In Meran war Emilio mit seinem Freund Bastian Steingruber verabredet. Der hatte dort zu tun gehabt und wollte Emilio nach Mals im Vinschgau begleiten. Ihn trieb die Sorge um seinen in Amphoren gelagerten Lagrein um. Auch könnte er bei dieser Gelegenheit mit dem Apfelbauern Mayr über die Fortsetzung des Pachtvertrages sprechen oder über die vorzeitige Kündigung aufgrund unvorhergesehener Ereignisse. Wozu er definitiv den Fund einer Leiche zählte.
Emilio nahm es hin, dass Bastian seinen Landrover als Fortbewegungsmittel ablehnte. Stattdessen ließ er sich von seinem Freund in einem SUV chauffieren, der vier Auspuffrohre und einen Sechszylinder unter der Haube hatte. Das war ihm so was von egal. Aber die Ledersitze waren bequem, das musste er zugeben. Und besser überholen ließ sich mit diesem Fahrzeug auch. Was kein Kunststück war, denn Überholmanöver waren mit Emilios altem Landrover nur in seltenen Ausnahmefällen möglich. Und selbst dann mit schwer kalkulierbaren Risiken verbunden.
In Naturns fiel ihm zu spät ein, beim Schmuckatelier Teutsch reinzuschauen. Da waren sie schon vorbei. Nicht so schlimm, denn er hatte ohnehin nur einen Höflichkeitsbesuch geplant.
Kurz nach Schlanders bekam er einen Anruf, auf den er dringend gewartet hatte. Mariella aus Commissario Sandrinis Vorzimmer war dran. Sie hatte die Akte zum tödlichen Unfall von Gustl Mayrs Frau herausgesucht. Deren Vorname war Angie – doch Mariella wusste noch weitaus Interessanteres zu berichten.
«Jetzt halten Sie sich fest», sagte sie.
«Nicht nötig. Bin angeschnallt.»
«Sie hatten recht. Der Unfall passierte exakt am Tag von Dobras Verschwinden. Das kann kein Zufall sein.»
Emilio sah starr auf die Straße. Er hatte es geahnt.
«Kann schon sein», konstatierte er, «aber die Wahrscheinlichkeit eines Zufalls geht gegen null.»
«Im Bericht steht, die Unfallursache sei unklar. Ein technischer Defekt könne nicht ausgeschlossen werden. Jedenfalls habe die Fahrerin beim Bergabfahren die Kontrolle über das Fahrzeug verloren und einen Baum gestreift. Anschließend sei das Fahrzeug über einen Abhang gestürzt und habe sich dabei mehrfach überschlagen.»
«Ein technischer Defekt?»
«Konnte nicht eindeutig nachgewiesen werden. In der Akte sind mehrere Fotos und zwei Gutachten. Vielleicht sei was mit den Bremsen gewesen, womöglich habe sich aber auch ein Rad gelöst.»
«Ziemlich unbefriedigend.»
«Finde ich auch. Aber es gibt noch was …»
«Ich sitze weiterhin.»
«Die Unfallstelle liegt direkt unterhalb des Bunkers, in dem Sie die Leiche gefunden haben.»
Emilio schloss kurz die Augen. Wie konnte das sein? Welche Tragödie hatte sich damals abgespielt?
«Baron, sind Sie noch da?», fragte Mariella. «Oder sind Sie sprachlos? Dann geht es Ihnen wie mir.»
Mariella und sprachlos? Das hatte er noch nie erlebt. Aber in seinem Fall stimmte es sogar. Ihm hatte es die Sprache verschlagen. Zwar hatte er die Möglichkeit eines Zusammenhangs in Betracht gezogen. Aber so unmittelbar? Nein, das hatte er nicht erwartet.
«Mariella, ich bin tatsächlich überrascht», gab er zu. «Ich bin gerade unterwegs nach Mals. Können Sie mir bitte ein Foto oder eine Lageskizze von der Stelle mailen, wo sich der Unfall ereignet hat? Dann kann ich mich dort gleich umschauen.»
«Sie werden nichts finden.»
«Nein, natürlich nicht. Höchstens die Wahrheit.»
«Die Wahrheit? Ja, das wäre gut. Die arme Angie … Wahrscheinlich war es kein Unfall. Was meinen Sie?»
«Ein Unfall war es vielleicht schon, aber ein vorsätzlich herbeigeführter. Die Koinzidenz der Ereignisse …»
«Welche Inkontinenz?»
Mariella vermochte es, ihn zu erheitern. Selbst in Momenten wie diesem.
«Will sagen, die Gleichzeitigkeit der Ereignisse spricht für ein Fremdverschulden.»
«Vielleicht hat die Angie den Bunkermörder gesehen und musste deshalb sterben», spekulierte sie.
Das war zwar die Logik billiger Groschenromane, die Mariella, wie Emilio wusste, gerne las. Aber deshalb war sie nicht falsch. Auch er war zu dieser Schlussfolgerung gelangt. Sie lag so sehr auf der Hand, dass sie … auch falsch sein konnte.
«Möglich, aber denkbar wäre auch, dass Angie die Täterin war», beteiligte er sie an seinen Überlegungen. «Vielleicht war sie es, die Dobra eingemauert hat …»
«O Gott, warum sollte sie?»
«Aus Eifersucht zum Beispiel. Ein Motiv gibt es immer. Danach wollte sie so schnell wie möglich weg. Dann ist es passiert.»
«Dann wäre es ja doch ein Unfall gewesen.»
«Mariella, das werden wir herausfinden. Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe.»
«Immer gerne, mein lieber Baron. Wir beide sind doch ein gutes Team.»
«Ja, das sind wir wirklich. Übrigens …»
Sie lachte. «Übrigens? Ich weiß, was Sie sagen wollen. Nein, dem Commissario verrate ich vorläufig nichts.»
«Wir verstehen uns ohne Worte.»
Natürlich wollte Bastian wissen, worüber er gerade am Telefon gesprochen hatte. Aus Emilios Äußerungen hatte er sich vieles zusammengereimt, aber eben doch nicht alles verstanden, was seine Neugier noch steigerte. In knappen Worten setzte ihn Emilio ins Bild. Es gab keinen Grund, ihm die Informationen vorzuenthalten. Er verlangte allerdings von Bastian, dass er versprach, alles für sich zu behalten. Auch und vor allem gegenüber den Mayrs. Bastian nickte und bekräftigte das Versprechen. Fast übergangslos ging sein Nicken in ein Kopfschütteln über. Weil er einfach nicht glauben konnte, wie viel Gewalt es gab – sogar in dem wunderschönen und so friedlichen Südtirol. Emilio argumentierte, dass die Gewalt zur Menschheitsgeschichte gehörte. Schon die Neandertaler und der Homo sapiens hätten sich gegenseitig die Schädel eingeschlagen. Und was das angeblich so friedliche Südtirol betraf – durch seine Arbeit als Privatdetektiv war er längst vom Gegenteil überzeugt. Außerdem habe Südtirol mit dem Ötzi ein fünftausend Jahre altes Gewaltopfer zu bieten: Der arme Kerl war einem Pfeilschuss erlegen. Übrigens in den Rücken: Was zudem bewies, dass auch die Hinterhältigkeit eine lange Tradition habe.
Bastian fielen keine Gegenargumente ein. Entsetzt war er trotzdem. Dann habe es ja an diesem schicksalhaften Tag vor sieben Jahren gleich zwei Morde gegeben, schlussfolgerte er. Zunächst sei Gustl Mayrs Frau Angie umgebracht worden. Dann die arme Dobra im Bunker.
«Umgekehrt», korrigierte ihn Emilio. «Wenn schon, dann in umgekehrter Reihenfolge. Aber wie gesagt – auch die Angie kommt als Täterin in Betracht. Dann wäre ihr Tod doch ein Unfall gewesen.»
«Das kann ich mir erstens überhaupt nicht vorstellen, und zweitens hätten wir dann trotzdem zwei Tote.»
«Die haben wir definitiv», bestätigte Emilio.
«Fahren wir erst zu meinen Amphoren?», fragte Bastian. «Oder willst du gleich aufs Apfelgut?»
«Wir sind früh dran. Wir können vorher zu deinem Lagrein fahren.»
Dort angekommen, begleitete Emilio seinen Freund in den Bunker. Dabei erinnerte er sich an den Tag, an dem er mit Tilda hier gewesen war und die mumifizierte Leiche gefunden hatte. Mittlerweile hatte die Tote einen Namen. Dobra Novak hieß sie. Und eine Frage unter vielen war, ob sie freiwillig mit ihrem Mörder oder ihrer Mörderin mitgegangen war. Unter irgendeinem Vorwand. Für ein romantisches Schäferstündchen kam der Betonbunker wohl eher nicht in Frage.
Während Bastian seine Amphoren kontrollierte und einige Proben entnahm, lief Emilio nach hinten – dorthin, wo sie die Mauer aufgeschlagen hatten. Tilda hatte ihn dazu animiert, weil ihr der Putz aufgefallen war. Ohne sie hätte er die Leiche nie gefunden. Und es hätte keinen Mordfall gegeben. Nach dem Täter würde niemand suchen. Und Dobras Tod wäre auf ewig ungesühnt geblieben. Er leuchtete in die aufgebrochene Kammer. Am Boden waren mit Kreide die Umrisse ihres Körpers markiert. Sonst deutete nichts darauf hin, dass hier ein Menschenleben auf tragische Weise sein Ende gefunden hatte.
Emilio blieb eine Weile stehen und dachte nach. Schließlich lief er zurück in den großen Raum mit den Amphoren.
«Na, wie geht’s deinem Lagrein?», fragte er. «Hat er alles gut überstanden?»
Bastian reichte ihm ein Glas. «Probier selbst. Ich finde, er hat nicht nur keinen Schaden genommen, sondern sich prächtig entwickelt. In der Nase Holunderbeeren; die waren vorher nicht da.»
«Ja, außerdem Veilchen und Schokolade. Am Gaumen mit weichen Tanninen. Doch, der Lagrein macht sich.»
«Mir fällt ein Stein vom Herzen. Hab schon gedacht, ich muss ihn wegschütten.»
«Wäre schade um ihn. Aber du musst ihm noch ein bisschen Zeit geben.»
«Hast recht. Zeit braucht er noch. Dann sollte ich den Pachtvertrag also doch nicht kündigen, oder?»
Emilio klopfte seinem Freund aufmunternd auf die Schulter.
«Die Entscheidung kann ich dir nicht abnehmen. Aber es spricht einiges dafür. Andere Frage: Soll ich dir die Kammer zeigen, wo wir Dobras Leiche gefunden haben?»
Bastian schüttelte sich. «Bitte nicht. Ich strenge mich wirklich an, nicht daran zu denken. Du kennst ja meine Philosophie: Atmosphärische Störungen sind nicht gut für den Wein, übrigens auch nicht für den Menschen.»
Da hatte er recht, dachte Emilio. Was nicht bedeutete, dass man immer bester Laune sein musste. Er selbst war dazu nicht in der Lage und fühlte sich ausgezeichnet dabei.
«Gut, dann gehen wir raus. Vergiss nicht abzusperren.»
«Worauf du dich verlassen kannst. Hier kommt keiner mehr rein oder raus. Mein Lagrein kann sich wohlbehütet fühlen und in aller Ruhe vor sich hin meditieren.»
Ein Wein, der meditierte? Es fehlte nicht viel, und Bastian glaubte noch daran, dass sein Wein Atemübungen machte und dabei auf einem Bein balancierte. Nun ja, das mit den Atemübungen könnte sogar stimmen.
Draußen angekommen, öffnete Emilio auf seinem Smartphone die Lageskizze und die Fotos vom Unfall.
Er deutete ins Tal. «Da unten, kurz vor der Bundesstraße, muss es passiert sein.»
Tatsächlich hatten sie von hier einen perfekten Überblick. Was nicht überraschend war, denn die Bunker des Alpenwalls lagen fast ausnahmslos an exponierten Stellen, von denen man ein weites Schussfeld hatte.
«Meinst du, sie kam vom Bunker?»
«Könnte sein. Aber im Protokoll steht, dass sie von ihrem Obstgarten kam. Der muss irgendwo weiter rechts sein. Dann sei sie unten in unsere Straße eingebogen und habe kurz vor der quer verlaufenden Bundesstraße die Kontrolle über ihr Auto verloren, den Baum gestreift und sich anschließend überschlagen.»
«Das mit dem Obstgarten muss aber nicht stimmen», überlegte Bastian laut. «Oder hat sie jemand dort gesehen?»
«Nein, niemand. Es gab keine Zeugen.»
«Also kann sie auch beim Bunker gewesen sein. Aber warum?»
«Ein Grund wäre, dass sie die Dobra niedergeschlagen und eingemauert hat», antwortete Emilio.
«Die Frau vom Gustl Mayr soll so was gemacht haben? Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Eine Frau macht so was nicht.»
Emilio dachte, dass sein Freund keine Ahnung hatte, wozu Frauen fähig waren.
«Eine andere Erklärung wäre, dass sie von ihrem Obstgarten oder auf der Fahrt dorthin irgendwas am Bunker beobachtet hat. Dann ist sie zu ihm hingefahren, um nachzusehen. Dort ist sie dann auf Dobras Mörder gestoßen …»
Bastian nickte. «Das kann ich mir viel eher vorstellen.»
«Zur falschen Zeit am falschen Ort. Das ist das Schicksal vieler Opfer.»
«Du meinst, der Mörder hat sie umgebracht, weil sie Zeugin seines ersten Verbrechens war?»
Emilio zuckte mit den Schultern. «Plausibel wäre es. Aber deshalb muss es nicht so gewesen sein. Bleibt ja immer noch die Option, dass sie einfach die Kontrolle über ihr Auto verloren hat.»
«Weil sie von ihm abgehauen und zu schnell gefahren ist?»
Emilio lächelte. «Du machst Fortschritte. Denn auch das wäre möglich. Ist alles nur eine Frage der Phantasie. Jetzt muss ich nur noch herausfinden, was wirklich passiert ist. Komm, lass uns zu den Mayrs fahren. Du kannst mit ihnen über deinen Pachtvertrag reden, und ich kann mich mit einigen Fragen noch unbeliebter machen, als ich es sowieso schon bin.»