Phina kniete mit ausgebreiteten Armen im Flur des Meraner Waisenhauses. Lachend kam ihr die kleine Zola entgegengelaufen. Was war das für ein Glücksmoment! Das Mädchen rührte ihr Herz. Zola war immer fröhlich, dabei hatte sie ein schlimmes Schicksal hinter sich. Was ihr genau widerfahren war, ließ sich nicht in Erfahrung bringen. Zola selbst konnte oder wollte nicht darüber reden. Fest stand, dass sie mit ihren Eltern vor dem Bürgerkrieg in Mali geflüchtet war. Von Libyen aus hatten sie die Überfahrt nach Italien gewagt. Ihr Schlauchboot war kurz vor der Küste gesunken. Hilfskräfte hatten nur wenige Überlebende gerettet. Unter ihnen Zola, die eine Schwimmweste getragen hatte. Ihre Eltern konnten nur noch tot geborgen werden. Auf Umwegen war Zola nach Südtirol gelangt, wo sie im Meraner Waisenhaus psychologisch betreut wurde und ein neues Zuhause gefunden hatte.
Phina schloss Zola in ihre Arme. Kurz kam ihr der Gedanke, dass die Idee mit dem Rudern vielleicht kein so guter Einfall war. Womöglich fühlte sich Zola an das Unglück auf ihrer Flucht erinnert? Phina nahm sich vor, behutsam vorzugehen und ganz genau auf Zolas Reaktionen zu achten. Beim kleinsten Anzeichen einer Verunsicherung würde sie das mit dem Boot sein lassen und mit ihr stattdessen auf der Terrasse des Lido ein Eis essen.
Zunächst besuchte Phina ein Kindermodegeschäft in Meran. Dort kaufte sie Zola einen hübschen Badeanzug mit gelben Sonnenblumen. Ob die Kleine jemals Sonnenblumen gesehen hatte? Dazu einen bunten Strohhut. Lustig sah sie aus.
Phina hatte an alles gedacht, sogar an den geliehenen Kindersitz im Auto. Wenn mit der geplanten Adoption alles glattging, würde sie einen kaufen. Wenn, wenn … Automatisch dachte sie an Emilio. Hoffentlich machte er ihr keinen Strich durch die Rechnung. Deshalb war der heutige Nachmittag so wichtig. Sie hoffte inständig, dass ihm ihr gemeinsamer Badeausflug gefiel. So gut, dass er seine Zweifel überwand und einer Adoption zustimmte. Sie brauchte ihn. Ohne seine Unterschrift ging es nicht.
Sie wusste, dass Emilio große Probleme damit hatte. Es widersprach all seinen Prinzipien, irgendwelche Verpflichtungen einzugehen. Er sah sich als Freibeuter, der über die Weltmeere segelte – und nur vorübergehend in Südtirol Anker geworfen hatte. Phina musste lächeln. Denn warum sollte Emilio wieder seinen Anker lichten und weitersegeln? Er fühlte sich hier wohl, daraus machte er keinen Hehl. Und die Fortsetzung seines Lebens als Freibeuter war nicht mehr als eine Illusion, oder etwa nicht? Sie hoffte es jedenfalls. Blieb das Risiko, dass ihr Wunsch, ihn auf den Adoptionspapieren eintragen zu lassen, als Schuss nach hinten losgehen könnte. Weil sich Emilio unter Druck gesetzt fühlte. Doch das Wagnis musste sie eingehen. Zola war es wert. Und hinterher würde sie klarer sehen. So oder so. Schließlich geisterte ja noch diese Tilda als Piratenbraut durch sein Leben. Auch hier war es an der Zeit, eine Entscheidung herbeizuführen.
Phina überlegte, dass sich Emilio heute Nachmittag drücken könnte. Mit der fadenscheinigen Erklärung, dass seine Ermittlungen eine unerwartete Wendung genommen hätten und er deshalb nicht abkömmlich wäre. Zu seinem unendlichen Bedauern. So etwas würde ihm ähnlich sehen. Doch dafür könnte sie diesmal kein Verständnis aufbringen – und würde es ihm wirklich übelnehmen.
Auf dem Weg zum Kalterer See machte Phina einen kurzen Zwischenstopp auf ihrem Weingut. Dort hatte sie einen Picknickkorb vorbereitet. Und eine Kühltasche mit Getränken. Wasser und Apfelsaft. Ach ja, und eine Flasche Brut Metodo Classico. Für Emilio. Aber nur wenn er sich von seiner besten Seite zeigte. In diesem Fall würde sie sogar ein Gläschen mittrinken.