Emilio saß am Steuer seines bockigen Landrovers und hatte als ersten Stopp Lana auf dem Programm. Er war unternehmungslustig und guter Stimmung. Was ihm selber erstaunlich vorkam, denn am frühen Vormittag entsprach das nicht seinem gewohnten Betriebsmodus. Auf der Suche nach einer Erklärung erinnerte er sich an den gestrigen Abend mit Phina, der ausgesprochen angenehm verlaufen war. Sogar über seine Unterschrift auf den Adoptionspapieren hatten sie gesprochen. Er hatte ihr zu verstehen gegeben, dass er in seinem tiefsten Inneren noch einige Hürden überwinden müsse, aber doch recht zuversichtlich sei. Was zugegebenermaßen etwas umständlich formuliert war. Dennoch hatte er darauf einen dicken Kuss bekommen. Er hatte mit ihr vereinbart, dass er zunächst Dobras Mörder finden wolle, unmittelbar danach würde er eine Entscheidung treffen. Mit einem zweiten Kuss hatte sie den Deal besiegelt. Wobei er versprechen musste, sich mit der Mördersuche zu beeilen. Nun ja, das hatte er sowieso vor.
In Lana angekommen, fand er im Ortsteil Gries recht schnell das Mietshaus, wo Dobras ehemaliger Kollege Tscharli Niederhofer wohnte. Er klingelte. Erst kurz, dann länger, schließlich Sturm. Weil keiner aufmachte, wollte er schon kehrtmachen, da öffnete sich im ersten Stock ein Fenster, und ein verstrubbelter Männerkopf tauchte auf.
«Sind Sie der Wahnsinnige, der bei mir wie ein Idiot läutet?»
Emilio schoss durch den Kopf, dass dies gleich zwei Beleidigungen in einem kurzen Satz waren. Kein guter Auftakt.
«Tut mir leid, wenn ich Sie gestört habe», bemühte sich Emilio dennoch um Schadensbegrenzung. «Mein Name ist Ritzfeld, und ich würde gerne mit Ihnen sprechen. Ist wichtig. Darf ich raufkommen?»
«Sind Sie von den Zeugen Jehovas? Oder worüber wollen Sie mit mir sprechen?»
«Über Dobra Novak.»
«Also von der Presse … Dann schauen Sie, dass Sie weiterkommen.»
Von der Presse? Wie kam Tscharli auf diese Idee? Oder hatte er heute Morgen den Artikel in der Zeitung gelesen? Das wäre eine plausible Erklärung.
«Ich arbeite als Sonderermittler für die Quästur in Bozen», rief er hinauf. Das war zwar etwas dick aufgetragen, aber er musste verhindern, dass Tscharli das Fenster wieder zuschlug. «Deshalb lassen Sie mich bitte rein. Muss ja nicht jeder hören, was ich mit Ihnen besprechen möchte.»
«Ein Sonderermittler? In Südtirol? Was es nicht alles gibt. Ich hoffe, Sie können sich ausweisen.»
«Natürlich. Jetzt machen Sie schon endlich auf.»
Der Kopf verschwand. Wenig später summte der Türöffner.
Oben angekommen, wurde Emilio von einem etwa vierzigjährigen Mann empfangen, der wider Erwarten einen durchaus gepflegten und geordneten Eindruck machte, nur hatte er sich noch nicht gekämmt. Tscharli sah ihn zwar noch immer misstrauisch an, aber das war ihm nicht zu verdenken. Emilio zeigte ihm das Schreiben der Polizia di Stato, Questura Bolzano, das ihn als Fallanalytiker auswies.
«Baron von Ritzfeld-Hechenstein?», las Tscharli. «Warum arbeiten Sie für die Polizei und sitzen nicht auf Ihrer Burg?»
Emilio hatte keine Lust, darauf einzugehen. Stattdessen deutete er auf den Esstisch mit der aufgeschlagenen Tageszeitung.
«Jetzt verstehe ich Ihre Reaktion am Fenster», sagte er. «Sie haben gerade die Meldung mit Dobras Namen gelesen, richtig?»
Tscharli nickte. «Scheiße, ja, das habe ich. Ein ganz schöner Schock. Ich konnte ja nicht ahnen …» Er schluckte.
War die Betroffenheit gespielt oder echt?
«Was konnten Sie nicht ahnen?»
«Dass die Dobra tot ist. Wie schrecklich.»
«Sie kannten sie gut?»
Tscharli zögerte mit der Antwort. Schließlich schüttelte er langsam den Kopf.
«Nicht wirklich. Sie müssen wissen, Dobra hat nicht viel von sich preisgegeben.»
Emilio überlegte, ob man jemanden gut kennen und gleichzeitig nicht viel von ihm wissen konnte. Doch, das war möglich. Er musste seine Frage präzisieren.
«Wie sind Sie eigentlich auf mich gekommen?», kam ihm Tscharli zuvor.
«Ich habe Ihren Namen von der Katja Lingnauer», antwortete er. Schon im nächsten Moment ärgerte er sich, dass er ihren Namen preisgegeben hatte. Seine Quelle ging Tscharli nichts an.
«Ach, die gute Katja. Auch so ein nettes Madl. Geht’s ihr gut? Hab sie schon länger nicht mehr gesehen.»
«Ja, ich denke, ihr geht’s gut. Sie arbeitet immer noch im Sternenschein. Sie ja nicht mehr. Darf ich fragen, was Sie heute machen?»
«Ich bin Storemanager einer Modeboutique in Meran. Unter den Lauben. Gefällt mir besser, als im Service eines Restaurants zu arbeiten.»
«Kann ich verstehen. Um auf Dobra zurückzukommen … Bitte verzeihen Sie mir meine direkte Frage, aber hatten Sie mit ihr ein Verhältnis?»
Tscharli sah ihn fassungslos an. Seine Augenlider flatterten.
«Ist nicht Ihr Ernst, Sie fragen mich wirklich …», stotterte er.
«Ganz genau, ich frage Sie wirklich, ob Sie mit Dobra intim waren.»
«Ich glaube nicht, dass Sie das etwas angeht», erwiderte Tscharli, der sich jetzt wieder im Griff hatte. «Aber ich sag’s Ihnen trotzdem: Nein, wir hatten kein Verhältnis. Wie gesagt, so gut kannten wir uns nicht.»
Emilio sah ihn konzentriert an. So wie das ein professioneller Fallanalytiker wahrscheinlich machen würde. Die Methode hatte was. Tscharli war definitiv verunsichert – ob er gerade aber gelogen hatte, ließ sich auf diese Weise nicht herausfinden.
«Wie war das damals? Hat sich Dobra vor ihrem Verschwinden von Ihnen verabschiedet?»
«Vor ihrem Verschwinden? Sie meinen wohl vor ihrer Ermordung?»
«Ist ja nicht gesagt, dass sie gleich ermordet wurde. Vielleicht hatte sie erst einige schöne Tage …»
«Oder weniger schöne. Aber um Ihre Frage zu beantworten: Sie hat sich damals nicht von mir verabschiedet.»
«Das kam Ihnen nicht verdächtig vor?»
Tscharli runzelte die Stirn. «Verdächtig? Nein, warum sollte sich Dobra von mir verabschieden? Später habe ich gehört, dass sie überstürzt zurück nach Kroatien musste. Na ja, über ein Servus hätte ich mich damals schon gefreut. Aber ich dachte, sie will halt von mir nichts mehr wissen.» Er zuckte mit den Schultern. «Wie gesagt, wir hatten nichts miteinander, also stand es ihr frei, einfach zu gehen.»
Auch sonst, dachte Emilio, hätte es ihr freigestanden. Ganz schlau wurde er aus diesem Tscharli nicht. Klang alles plausibel, was er so sagte. Und doch fand er es irgendwie nicht stimmig. Ohne sagen zu können, was ihn konkret störte.
«In der Zeitung steht, dass sie in einem Bunker gefunden wurde. Stimmt das?»
«Ja, in einem Bunker aus dem Zweiten Weltkrieg im Vinschgau. Gibt viele dort. Waren Sie schon mal in einem?»
«Aber nein. Warum fragen Sie?»
«Warum wohl?»
Tscharli riss die Augen auf. «Das meinen Sie doch nicht wirklich? Warum sollte ausgerechnet ich die Dobra umbringen?»
«Sagen Sie es mir?»
Tscharli schlug mit der Faust auf den Tisch. «Iatz longs mr aber», ereiferte er sich. «Ich habe der Dobra kein Haar gekrümmt. Und ich bin wirklich geschockt, dass sie tot ist. Jetzt möchte ich Sie bitten, zu gehen.»
«Alles gut», sagte Emilio mit ruhiger Stimme. «Tut mir leid, aber ich muss solche Fragen stellen. Dann mal andersherum: Kennen Sie jemanden von damals, der vielleicht ein Motiv hätte haben können?»
Tscharli schüttelte energisch den Kopf. «Da fällt mir ganz bestimmt niemand ein. Die Dobra war bei allen sehr beliebt.»
Emilio gab ihm seine Visitenkarte. «Falls Ihnen doch noch ein Gedanke kommt, rufen Sie mich bitte an. Ach so, haben Sie mal einen kroatischen Bekannten von Dobra kennengelernt, der irgendwo hier auf einem Weingut gearbeitet hat?»
«Nein, ich kann mich nicht erinnern, dass sie jemals einen Bekannten aus Kroatien erwähnt hat. Aber ist ja alles viele Jahre her. Mit Bestimmtheit kann ich das heute nicht mehr sagen.»
«Mir wurde noch eine gewisse Laura genannt, mit der sich Dobra häufig zum Joggen getroffen hat. Kannten Sie diese Laura?»
Kam es ihm nur so vor – oder flatterten bei Tscharli wieder die Augenlider? Aber nur ganz kurz. Vielleicht hatte er sich auch getäuscht. An seinen Fähigkeiten als Profiler musste er noch arbeiten.
«Laura, Laura … Nein, nie von ihr gehört. Beim Joggen, sagen Sie? Stimmt, Dobra lief oft in der Früh eine Runde. Aber eine Laura? Sorry, nein.»
Emilio reichte ihm die Hand, um sich zu verabschieden.
«Das war’s schon. Ich hoffe, Sie verzeihen mir meinen Überfall und meine direkten Fragen. Aber es ist ja sicherlich auch in Ihrem Sinne, dass wir herausfinden, wer Dobra getötet hat.»
«Natürlich ist das in meinem Sinne. Finden Sie das Schwein!»
Würde er das auch sagen, überlegte Emilio, wenn er selber das Schwein war? Natürlich würde er das!