In Sandrinis Vorzimmer blieb Emilio kurz stehen. Nicht nur, um sich von Mariella zu verabschieden, sondern auch, um noch eine Bitte loszuwerden. Er fragte sie, ob sie ihm die Akte vom Unfall beschaffen könne, bei dem Gustl Mayrs Frau ums Leben gekommen war. Er deutete auf den Zettel auf ihrem Schreibtisch, auf dem sie sich das Datum notiert hatte, an dem Dobra verschwunden war.
«Würde mich nicht wundern, wenn der Unfall zu dieser Zeit erfolgt wäre», sagte er.
Sie sah ihn erstaunt an.
«Wirklich? Sehen Sie da einen Zusammenhang?»
«Noch nicht. Aber vorstellen könnte ich es mir.»
Mariella deutete zu Sandrinis Tür. «Der Commissario muss nichts davon wissen, richtig?»
Emilio lächelte. «Vorläufig nicht. Der arme Mann ist schon so gestresst genug. Er hat übrigens noch einen diskreten Rechercheauftrag für Sie. Aber das soll er Ihnen selber sagen.»
Er naschte noch ein Maronenplätzchen, hauchte Mariella einen Kuss zu und machte sich davon. Die Quästur in Bozen war nicht wirklich ein Ort, an dem er sich länger aufhielt als unbedingt nötig.
Kaum auf der Straße, erhielt er eine Nachricht von Katja. Sie habe am Nachmittag frei und inzwischen ein Foto gefunden, auf dem Dobra zu sehen sei. Zusammen mit ihr, auf einer Betriebsfeier vom Sternenschein. Und sie habe sich einige Namen von gemeinsamen Bekannten notiert. Aber sie glaube nicht, dass die mehr von Dobra wussten als sie selbst. Schließlich sei sie ihre engste Freundin gewesen.
Emilio blieb im Schatten eines Baumes stehen und sah sich das Foto an. Mit Zeigefinger und Daumen vergrößerte er Dobras Gesicht. Bisher hatte er von ihr nur das Bild einer mumifizierten Leiche im Kopf gehabt. Nun vollzog sich vor seinen Augen die Verwandlung zu einer schönen Frau mit blonden Haaren und einem fröhlichen Lachen. Eine Metamorphose, die ihn nicht unberührt ließ. Noch unheimlicher wäre sie in umgekehrter Richtung. Indem also die attraktive Dobra zu einer gruseligen Mumie verfiel.
Emilio verharrte eine Weile und schaute Dobra ins Gesicht. Es kam ihm vor, als ob sie zurückblickte. Fehlte nur noch, dass ihre Augen blinzelten oder sich ihre rot geschminkten Lippen bewegten. Wie schön wäre es, wenn man sie wieder zum Leben erwecken könnte. Weil das aber nicht möglich war, höchstens im Traum, konnte er nicht mehr tun, als sein Versprechen zu erneuern. Er würde alles daransetzen, ihren Mörder zu finden. Auf Bezahlung verzichtete er in ihrem Fall gern. Durch den Fund ihrer sterblichen Überreste war ihm eine Verpflichtung auferlegt worden. Und ab jetzt hatte seine «Auftraggeberin» ein Gesicht. Ein hübsches und sympathisches zudem. Was hatte sich Dobra von ihrem Leben erwartet? Bestimmt nicht, es auf so grausame Weise zu beenden. Wer ihr das angetan hatte, hatte nicht im Affekt gehandelt, sondern sie mit eiskalter Berechnung beseitigt. Sogar mit der Option, die Tat in den nächsten Tagen rückgängig zu machen und sie zu befreien. Welcher Mörder hatte schon diese Gelegenheit? Aber er hatte sie nicht genutzt – und sie elendig sterben lassen.
Emilio schloss das Bild auf seinem Handy und lief wie in Trance Richtung Waltherplatz. Ohne zu wissen, was er dort wollte. Hatte er heute schon ein Glas Wein getrunken? Nein, nur Schnaps, Tee und Likör. Er bezweifelte, dass dieser Cocktail seiner Gesundheit zuträglich war. Gegessen hatte er auch noch nichts – außer Maronenplätzchen.
Folgerichtig machte er einen Abstecher zum Parkhotel Laurin, um dort auf der kleinen, dem Park zugewandten Terrasse eine schöpferische Pause einzulegen. Begleitet von einem feinen Sauvignon der Kellerei Terlan. Sowie einem Lachstatar mit hausgemachtem Gurkeneis.
Von der Bedienung ließ er sich ein Blatt Papier und einen Kugelschreiber bringen, dann rief er Katja an. Er bedankte sich für das Foto und dafür, dass sie so rasch reagiert habe.
«Sie haben eine neue Verehrerin», sagte Katja.
Sprach sie von sich? Wohl kaum. Emilio musste schmunzeln. Er ahnte, wen sie in Wahrheit meinte.
«Sprechen Sie von Ihrer Vermieterin Helene?»
«Ja, sie schwebt auf Wolke sieben. Sie hat schon lange nicht mehr mit einem Baron Tee getrunken und sich dabei so charmant unterhalten.»
Es gab charmantere Gesprächsthemen als eine ermordete Mieterin, dachte Emilio. Aber wenn die alte Dame seinen Besuch dennoch genossen hatte, sollte es ihn freuen.
«Bitte richten Sie ihr meine Empfehlung aus», sagte er. «Aber wie Sie sich denken können, interessiere ich mich jetzt vor allem für die Namen, die Ihnen im Zusammenhang mit Dobra eingefallen sind.»
«Es sind nicht viele. Und wie gesagt, glaube ich nicht, dass sie Ihnen weiterhelfen können. Dobra war zwar eine agile Person, aber sie hat nicht viel von sich preisgegeben. Die Bekannten wussten von ihr sicherlich noch weniger als ich.»
«Trotzdem. Wer ist Ihnen eingefallen?»
«Lorenz Holzer, den Besitzer vom Sternenschein, haben Sie ja bereits kennengelernt. Ist übrigens nicht so ein Ekel, wie er gerne vorgibt. Aber privat hatte er zu Dobra keinen Kontakt.»
«Sind Sie sicher?»
«Ziemlich sicher. Obwohl, ausschließen kann man bei ihm natürlich nichts. Interessanter dürfte es für Sie sein, mit einem gewissen Tscharli Niederhofer zu sprechen. Der kannte Dobra ganz gut …» Sie lachte. «Vielleicht nicht so gut, wie er sich das gewünscht hätte. Obwohl, vielleicht täusche ich mich. Der Tscharli hat damals auch in unserem Service gearbeitet. Was er heute macht, weiß ich nicht, aber ich hab seine Adresse. Dann ist mir noch die Laura eingefallen; mit der hat sich Dobra regelmäßig zum Joggen verabredet. Sie müssen wissen, ich lauf nicht gerne. Lieber fahre ich in die Therme Meran, um dort zu schwimmen und in die Sauna zu gehen. Vielleicht war Laura ihre zweitbeste Freundin – nach mir, Sie verstehen. Beim Laufen erzählt man sich ja einiges. Könnte also sein, dass sie Ihnen weiterhelfen kann. Damals hat Laura an der Rezeption eines Hotels gearbeitet. Ihr Nachname ist Sabitzer. Die Adresse schicke ich Ihnen aufs Handy. Wie auch die vom Tscharli. Ach so, da gab es noch einen Bekannten aus Kroatien. Den Namen habe ich leider vergessen. Er hat auf einem Weingut gearbeitet.»
«War das vielleicht ihr geheimnisvoller Freund?»
«Nein, ganz sicher nicht. Er war zu alt und außerdem schwul.»
«Wissen Sie, auf welchem Weingut er gearbeitet hat?»
«Auf Anhieb nicht. Aber vielleicht fällt’s mir noch ein, dann gebe ich Ihnen Bescheid.» Katja machte eine Pause. «Darf ich Sie was fragen?»
«Natürlich.»
«Warum ist Ihnen so wichtig, herauszubekommen, was damals passiert ist? Sie kannten doch die Dobra gar nicht.»
Das war eine gute Frage, dachte Emilio. Und wie bei vielen guten Fragen gab es darauf keine einfache Antwort.
«Aber ich lerne sie immer besser kennen», erwiderte er.
«Das ist doch kein Grund.»
«Ich habe ihre Leiche gefunden», sagte er leise. «Das hat mich emotional berührt. Und zwar so sehr, dass ich ihr versprochen habe, ihren Mörder zu finden. Davon hat sie zwar nichts mehr. Aber ich finde die Vorstellung unerträglich, dass irgendwo da draußen jemand herumläuft und glaubt, er sei davongekommen.»
«Das darf nicht sein», pflichtete ihm Katja bei.
«Deshalb ist es mir wichtig. Sie verstehen?»
«Ja. Und ich hoffe sehr, Sie finden das Schwein.»
«Worauf Sie sich verlassen können.»
Hoffentlich konnte er das Versprechen einlösen.