Tilda Kneissl konnte hartnäckig sein. Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, zog sie es durch. Selbst wenn sie ahnte, dass sie ihr Ziel nicht erreichen würde. Dann war es halt nicht zu ändern, aber wenigstens hatte sie es versucht. Außerdem glaubte sie unverdrossen an die Kraft des positiven Denkens. Weshalb sie ihre Tour durch die einschlägigen Boutiquen fortsetzte. Nachdem sie gestern durch Bozen gelaufen war, konzentrierte sie sich heute auf Meran. Überall zeigte sie die von ihr angefertigte Zeichnung des roten Kleides. Erntete aber nur Kopfschütteln. Sie war kurz davor, auch die Modegeschäfte in Meran von ihrer Liste zu streichen, da fiel ihr ein, dass sie einen Laden vergessen hatte, der etwas abseits lag. Sie lief über die Winterpromenade an der Passer entlang. Das Rauschen des Flusses begleitete sie. Die Kaiserin Sisi fiel ihr ein, die hier ihre Spaziergänge gemacht hatte – und überaus modebewusst gewesen war. Schon deshalb bewunderte Tilda die österreichische Kaiserin. Auch wegen ihrer Freiheitsliebe und ihres Selbstbewusstseins. Was kaum einer wusste: Sissi hatte sich, schon in höherem Alter, auf die Schulter einen Anker als Tattoo stechen lassen. In einer Hafenkneipe. Die Monarchin war ihrer Zeit wirklich weit voraus.

Fast wäre Tilda an der Boutique vorbeigelaufen, so sehr war sie in Gedanken bei der Kaiserin. Sie blieb stehen und warf einen Blick ins Schaufenster. Nicht gerade alta moda, aber ganz nett. Neben dem Eingang entdeckte sie ein Schild:

«Wirklich? Sind Sie sich sicher?»

Gerti deutete auf die Details, auf den Kragen, auf die Ärmel, auf die rautenförmigen Pailletten.

«Ich bin mir sogar hundertprozentig sicher. Wissen Sie auch, warum?»

«Nein, aber ich würde es gerne wissen.»

Gerti stützte die Hände in die Hüfte und sah sie strahlend an.

«Weil ich das Kleid selbst geschneidert habe. Deshalb!»

Tilda war baff. Ihre Beharrlichkeit hatte sich ausgezahlt. Auch ihr Glaube an die Kraft des positiven Denkens.

In kurzen Worten erklärte Tilda den Grund ihrer Recherche. Natürlich ohne die Leiche zu erwähnen, die das Kleid getragen hatte. Vielmehr sagte sie vage, dass sie eine junge Frau suche, die das Kleid vielleicht vor sechs oder sieben Jahren gekauft habe.

Gerti gab sich mit dieser Erklärung zufrieden.

«Die Illustration gefällt mir», sagte sie. «Wer hat sie gemacht?»

«Ich habe mal Modezeichnerin gelernt …»

«Na dann, ich verstehe. Sie haben Talent, aber ich vermute, das wissen Sie?»

Natürlich wusste Tilda, dass sie Talent hatte – auf vielen Gebieten.

«Vor sieben Jahren, um genau zu sein», präzisierte Gerti. «Nur bei meiner damaligen Sommerkollektion habe ich diese Pailletten verarbeitet. Ich entscheide mich jedes Jahr für eine andere Besonderheit, Sie verstehen?»

Tilda dachte, dass sich «Sommerkollektion» nicht gut anhörte. Wie viele Teile wird es von diesem Kleid wohl gege ben haben? Und wie sollte sich Gerti an die Käuferinnen erinnern?

«Diese Pailletten sind ganz entzückend», sagte Tilda. Was gelogen war, denn eigentlich fand sie die rautenförmigen Aufnäher spießig.

«Ich habe das Kleid nur zweimal geschneidert», erzählte Gerti. «Eines hängt noch heute in meinem Schrank. Das andere hat diese reizende Person gekauft. Ich kann mich noch genau erinnern. Schon deshalb, weil ich …»

Sie sah Tilda verlegen an.

«Nun ja, weil ich nur wenige meiner Schneiderarbeiten verkaufe. Mein Hauptgeschäft ist die Konfektionsware, die hier rumhängt. Die junge Frau war ausgesprochen nett. Leider hatte sie wohl nur wenig Geld, deshalb haben wir lange gefeilscht. Am Schluss habe ich ihr das Kleid viel zu billig verkauft, das weiß ich noch. Sie wollte ihren Freund damit beeindrucken. Ja, das hat sie gesagt. Da bin ich schwach geworden. Deshalb habe ich es auch gekürzt, damit ihre Beine besser zur Geltung kommen. Und in der Taille … Obwohl, da bin ich mir nicht sicher. Oder hatte sie zu viel Oberweite? Na egal. Das Kleid hat ihr blendend gestanden.»

«Davon bin ich überzeugt. Können Sie sich noch an den Namen der Kundin erinnern?»

«Leider nein. Ich weiß nur, dass sie blond war und Deutsch mit einem ausländischen Akzent gesprochen hat. Aber wie sie hieß? Tut mir leid, keine Ahnung.»

«Ein ausländischer Akzent? Können Sie ihn zuordnen?»

«Nein, da bin ich ganz schlecht. Vielleicht slawisch … Ja, das könnte sein.»

Tilda überlegte, auf welche Sprachen ein slawischer Akzent hindeuten könnte. Russisch, Polnisch, Tschechisch, Serbisch … Das half ihr nicht wirklich weiter. Doch immerhin wusste sie jetzt, dass die tote Frau im Bunker nicht aus der Gegend war.

«War die Frau auf Durchreise? Oder hat sie hier gelebt?»

«Meine Liebe, das alles ist sieben Jahre her. Wie soll ich das wissen! Aber ich glaube, sie hat hier gelebt. Denn ich bin ihr Wochen später mal unter den Lauben begegnet. Da hat sie mein Kleid getragen.»

«Gerti, ich bin froh, dass ich Sie getroffen habe …»

«Tut mir leid, dass ich Ihnen nicht mehr sagen kann.» Sie zögerte. «Darf ich mir was wünschen?»

«Natürlich. Womit kann ich Ihnen eine Freude machen?»

«Ich hätte gerne Ihre Illustration von meinem Kleid.»

«Sehr gerne. Ich bringe sie Ihnen in den nächsten Tagen vorbei. Vielleicht fällt Ihnen bis dahin noch was ein …»

«Glaube ich zwar nicht. Aber ich werde darüber nachdenken, das verspreche ich.»

Tilda dachte, dass sie mehr nicht erwarten konnte. Auch, dass sie bei ihrer Suche nach der Identität der Toten einen respektablen Teilerfolg erzielt hatte.

Emilio würde staunen.