Das Haus, wo Katja zur Untermiete wohnte, war vom Restaurant Sternenschein nicht weit entfernt. Emilio läutete. Es dauerte, bis ihm aufgemacht wurde. Von einer alten Frau, bei der es sich offenbar um Helene handelte. Das Erste, was ihm an ihr auffiel, war ihre Brille. Sie hatte Gläser, fast so dick wie Flaschenböden. Das Zweite waren ihre kunstvoll geflochtenen Haare. Erstaunlich, dass sie das mit ihrer Sehschärfe so gut hinbrachte.

Emilio stellte sich vor, diesmal mit vollem Namen, und richtete Grüße von Katja aus, mit der er gerade geredet habe. Er interessiere sich für ihre frühere Mieterin Dobra Novak, die vor Jahren von einem Tag auf den anderen verschwunden sei. Ob sie sich noch an die Frau erinnere?

Die hinter den Brillengläsern sowieso schon riesigen Augen schienen noch größer zu werden und durch die Flaschenböden auf ihn zuzukommen. Das hatte was von einem Horrorfilm.

«Ob ich mich an die Dobra erinnere?», wiederholte sie seine Frage.

Ihre Stimme war sanft und freundlich. Sie war also doch kein außerirdisches Monster. Nur leider mit höllisch schlechten Augen gestraft. Was erklärte, warum sie nur selten das Haus verließ.

«Junger Mann, natürlich erinnere ich mich an die Dobra. Nur weil ich alt bin, habe ich doch kein Alzheimer.»

«Mich würde interessieren, wie das damals abgelaufen ist.

«Habe ich das richtig verstanden? Sie sind Baron?» Sie ignorierte einfach seine Frage.

«Ja, aber dafür kann ich nichts …»

«Dann darf ich Sie in meinen Salon auf ein Tässchen Tee einladen. Dort können wir uns in Ruhe über alles unterhalten.»

Nun hatte er damit gerechnet, dass sein Adelstitel bei einer alten Dame von Vorteil sein könnte – nur deshalb hatte er ihn entgegen seiner Gewohnheit erwähnt. Aber das Risiko, darauf zum Tee eingeladen zu werden, hatte er unterschätzt.

«Gnädige Frau, mit dem größten Vergnügen», antwortete er dennoch.

*

Eine knappe Stunde und zwei Tassen Tee sowie ein Likörchen später war er in vielerlei Hinsicht klüger. Zum einen kannte er Helenes Familiengeschichte. Auch dass ihr seliger Mann viel zu jung mit nicht einmal achtzig Jahren verblichen war. Zum anderen hatte er aber auch alles erfahren, was sie über Dobra und ihr Verschwinden wusste. Leider war das nicht viel – was aber nicht an Helenes erstaunlich gutem Gedächtnis lag, sondern daran, dass es nicht viel zu berichten gab. Dobra sei ohne ein Wort des Abschieds fortgegangen, was gar nicht zu ihrem reizenden Wesen gepasst habe. Am nächsten Tag sei ein junger Mann bei ihr erschienen und habe Dobras Habseligkeiten in einen Koffer gepackt. Bei ihm habe es sich um einen Cousin aus Kroatien gehandelt. Ein netter Mann, sehr höflich. Er habe sogar Dobras ausstehende Miete bezahlt. Nur konnte Helene nicht beschreiben, wie der Mann ausgesehen hatte. Sie habe

Aber sie hatte einen anderen Joker im Ärmel: Sie konnte Emilio auf den Tag genau sagen, wann Dobra «abgereist» war. In einem dicken Buch mit verschlissenem Einband hatte sie alles akribisch genau vermerkt. Jede Vermietung, jede Übernachtung … allem Anschein nach bis zurück zum Dreißigjährigen Krieg. Wie sie das mit ihren schlechten Augen hinbekam, war Emilio ein Rätsel. Nun ja, die Lupe, mit der sie den Eintrag heraussuchte, wäre was für Insektenforscher. Das Datum war genau vermerkt. Gemäß ihrer Aufzeichnung hatte Dobra Novak exakt vor sieben Jahren, fünf Monaten und dreiundzwanzig Tagen ihr Mietverhältnis beendet. Ohne Einhaltung der Kündigungsfrist!