Das Klima war frostig. Womit Emilio gerechnet hatte. Bastian war von den beiden Mayrs noch zuvorkommend begrüßt worden. Schließlich zahlte er Pacht für ihren Bunker und kam immer noch als Käufer in Betracht. Mit ihm wollte man es sich nicht verderben. Aber als Emilio seine ersten Fragen stellten, sank das Stimmungsbarometer so schnell wie bei einem arktischen Wintereinbruch. Dabei hielt er sich anfangs noch zurück. Er verkniff sich zu fragen, ob Gustl Mayrs verstorbene Frau Angie Grund zur Eifersucht gehabt hatte. Zum Beispiel, weil er mit einer hübschen Kroatin ein Verhältnis hatte. Auch verschonte er seinen dummdreisten Sohn Ludwig, indem er ihm nicht unterstellte, seinem Vater die Dobra ausgespannt zu haben. Dass einer von beiden gar für Angies Tod verantwortlich sein könnte, brachte er ebenfalls nicht zur Sprache. Wobei er sich sogar dieses Szenario vorstellen konnte. Weil er im Prinzip eben alles für möglich hielt – bis zum Beweis des Gegenteils.
Zum Auftakt zeigte er den beiden das Foto von Dobra. Er hatte ihr Porträt vergrößert. Katja war darauf nicht zu sehen, nur die lachende Dobra.
Er versuchte, in ihren Gesichtern zu lesen. Unterschieden sich ihre Reaktionen? Waren sie betroffen?
«Schaug nett aus, des Madl», sagte der alte Mayr.
Emilio fiel es schwer, sich vorzustellen, dass der knorrige Senior etwas mit der bezaubernden Dobra gehabt haben könnte. Vor allem umgekehrt war die Idee geradezu haarsträubend.
«Warum zeigen Sie uns überhaupt ihr Foto?», kritisierte Ludwig, der gewohnt aggressiv reagierte. «Ist doch egal, ob sie schön oder schiach war. Sie lebt nicht mehr. Und wir haben mit ihrem Tod nichts zu tun.»
«Könnte ja zum Beispiel sein, dass Sie die Tote kannten. Wäre doch möglich.»
«Möglich ist vieles, auch dass uns gleich ein Komet auf den Kopf fällt …»
Emilio hatte seinen Gehstock dabei. Schon wieder verspürte er bei Ludwig den Drang, den Degen rauszuziehen und ihn aufzuspießen. Mit den Worten, dass er auf den Kometen nicht länger warten müsse.
«Beantworten Sie mir doch bitte schlicht und einfach meine Frage, ob Sie diese Dobra Novak gekannt haben. Sie oder Ihr Vater.» Emilio schaffte es, völlig ruhig und geradezu zuvorkommend zu reagieren.
«Naa, gonz sicher nitt», antwortete der Vater.
Der Junior runzelte die Stirn. «Sagen wir mal so: Ich genieße das Leben …»
«Sell isch jo grod des Problem», grummelte der Alte.
Ludwig warf ihm einen finsteren Blick zu.
«Und weil ich das Leben genieße, kenne ich viele Frauen. Doch an diese Dobra kann ich mich nicht erinnern. Wäre aber möglich, dass sie auf irgendeiner Party dabei war. Ich kann mir ja nicht jede Schlomp merken.»
Nach allem, was Emilio wusste, war Dobra keine Schlampe gewesen. Schon wieder ein Grund, den Degen rauszuzie hen.
Stattdessen holte er Dobras Fußkettchen aus der Tasche und ließ es an zwei Fingern vor Ludwigs Nase baumeln.
«Schon mal gesehen?»
«Sollte ich? Nein, da muss ich Sie schon wieder enttäuschen. Für Schmuck interessiere ich mich bei Frauen nicht, höchstens für Intimpiercings.» Er grinste schief. «Aber das schaut anders aus.»
«Was ist mit Ihnen?», wandte sich Emilio an den Vater.
«Na, kenn i nitt. Longs iatz?»
«Noch nicht ganz. Kennen Sie einen Tscharli Niederhofer aus Lana?»
«Den Tscharli? Ja, den kenn ich», antwortete Ludwig. «Der hat früher oft mit uns gefeiert.»
«Auch im Bunker?»
«Kann sein. Ja, ich denke schon.»
Emilio erinnerte sich, dass Tscharli nach dem Bunker in der Zeitung gefragt hatte. Um gleichzeitig zu behaupten, nie in einem gewesen zu sein. Wie es aussah, hatte er gelogen.
«Wie kommen Sie auf den Tscharli?», wollte Ludwig wissen. «Hatte der was mit dieser Dobra?»
«Weiß ich nicht, aber er kannte sie, so viel steht fest. Hat aber nichts zu besagen.»
Die ganze Zeit über wohnte Bastian ihrem Gespräch bei. Emilio hätte ihn auch höflich rausschicken können, aber er wusste sowieso schon das meiste, also konnte er auch dabei bleiben.
«Den Tscharli Niederhofer kenne ich auch», sagte er nun. «Der hat mal in meinem Weinkeller gejobbt, bevor er in die Modebranche gewechselt ist.»
Ludwig lachte schallend. «Modebranche? Das ist witzig. Der Tscharli führt eine winzige Boutique in Meran, wo er fußlahmen Touristen Billigklamotten aus Asien als Südtiroler Handarbeit andreht.»
«Interessantes Geschäftsmodell», stellte Emilio fest.
«Ich hab ihn aber als netten Typen in Erinnerung», sagte Bastian.
«Das ist er ja auch. Sonst hätte ich ihn nicht zu meinen Partys eingeladen.»
«Kann es sein, dass auch Ihre Mutter diesen Tscharli kannte?»
Emilio wusste selber nicht, warum er diese Frage stellte. Mittlerweile kreisten so viele Ideen in seinem Kopf herum, dass er sie kaum mehr auseinanderhalten konnte.
«Was ist denn das schon wieder für ein Schmarrn? Warum soll meine Mutter den Tscharli gekannt haben? Als Nächstes fragen Sie mich, ob ich in Wahrheit schwul bin und mit dem Tscharli eine Affäre habe.»
Emilio zog eine Augenbraue nach oben. «Warum nicht? Haben Sie?»
«Lecken Sie mich doch am Arsch!»
Weil es jetzt schon egal war, beschloss Emilio, noch eine letzte Frage zu stellen. Danach würden ihn die Mayrs rauswerfen.
«Wo waren Sie an dem Tag, als Ihre Ehefrau beziehungsweise Mutter verunglückt ist?», wollte er von den beiden wissen.
Gustl Mayr bekam Zornesfalten.
«Kümmern Sie sich meinetwegen um die Leiche im Bunker, aber meine Angie geht Sie nichts an», zischte er. «Verstanden?»
Emilio dachte, dass das keine Antwort auf seine Frage war. Dabei hatte er sich nicht einmal explizit nach einem Alibi erkundigt. Da wäre ihm der alte Mayr wahrscheinlich an die Gurgel gegangen. Nun könnte er ihm zwar erklären, dass er mit einem nachprüfbaren Alibi auch nicht als Dobras Mörder in Frage kam. Was er nicht sofort verstehen würde, weil er nicht wusste, dass der Mord an Dobra und Angies Unfall mutmaßlich am selben Tag erfolgt waren. Und wenn er es doch wissen sollte? Emilio war sich darüber im Klaren, dass er das heute nicht mehr herausfinden würde.
Noch stand die Antwort vom jungen Mayr aus. Emilio rechnete mit einer noch heftigeren Reaktion.
Und seine Erwartungen wurden nicht enttäuscht.
«Wo ich war, geht Sie einen Scheißdreck an!», brüllte Ludwig. «Und iatz schaun S’, dass Sie weitr kemmen! Und sell glei!»