Zeitgleich mit Tilda Kneissl streifte auch Emilio durch die Bozner Altstadt. Eigentlich hätten sie sich über den Weg laufen müssen, aber im Unterschied zu ihr ging er an allen Modeboutiquen achtlos vorbei. Ihn interessierten ausschließlich die Juweliergeschäfte, von denen es in Bozen mehr gab, als er gedacht hätte. Er hatte zuvor im Internet recherchiert und die Namen und Adressen aufgeschrieben. Sein Weg führte kreuz und quer von der Gerber- und Bindergasse über die Lauben und den Rathausplatz bis zur Postgasse. Überall zeigte er das Fußkettchen der Toten. Natürlich ohne zu sagen, was es mit dem Schmuckstück auf sich hatte. Er deutete an, dass die Kette bei einem Hehler sichergestellt wurde und er gerne die rechtmäßige Besitzerin ausfindig machen würde. Sehr glaubwürdig war diese Erklärung nicht, denn das Kettchen war zwar hübsch, aber trotz des kleinen Edelsteins nicht wertvoll genug, um seine Bemühungen zu rechtfertigen. Auskunft bekam er dennoch, schon weil er vorgab, sich für Schmuckstücke in der Auslage zu interessieren. Einem potenziellen Kunden erfüllte man auch die sonderbarsten Wünsche. Mit der Lupe untersuchten die Juweliere das Kettchen und fanden – nichts. Außer dass laut Prägung der Goldgehalt bei fünfundsiebzig Prozent lag, dass der violett schimmernde Edelstein ein billiger Amethyst war, aber auch, dass es sich eindeutig um keine Massenware handelte, sondern um eine individuelle Anfertigung. Doch von wem sie stammen

Emilios Hoffnungen schwanden, aber er gab nicht auf. Beharrlichkeit und Geduld waren für einen privaten Ermittler unverzichtbare Charaktermerkmale und mindestens so wichtig wie Scharfsinn und Furchtlosigkeit – wahrscheinlich noch wichtiger. Frustriert war er trotzdem. Allerdings gab es Juweliere und Schmuckgeschäfte nicht nur in Bozen. Also würde er seinen Aktionsradius systematisch erweitern. Wie ein Stein, den man ins Wasser warf, woraufhin sich immer größere Kreise auf der Oberfläche bildeten.

Aus der Museumstraße kommend, schlenderte er gedankenverloren mitten auf den Obstmarkt. Das war ein Fehler, denn offenbar waren gerade mehrere Reisegruppen gleichzeitig unterwegs, die sich gegenseitig im Weg standen. Es bedurfte einer geschmeidigen Guerillataktik, diesem Menschenknäuel zu entkommen. Und viel Selbstbeherrschung, dabei nicht den Gehstock als Waffe einzusetzen. Emilio flüchtete in die Dr. Streitergasse. Und dort, einer spontanen Eingebung folgend, betrat er die «Lisa Wineboutique». Erleichtert, dem Rummel entkommen zu sein, setzte er sich auf einen Barhocker. Ohne lange zu fragen, goss ihm Lisa nach der Begrüßung einen Comitissa ein, einen Metodo Classico von Lorenz Martini. Sie wusste, was ihm guttat. Mit der aufsteigenden Perlage verflüchtigte sich sein Frust.

Plötzlich fuhr ihm jemand von hinten durch die Haare. Er hasste das. Bevor er reagieren konnte, bekam er einen Kuss auf die Wange gehaucht. Den Duft kannte er, auch die Lippen. Nun gab es in unmittelbarer Umgebung des Obstmarktes viele Vinotheken, wo man sich hätte verfehlen können. Doch Tilda hatte wie er ausgerechnet diese ausgewählt. Der Zufall war ein Eichhörnchen.

«Hallo, mein Schatz, wie geht’s?», begrüßte sie ihn.

Mein Schatz? Er sah sich um. Hatte das jemand gehört? Er entdeckte keine von Phinas spionierenden Freundinnen in der Weinbar. Und Lisa war diskret. Trotzdem hätte es einen verschwiegeneren Platz geben können, um sich zu treffen. Und sie hätte sich weniger auffallend kleiden können.

«Mir geht’s gut», antwortete er. «Und jetzt noch besser», rutschte ihm heraus.

Sie lächelte. «Weil du mich getroffen hast, ich verstehe.»

«Ich dachte eher an den Spumante im Glas …», widersprach er.

«Ich liebe deinen Charme. Hast du was Neues von unserer Mumie gehört?»

Er zuckte mit den Schultern. «Keine Ahnung, sie spricht nicht zu mir.»

«Wie wär’s zur Abwechslung mal mit einer vernünftigen Antwort?»

Okay, sie hatte recht.

«Professor Turmstaller hat sich darauf festgelegt, dass die Frau vor sechs bis sieben Jahren ermordet wurde», berichtete er. «Darüber hinaus gibt’s keine wirklich neuen Erkenntnisse.»

Dass die Tote schwanger war, verschwieg er. Tilda musste nicht alles wissen.

«Sechs bis sieben Jahre …», wiederholte sie nachdenklich. «Das ist wirklich nicht so lange her. Da müsste man doch rausbekommen, um wen es sich bei der Toten handelte. Aber das weißt du immer noch nicht, richtig?»

Emilio wunderte sich über ihr Engagement. Irgendwie war es aber auch verständlich, denn sicherlich war sie noch nie

«Nein, leider nicht. Mit dem Namen der Toten wären wir einen großen Schritt weiter.»

Sie holte ein iPad aus ihrer Umhängetasche und zeigte ihm die von ihr angefertigte Zeichnung des Kleides.

«Schaut aus wie in einem Katalog», sagte er bewundernd.

«Ich grase gerade einige Boutiquen ab und frage nach dem Kleid. Ist zwar nicht besonders vielversprechend, aber vielleicht haben wir Glück.»

Er sah sie verwundert an. Offenbar hatte er jetzt eine Assistentin.

«Keine schlechte Idee. Du sagst mir Bescheid, wenn du was rausbekommst?»

«Wenn du mich lieb bittest …»

«Was ich hiermit tue.»

«Aber wie gesagt, ich rechne nicht wirklich mit einem Erfolg.»

«Dann geht’s dir wie mir. Ich verfolge nämlich momentan eine ähnlich aussichtslose Spur.»

Er legte das Fußkettchen der Toten auf den Tresen.

«Ich klappere die Juweliere ab. Bislang vergebens.»

Tilda nahm die Kette und sah sie sich genauer an. Zweifellos hatte sie auf diesem Gebiet mehr Expertise als Phina.

«Na ja, sieht schöner aus als an der Leiche und auf meinen Fotos, ist aber trotzdem nicht mein Geschmack. Zu filigran und verspielt.»

Er erinnerte sich an Phinas Worte. Zu «futzlig» hatte sie gesagt. Was so ziemlich aufs Gleiche herauskam.

«Ganz schön anspruchsvoll.»

Sie lächelte. «Aber nein, ich habe sogar einen ganz einfachen Geschmack. Ich bin immer mit dem Besten zufrieden.»

Das war ein Zitat. Emilio wusste, von wem der Spruch stammte. Nämlich von Oscar Wilde. Dass der gute Mann bei seinem Tod völlig verarmt war, könnte er als Gegenargument anführen. Aber das würde vom Thema ablenken.

«Die Tote war vermutlich nicht so gut situiert wie du.»

«Stimmt, auch das Kleid ist keine Haute Couture.»

Sie pendelte mit dem Kettchen vor ihren Augen hin und her.

«Ich weiß in Naturns …» Sie unterbrach sich, als ob sie nachdenken musste. Fiel ihr ein Name nicht ein, oder hatte ihr Zögern einen anderen Grund? Jedenfalls sprach sie nach kurzer Pause weiter. «Ich kenne dort einen Goldschmied, der auch als Gutachter arbeitet und wahrscheinlich alle Juweliere der Region kennt. Den solltest du mal fragen. Vielleicht kann er dir einen Tipp geben?»

Emilio dachte, dass Tilda wirklich eine gute Assistentin abgab. Was nichts daran änderte, dass er lieber alleine arbeitete.