Von Tscharli war es nicht weit zum Restaurant Sternenschein. Einen Termin hatte er nicht, und eigentlich war es noch zu früh. Dennoch hoffte er, entweder Katja oder Lorenz Holzer anzutreffen. Er hatte Glück, der Wirt war schon da – und zudem entschieden besser gelaunt als bei Emilios erstem Besuch. Was Katjas Aussage bestätigte, dass der Holzer nicht so ein Ekel war, wie man auf den ersten Blick glauben könnte. Er bot Emilio sogar einen Cappuccino an. Katja käme erst in einigen Minuten, sagte er. Emilio war es recht, von ihr hatte er schon viel erfahren, von Holzer hingegen fast nichts. Okay, er durfte nicht undankbar sein, immerhin hatte der Wirt seine wichtigste Frage beantwortet und ihm verraten, dass die Tote Dobra Novak hieß.
«Ich war gerade bei Tscharli Niederhofer», sagte Emilio. «Der hat ja auch mal bei Ihnen gearbeitet, richtig?»
«Der Tscharli? Freilich hat er bei mir gearbeitet. Aber war ihm wohl zu anstrengend, dem Hallodri. Heute verkauft er Klamotten. Na ja, wer’s mag.»
«Wie gut hat er die Dobra gekannt?»
Holzer zog eine Grimasse. «Weiß ich nicht. Ich halte mich aus dem Privatleben meiner Angestellten raus. Sollen sie in ihrer Freizeit machen, was sie wollen. Geht mich nichts an. Wegen mir können sie auch miteinander schnacksln. Hauptsache, sie erscheinen pünktlich zur Arbeit.»
«Schnacksln?»
«Sie wissen schon, was das heißt?» Holzer machte eine eindeutige Handbewegung.
Hätte er sich sparen können, dachte Emilio. Denn natürlich wusste er, was gemeint war. Er hatte sich nur gewundert, dass der Holzer von sich aus darauf kam.
«Glauben Sie also, dass der Tscharli mit der Dobra …»
«Ich glaub gar nichts, hab ich doch gesagt. Aber selbst wenn, hätt’s mich nicht interessiert.»
«Vorausgesetzt, Sie hatten nicht selber ein Auge auf Dobra geworfen», wagte Emilio anzudeuten.
Der Wirt bekam prompt einen roten Kopf. Das ging bei ihm ganz schnell.
«Wie können Sie mir so was unterstellen?», brauste er auf. «Bedienungen sind für mich tabu. Und so fesch war die Tschuschn nun auch wieder nicht.»
Es war immer wieder interessant, stellte Emilio fest, was eine kleine Provokation so alles ans Tageslicht brachte. Zum Beispiel eine abfällige Gesinnung gegenüber südosteuropäischen Ausländern. Und eine veritable Lüge hinsichtlich ihres Aussehens, denn «fesch» war Dobra ganz sicher gewesen. Sehr sogar.
«Pardon, aber ich muss alle Möglichkeiten in Betracht ziehen. Sie verstehen?»
«Meinetwegen, aber zügeln Sie Ihre Phantasie.»
Emilio lächelte. Bei seiner Arbeit war es im Gegenteil ganz wichtig, der Phantasie freien Lauf zu lassen. Nur so kam man der Wahrheit nahe.
«Eine ganz andere Frage: Können Sie sich erinnern, wie Dobra zum Job bei Ihnen gekommen ist? Hat sie vielleicht auf eine Stellenanzeige geantwortet?»
«Stellenanzeige? Nein, das braucht’s bei uns nicht. Wenn ich jemanden suche, spricht sich das rum. Das geht ganz schnell. So war’s auch bei der Dobra. Die hat sich auf Vermittlung vom Felix bei mir vorgestellt.»
«Felix?»
«Ja, der Felix Leitstaller, mein damaliger Sommelier und Chef de service.»
Emilio musste schmunzeln. Zwei etwas hochtrabende Bezeichnungen für Tätigkeiten in einem nicht ganz so hochtrabenden Restaurant. Aber egal, schon wieder hatte er einen Namen. Felix Leitstaller! Die Liste wurde immer länger.
«Dieser Felix und Dobra – wie gut kannten die beiden sich?»
Holzer schüttelte missbilligend den Kopf.
«Sie denken wohl immer nur an das eine. Erst der Tscharli, dann ich, und jetzt der Felix. Um Ihre Frage zu beantworten: Die beiden haben sich nur flüchtig gekannt, wenn überhaupt. Der Felix hatte damals gerade gekündigt und mir geholfen, den Service nach seinem Weggang personell zu verstärken. Das war hochanständig von ihm, hätte er ja nicht tun müssen.»
«Die haben also nie zusammengearbeitet?»
«Nein, der Felix war da schon weg.»
«Was macht er heute?»
Holzer lachte. Seine Anspannung war wie verflogen.
«Er führt ein gutes Leben, der Felix. Recht hat er.»
Das war nun nicht genau die Antwort auf seine Frage, dachte Emilio. Aber immerhin war Holzer wieder in der Spur.
«Geht’s etwas genauer?»
«Der Felix ist heute Chef des Weingutes Frattini.»
«Ganz schöner Karrieresprung.»
«Ja, und mit der Tochter der Inhaberfamilie ist er auch verheiratet. Der Felix hat’s richtig gemacht. Aber er hat’s auch verdient.»
Emilio dachte, dass er seinen Namen von der Liste gleich wieder streichen konnte. Wenn Felix die Dobra kaum bis gar nicht gekannt hatte, würde er ihm nicht weiterhelfen können. Dennoch gab es einen Grund, ihn aufzusuchen. Zugegeben, keinen ermittlungstechnischen. Aber das Weingut Frattini hatte ihn schon immer interessiert. Er mochte die Weine, vor allem den herausragenden Cabernet, der in der letzten Zeit viele Auszeichnungen erhalten hatte. Folglich ließ sich das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden. Er würde dem Felix Leitstaller bei nächster Gelegenheit einen Besuch abstatten, nahm er sich vor, ihm einige Fragen zu Dobra stellen – und vor allem den Cabernet verkosten.
«Herr Holzer, ich danke Ihnen», sagte Emilio. «Grüßen Sie die Katja von mir. Aber jetzt muss ich weiter.»
Lorenz Holzer schien nichts dagegen zu haben, dass er Leine zog. Als «Fallanalytiker», dachte Emilio, machte man sich offenbar keine Freunde. Zumindest dann nicht, wenn man dumme Fragen stellte – und mochten sie noch so gescheit sein.