Emilio hatte den Besitzer des Sternenschein noch spätabends am Telefon erreicht, aber eine Auskunft hatte er von ihm nicht erhalten, nur die Zusage, dass er heute ab elf Uhr dreißig im Restaurant und für ihn zu sprechen sei.
Natürlich war Emilio pünktlich. Das lag zwar nicht in seinem Wesen, aber wenn etwas wichtig war, konnte er zuverlässig sein wie eine Schweizer Uhr. Und dieser Termin war wirklich wichtig – hoffte er jedenfalls.
Lorenz Holzer schrieb gerade die Mittagsgerichte auf eine Schiefertafel: Kartoffelcremesuppe mit Speckgrissini, Saftgulasch mit Knödel … Er war ein großgewachsener Mann mit kahlgeschorenem Schädel und einem goldenen Ring am Ohr.
«Ja, ich erinnere mich, dass Sie angerufen haben», begrüßte er ihn mit rauer Stimme und finsterem Blick. Entweder war es gestern spät geworden, und er hatte deshalb eine miese Laune. Oder der Wirt sah immer so abweisend drein.
«Ich hoffe, dass Sie mir weiterhelfen können», sagte Emilio. «Ich suche eine junge Frau …»
«Da sind Sie nicht alleine», grummelte Holzer. «Wenn Sie eine junge Frau suchen, sollten Sie eine Kontaktanzeige aufgeben.»
Emilio musste zugeben, dass er seinen Satz missverständlich begonnen hatte.
«So habe ich das nicht gemeint. Ich möchte von Ihnen wissen, ob bei Ihnen vor sieben Jahren im Service eine etwa dreißigjährige, blonde Frau gearbeitet hat, die von einem Tag auf den anderen verschwunden ist. Sie hat deutsch mit einem osteuropäischen Akzent gesprochen.»
Lorenz Holzer hob seinen Kopf und sah ihn zum ersten Mal richtig an. «Wer will das wissen?»
«Mein Name ist Ritzfeld», stellte sich Emilio vor. «Ich bin Privatdetektiv und suche nach dieser Frau.»
Holzer zog eine Grimasse. «Dann suchen Sie mal weiter, aber nicht bei mir.»
Das war nicht unbedingt die Antwort, die sich Emilio erhofft hatte.
«Ich wäre Ihnen wirklich sehr verbunden …»
Der Wirt deutete zur Tür. «Ich Ihnen auch. Habe die Ehre.»
Emilio dachte, dass er bei diesem Holzkopf andere Saiten aufziehen musste.
«Wenn ich jetzt zu dieser Tür hinausgehe, komme ich in einer halben Stunde wieder rein. Und zwar in Begleitung uniformierter Polizisten.»
Emilio hielt ihm das Papier unter die Nase, das ihn als Fallanalytiker auswies, der im Auftrag der Mordkommission in Bozen Befragungen durchführte.
Briefkopf und Stempel zeigten auch bei Holzer die erhoffte Wirkung.
«Das konnte ich doch nicht wissen. Mordkommission? Sagen Sie bloß, die Dobra ist tot?»
Dobra? Ein Vorname!!! Am liebsten hätte Emilio einen Luftsprung gemacht. Natürlich nicht wirklich, solche kindlichen Ausdrucksformen vermied er tunlichst.
Stattdessen nickte er. «Davon gehen wir aus. Sofern es sich bei ihr um jene Frau handelt, nach der ich gefragt habe.»
Holzer stellte zwei kleine Gläser auf den Tresen.
«Auf den Schrecken brauch ich einen Schnaps.»
Emilio hatte den Eindruck, dass der Wirt wirklich geschockt war. Eine Bestürzung, die allerdings auch gespielt sein konnte. Mit Sicherheit ließ sich das nicht feststellen. Aber der Schnaps war eine gute Idee. Selbst zu dieser Tageszeit. Vorausgesetzt, er bekam zuvor noch den Nachnamen genannt.
«Wie hieß diese Dobra weiter?»
«Novak. Dobra Novak. Ja, so hieß sie.»
Das Schnapsglas leerten beide auf ex.
«Erzählen Sie mir was über diese Dobra! Wie war sie so? Wann genau ist sie nicht mehr zur Arbeit erschienen? Haben Sie danach noch mal was von ihr gehört?»
«Ganz schön viele Fragen auf einmal. Das ist Jahre her, wie soll ich das noch wissen?»
«Aber Dobras Namen hatten Sie gleich präsent.»
«Na klar. Sie war ein nettes Mädchen. Und so viele Mitarbeiter habe ich nun auch nicht.»
Nettes Mädchen …?, überlegte Emilio. Wie nett? Auch zu ihm?
«Was ist mit ihrer Personalakte? Aus der müsste doch hervorgehen …»
«Gibt’s nicht mehr», winkte Holzer ab. «Alles, was älter ist als fünf Jahre, wurde in unserer Buchhaltung geschreddert.»
«Fünf Jahre? Ist das nicht ein bisschen kurz?»
Er zuckte mit den Schultern. «Ein Versehen.»
«Irgendwas werden Sie doch von dieser Dobra noch wissen, außer dass sie nett war.»
«Ich weiß nur, dass sie aus Kroatien stammte, genauer gesagt aus Zagreb. Sie hatte einen Vertrag als Saisonkraft. Von einem Tag auf den anderen ist sie weggeblieben … Aber an mehr kann ich mich wirklich nicht erinnern.»
Holzer goss sich einen zweiten Schnaps ein. Emilio hielt sein Glas mit der Hand zu.
«Und sie ist wirklich tot? Wie ist das passiert?»
Emilio dachte, dass diese Fragen überfällig waren. Hätte Holzer sie nicht gestellt, läge die Vermutung nahe, dass er mehr wusste, als er zugab.
«Wir haben eine Leiche gefunden, bei der wir davon ausgehen, dass es sich um Ihre ehemalige Mitarbeiterin handelt», gab Emilio zur Antwort. «Wie es passiert ist, darf ich Ihnen nicht sagen. Ich muss Sie ohnehin bitten, Stillschweigen zu bewahren. Die Ermittlungen sind noch im Gange.»
Eine Bedienung kam mit Geschirr vorbei. Offenbar deckte sie gerade die Tische ein.
«Hoi Katja, bleib amol stean! Der Monn do mechat gern mit dir reden.»
«Mein Name ist Ritzfeld», ergänzte Emilio. «Warum sollte ich mit Katja sprechen wollen?»
«Weil Katja Dobras Freundin war. Sie haben sich ein Zimmer geteilt. Sie kann Ihnen sicherlich mehr über sie erzählen.»
Katja einzubeziehen war zwar das Gegenteil von «Stillschweigen bewahren», aber dennoch ein guter Vorschlag.
Sie stellte das Tablett mit dem Geschirr ab und nahm mit ihm an einem Tisch in der Ecke Platz. Noch war der Sternenschein leer. Sie konnten also ungestört sprechen. In kurzen Worten brachte Emilio die Bedienung auf denselben Informationsstand wie ihren Chef, der mittlerweile wieder mit seiner Schiefertafel und den Mittagsgerichten beschäftigt war.
Katjas Reaktion war dramatisch: Sie brach in Tränen aus und war für eine ganze Weile nicht in der Lage zu sprechen. Holzer sah zu ihnen rüber und schüttelte verständnislos den Kopf. Ihm war ein solcher Gefühlsausbruch offenbar unerklärlich.
Doch schließlich beruhigte sich Katja ein wenig und konnte auf Emilios Fragen antworten, schluchzend zwar und stockend, aber immerhin.
«Ich hab geahnt, dass was passiert ist», brachte sie hervor. «Damals, als sie plötzlich weg war. Ohne mir was zu sagen. Das war nicht normal; so war sie nicht. Wir haben uns ja ein Zimmer geteilt und waren ziemlich vertraut miteinander.»
«Hatte Dobra ein Fußkettchen?»
Die Frage stellte Emilio aus zwei Gründen. Erstens, um noch einmal sicherzustellen, dass Dobra tatsächlich die Gesuchte war. Und zweitens, um rauszufinden, wie vertraut sie wirklich miteinander gewesen waren.
«Ja. Ein hübsches Kettchen mit kleinen Herzen und einem violetten Halbedelstein.»
Die Beschreibung war eindeutig. Er konnte sich sparen, ihr das Kettchen zu zeigen. Da würde sie nur wieder sofort heulen müssen.
«Hatte Dobra einen Freund?»
«Ja, sie hatte einen Freund. Der hat ihr auch das Geld für die Kette gegeben. Aber ich habe ihn nie kennengelernt.»
«Aber seinen Namen hat sie doch sicher erwähnt?»
Katja schüttelte den Kopf. «Obwohl wir uns sonst fast alles erzählt haben – aber aus ihrem Freund hat sie ein Geheimnis gemacht und seinen Namen selbst mir gegenüber verschwiegen. Ich weiß auch nicht, warum. Hab’s nie rausbekommen.»
Sie wird ihre Gründe gehabt haben, dachte Emilio. Nur welche?
«Wie war das mit Dobras persönlichen Dingen? Ihre Kleider, ihre Badutensilien, Kosmetik et cetera. Hat sie die alle zurückgelassen?»
«Am nächsten Tag kam jemand vorbei und hat alle ihre Habseligkeiten eingepackt und mitgenommen.»
«Jemand?»
«Ich war zu der Zeit im Restaurant. Ich habe ihn nicht gesehen. War wohl ein junger Mann, hat meine Vermieterin berichtet. Ein Verwandter von Dobra aus Kroatien. Sie habe wegen eines Krankheitsfalls dringend zurück in die Heimat müssen. Mehr hat er nicht gesagt.»
«Warum hat Ihnen Dobra nicht wenigstens eine SMS geschickt oder mal angerufen?»
«Eine Textnachricht hat sie schon geschickt. Zwei oder drei Tage später. Nur ganz kurz. ‹Musste überraschend heim, mir geht’s gut, Bussi› – so oder so ähnlich.»
Emilio dachte, dass da jemand an alles gedacht hatte.
«Die Nachricht haben Sie aber nicht mehr?»
«Nein, natürlich nicht. Ist ja ewig her.»
«Haben Sie darauf geantwortet?»
«Freilich, aber es gab keine Reaktion darauf.»
Katja schnäuzte sich und wischte sich die Tränen von den Wangen.
«Ich würde gerne mit Ihrer Vermieterin sprechen», sagte Emilio. «Ist sie zu Hause?»
«Helene ist so gut wie immer zu Hause.»
Katja gab ihm die Adresse. Heute bewohne sie das Zimmer alleine, sagte sie.
Er deutete auf ihr Handy. «Haben Sie zufällig noch ein Foto von Dobra?»
«Müsste ich in den alten Dateien nachschauen. Könnte sein, aber das wird dauern.»
Er gab ihr seine E-Mail-Adresse. Verbunden mit der Bitte, ihm das Foto sofort zu schicken, falls sie eines fand.
Lorenz Holzer klatschte laut in die Hände.
«Jetzt ist Schluss mit dem Gequatsche. Katja, an die Arbeit! Tische eindecken, zack, zack!»
Ein wirklich netter Chef, dachte Emilio.
«Eine letzte Bitte: Kennen Sie aus der Zeit noch gemeinsame Arbeitskollegen oder Freunde? Falls Ihnen welche einfallen, könnten Sie mir bitte deren Namen und Kontaktdaten schicken?»
«Mache ich», versprach Katja. «Aber Sie müssen mich auf dem Laufenden halten. Ich will wissen, was damals passiert ist.»
Das würde er ganz gewiss nicht tun, dachte Emilio. Aber das musste er ihr ja nicht sagen.