Bastian Steingruber war ein leidenschaftlicher Winzer, der vor keinem Experiment zurückscheute. Vor kurzem hatte er in einer Fachgazette gelesen, dass er ein «Weinverrückter» sei. Ein größeres Kompliment hätte man ihm kaum machen können. Denn nach seiner Überzeugung brauchte es im Leben viel Verrücktheit, wollte man wirklich Großes erreichen. Ganz sicher war ein Kolumbus verrückt gewesen. Auch ein Reinhold Messner, als er ohne Sauerstoff auf den Everest wollte. Natürlich war Bastian nicht so größenwahnsinnig, seine Visionen auf eine ähnliche Stufe zu stellen. Mit Kolumbus schon gleich gar nicht. Na ja, ein bisschen vom Geist eines Messner hatte er vielleicht schon. Schließlich strebte auch er zu den höchsten Gipfeln. Sein Ziel war es, die besten Weine zu kreieren, die vorstellbar waren. Mit oder ohne Sauerstoff.
Natürlich fing auch bei ihm die Arbeit ganz normal im Weinberg an. Das war nun mal die Basis für jeden guten Wein. Aber schon da folgte Bastian kompromisslos seinen Vorstellungen vom biodynamischen Anbau. Er verzichtete auf Pestizide und Kunstdünger. Stattdessen füllte er schon mal Hörner mit Kuhmist und vergrub sie über den Winter zwischen den Rebstöcken. Beim Rebschnitt oder der Weinernte achtete er auf die Mondphasen. Er lehnte Reinzuchthefen ab und überließ die Gärung den kosmischen Kräften. Mit dieser Philosophie war er in Südtirol nicht alleine. Immer mehr Winzer erzeugten ihren Wein auf biodynamische Weise. Viele waren wie er Anhänger des Anthroposophen Rudolf Steiner. Aber nur wenige so fanatisch.
Bastian Steingrubers größte Leidenschaft galt dem Ausbau des Weines. Hier gab es nach seiner Überzeugung noch viel unerforschtes Land. Terra incognita! Klassischerweise erfolgte die Reifung in Edelstahltanks. Oder in Holzfässern. Dabei spielte die Größe ebenso eine Rolle wie etwa bei den kleineren Barrique-Fässern das Toasting. Das Holz musste zum Wein passen und die richtigen Noten hervorheben. Aber das wusste jeder Anfänger. Bastian dagegen experimentierte mit anderen Behältnissen. So hatte er ein Faible für große Betoneier. In ihnen könne der Wein langsam um sich selbst kreisen, argumentierte er, und auf diese Weise zu seiner spirituellen Mitte finden. Außerdem sei das Ei der Ursprung des Lebens – mithin die ideale Form, um in ihm etwas reifen zu lassen. Das sei leicht zu begreifen. Doch nicht allen Weinen, so hatte er herausgefunden, tat das Betonei gut, manche kreiselten sich darin offenbar zu Tode. Oder sie kamen entgegen der Theorie gar nicht erst in Bewegung. Er hatte es auch schon mit Granitfässern versucht, um die Mineralität der Weine hervorzuheben. Überzeugt hatte ihn das Ergebnis nicht. Ohne zu wissen, woran es lag.
Seine neueste Leidenschaft galt Amphoren. In diesen Tongefäßen hatten schon die alten Babylonier ihren Wein gelagert. Das konnte so falsch also nicht sein. Vor zwei Jahren hatte Bastian Steingruber erstmals große Amphoren mit Gewürztraminer gefüllt, oben mit Wachs abgedichtet und bis zur Oberkante in der Erde vergraben.
Das Ergebnis war, nun ja, gewöhnungsbedürftig. Und das war geschmeichelt. Irgendwas hatte er falsch gemacht.
Dennoch hatte er den Wein in Flaschen gefüllt – und diese in einem Metallkäfig in einem Bergsee versenkt. Dort bekam der Gewürztraminer eine zweite Chance. Der Sage nach lebte im See eine verwunschene Jungfrau. Vielleicht hauchte sie seinem Wein neues Leben ein …
Den Floh, Weinflaschen unter Wasser zu deponieren, hatte ihm ein Freund ins Ohr gesetzt, der mindestens so verrückt war wie er selbst. Baron Emilio war ein notorischer Querdenker – diesen Wesenszug schätzte er an ihm. Man musste ja nicht alles in die Tat umsetzen, was seinem Freund nach dem dritten Glas Wein so einfiel. In diesem Fall konnte Emilio allerdings ganz nüchterne Argumente vorbringen. Er hatte von Weinen berichtet, die nach Schiffsuntergängen Jahrzehnte später geborgen wurden. Bei ihrer Verkostung habe sich herausgestellt, dass sie sich unter Wasser prächtig entwickelt hatten. Beim verunglückten Gewürztraminer würde er sich allerdings keine Wunder erwarten, hatte er gesagt. Offenbar glaubte Emilio nicht an die Magie verwunschener Jungfrauen.
Weil Bastian die Flinte nicht so schnell ins Korn warf und weiterhin an die Kraft der Amphoren glaubte, hatte er vor kurzem einen zweiten Versuch gestartet. Diesmal mit Lagrein. Und mit dickwandigeren Amphoren, die man nicht eingraben musste.
Zudem hatte er einen weiteren Geistesblitz. Er wusste schon länger, dass die Whisky-Destillerie Puni aus Glurns im Obervinschgau ihre Single Malts in Bunkern aus dem Zweiten Weltkrieg lagerte. Keine schlechte Idee, wenn man die wesentlichen Parameter wie Luftfeuchtigkeit, Temperatur und Dunkelheit in Betracht zog. Die Kellerei St. Pauls ließ in einem ähnlichen Bunker einen besonderen Sekt gären. Auch kannte er einen Affineur, der seinen Käse in einem Bunker reifen ließ. Natürlich kam es für Bastian nicht in Frage, seine Amphoren neben Käselaiben zu lagern. Wer mochte schon einen Wein mit den Aromen eines würzigen Graukäse oder eines süßen Kloaznkas?
Da erschien es ihm als Wink des Schicksals, als er von einem Apfelbauern in Mals hörte, der einen Weltkriegsbunker sein eigen nannte, nichts mit ihm anzufangen wusste und ihn deshalb gerne verpachten würde. Schnell wurde Bastian mit ihm handelseinig. Späterer Kauf nicht ausgeschlossen.
Eine kurze Bedenkzeit hatte er zuvor aber doch benötigt. Denn nach seiner Überzeugung übertrugen sich positive wie negative Schwingungen auf den Wein. Weshalb in seinem Barrique-Keller in Girlan immer Musik von Vivaldi lief. Es verbot sich also, die Amphoren mit dem Lagrein einem blutrünstigen Ambiente auszusetzen. Aber die Bunker des Südtiroler Alpenwalls waren nie zum Einsatz gekommen. Mit etwas Phantasie konnte man sie sogar als Fanale des Friedens interpretieren. Jedenfalls wollte Bastian sie so sehen – und diese Botschaft seinem Wein mitgeben.
Jetzt lagerten im Vinschgauer Bunker zwölf Amphoren mit Lagrein. Das Eisentor am Eingang war mit einem Vorhängeschloss gesichert. Ein Dreivierteljahr würde er dem Wein Zeit geben, zu reifen und zu sich selbst zu finden. Hoffentlich mit einem besseren Ergebnis als bei seinem ersten Versuch mit dem Gewürztraminer.