen auszugehen. Sie glaubte an die Kraft des positiven Denkens. Also kamen als Erklärung für das fehlende Modelabel nur die Verrottung in Betracht oder das Heraustrennen, weil es kratzte. Punkt! Und weil das so war, würde sie ihre Recherchen fortsetzen. Nicht nur in Bozen. Auch in Meran gab es Geschäfte, die in Frage kamen.
Tilda fiel plötzlich noch eine weitere Möglichkeit ein. Online-Shopping! Wie lange war die Frau schon tot? Wie sehr war das Einkaufen im Internet zu ihren Lebzeiten schon verbreitet gewesen? Tilda stellte fest, dass man sich selbst mit der Methode des positiven Denkens im Nichts verlieren konnte.