Gegenüber Phina behauptete Emilio, noch einen Termin zu haben. Das war nicht einmal geschwindelt. Nur nahm sie wie selbstverständlich an, dass sein abendlicher «Termin» etwas mit seinem aktuellen Fall zu tun hatte. Vor allem, weil er ihr im gleichen Atemzug ausführlich vom zurückliegenden Tag und seinen Ermittlungen berichtet hatte. Von seinen Gesprächen mit Tscharli Niederhofer in Lana und Lorenz Holzer im Sternenschein. Von der Fahrt mit Bastian nach Mals. Von der vielversprechenden Probe seines im Bunker gelagerten Lagrein. Anschließend habe es ein kontroverses Gespräch mit den beiden Mayrs gegeben. Dann ein verspätetes, aber köstliches Mittagessen bei Jörg Trafoier im Kuppelrain. Nachmittags Besuch des Weinguts Frattini, um mit Felix Leitstaller sowie seiner charmanten Frau Angelika zu sprechen. Aus dem Grund, weil Felix der Dobra den Job im Sternenschein vermittelt hatte. Allerdings sei es die Angelika gewesen, die Dobra vom Yoga kannte. Nachfolgend habe er Gelegenheit gehabt, den überaus gelungenen Cabernet zu verkosten …
Da habe er ja ein straffes Programm absolviert, meinte Phina schmunzelnd. Wie immer habe er es meisterlich verstanden, das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden. Oder umgekehrt das Nützliche mit dem Angenehmen; das sei Ansichtssache. Ins Kuppelrain könne er sie demnächst auch mal einladen, schlug sie vor. Und die Leitstaller-Frattinis machten tatsächlich einen vortrefflichen Cabernet – ihr eigener sei allerdings eindeutig besser. Emilio wagte es nicht, ihr zu widersprechen. Es war ihm wichtig, dass sie ihm in den folgenden Stunden seiner Abwesenheit gewogen blieb. Denn sein «Termin» hatte es in sich.
Er verabschiedete sich mit Küsschen, winkte ihr aus dem Landrover zu und machte sich auf den Weg. Auf den Weg nach Klausen – zum Abendessen bei Tilda.
Emilios Erwartungen waren gemischt. Eigentlich sollte er sich freuen, denn Tilda verstand es, ihm schöne Stunden zu bereiten. In vielerlei Hinsicht. Das hatte sie schon häufig unter Beweis gestellt. Aber diesmal hatte er ein seltsames Gefühl. Er rechnete mit einer Überraschung. Womöglich einer unliebsamen. Für dieses Gefühl gab es keinen objektiven Grund. Aber bei ihrer Einladung waren ihm Zwischentöne aufgefallen, die ihn hatten stutzig werden lassen. Zuerst ihre angespannte Stimme auf der Voicemail. Dann die ungewöhnliche Dringlichkeit. Der kalt gestellte Champagner? Der hatte nichts zu besagen: Denn erstens trank sie den auch so, und zweitens war Champagner ein adäquater Begleiter romantischer Stunden … Drittens stieß man mit Champagner an, wenn es was zu feiern gab. Allerdings konnte sich Emilio nicht vorstellen, was das sein könnte. Außerdem stand er allen Feieranlässen skeptisch gegenüber. Genau genommen, hasste er es, sich über etwas so zu freuen, dass man sich dabei um den Hals fiel. Geburtstag hatten sie beide nicht. Und selbst Geburtstage waren kein hinreichender Grund, mit Champagner darauf anzustoßen. Höchstens aus Dankbarkeit, dass man nicht vorher verstorben war. Mit der gleichen Berechtigung könnte man jeden Tag Champagner trinken. Er kannte Menschen, die das taten.
Vor Tildas Eingangstür fiel ihm auf, dass er vergessen hatte, etwas mitzubringen. Blumen vielleicht oder eine Flasche Wein? Beides wäre langweilig und im Falle des Weins sogar deplatziert gewesen – falls er nämlich eine Flasche aus Phinas Regal genommen hätte. Dann also besser mit leeren Händen.
Zur Begrüßung bekam er von seiner Gastgeberin einen langen Kuss. Verbunden mit einer innigen Umarmung, die so körperbetont war, dass selbst ein Mönch aus dem Kloster Neustift schwach geworden wäre. Gott sei Dank war er weder ein Mönch, noch hatte er ein Keuschheitsgelübde abgelegt. Hinderlich war nur, dass er ganz aktuell mit dem Gedanken spielte, zum Paarungsverhalten der Monogamie zurückzukehren.
Tilda hatte ein hautenges Kleid an. Darunter trug sie offenbar … nichts. Nein, der Mönch hätte keine Chance.
Barfuß lief sie vor ihm die Treppe hinauf zum Atelier. Spätestens jetzt bekam er Gewissheit, dass sie auch auf den Slip verzichtet hatte. So etwas nannte man eine nonverbale Botschaft.
Tilda hielt nicht viel von Konventionen. Deshalb hatte sie fürs Essen keinen Tisch eingedeckt, sondern auf dem Boden ein großes Fell ausgebreitet. Mit Geschirr, Gläsern, Kerzen und orientalischen Kissen. Im Hintergrund spielte karibische Beachmusik. Und Räucherstäbchen verbreiteten den Duft von Sandelholz.
Emilio dachte, dass er das mit der Monogamie vielleicht noch etwas verschieben könnte.
Sein Blick fiel auf einen großen Fotoabzug, den sie an die Wand gepinnt hatte. In Schwarzweiß. Dadurch sah er künstlerischer aus. Darauf waren merkwürdige Striche zu sehen. Emilio brauchte einen Moment, bis er erkannte, was er vor sich hatte.
«Ist das ein Foto aus dem Bunker?», fragte er.
«Ja, eine Detailaufnahme einer Kachel vom Boden, auf der ich diese Kratzspuren entdeckt habe, die Dobra wohl mit ihrer Haarspange hinterlassen hat. Aber ich werde nicht schlau daraus.»
«Das hier könnte eine Sieben sein. Mit Querstrich. Der ist nur etwas verrutscht.»
«In völliger Dunkelheit bekommt man das wahrscheinlich nicht besser hin. Aber der Rest ist einfach nur konfus.»
«Abgesehen von dem Kreuz hier. Aber das macht auch keinen Sinn. Eine Sieben und ein Kreuz. Das war’s.»
«Magst du das Foto mitnehmen? Ich schenk es dir.»
«Gerne, ja.»
Tilda nahm den Abzug von der Wand und rollte ihn zusammen. Sie steckte das Foto in eine Pappröhre und lehnte sie an die Treppe, damit Emilio beim Gehen daran dachte.
«So, jetzt wenden wir uns den schönen Seiten des Lebens zu», entschied sie.
Er zog die Schuhe aus und fläzte sich aufs Fell. Aber er blieb wachsam. Denn er glaubte zu spüren, dass mehr im Busch war als ein Schäferstündchen. So gut kannte er Tilda mittlerweile.
Sie tranken den Champagner. Tilda knöpfte ihm das Hemd auf. Offenbar wurde gerade das Programm geändert. Das Essen würde warten müssen. Jedenfalls wenn es nach ihr ging.
Emilio hielt Tildas Hand fest und sah ihr lächelnd in die Augen.
«Vorher würde ich gerne wissen, was du mir sagen möchtest», bat er.
«Wie kommst du darauf, dass ich …»
Tilda schluckte. Offenbar mochte sie es nicht, wenn man ihren geplanten Ablauf störte.
«Du willst mir doch was sagen, stimmt’s? Dann raus damit. Hinterher bist du lockerer.»
«Emilio, mein Lieber, hast du vielleicht den Eindruck, ich wäre nicht locker? Lockerer geht gar nicht. Kannst dich gerne davon überzeugen.»
Sie machte Anstalten, sich das Kleid über den Kopf zu streifen. Emilio dachte, dass sie es dann geschafft hätte. Widerstand zwecklos.
«Aber ich bin nicht locker», entgegnete er. Was zwar nicht stimmte, aber er wollte die Handlungshoheit zurückgewinnen.
«Okay, mein Schatz …»
Mein Schatz? Das hatte sie noch nie zu ihm gesagt.
«Ich muss dir wirklich etwas sagen. Ich wollte nur, dass es dir richtig gut geht, wenn du es erfährst.»
Kein schlechtes Konzept, dachte Emilio. Vielleicht hätte er doch beim ursprünglichen Ablauf bleiben sollen?
Sie nahm seine Hand und legte sie auf ihren Unterleib.
«Spürst du was?», fragte sie.
Was sollte er spüren? Hatte sie Magenbeschwerden?
«Ich bin schwanger. Du wirst Vater.»
Emilio merkte, wie er blass wurde.
«Freust du dich?»
Was war das für eine Frage? Wie um Himmels willen könnte er sich freuen? Seine Annahme war immer gewesen, dass es nach ihm keine Ritzfeld-Hechensteins mehr geben würde. Das Geschlecht seiner Vorfahren sollte mit ihm aussterben.
«Komm, gib mir einen Kuss!», forderte sie ihn auf.
Zwar folgte er ihrem Wunsch. Aber so geistesabwesend hatte er noch nie geküsst.
«Ich bin total happy», sagte sie. «Wir bekommen ein Kind. Ist doch großartig.»
Emilio hatte den Eindruck, dass Tilda wirklich glücklich war. Das machte alles noch schwieriger. Oder spielte sie ihm was vor? Ein Kind passte doch gar nicht zu ihrem selbstbestimmten Leben. Wie wollte sie mit einem Baby ihren Fotoproduktionen auf der ganzen Welt nachkommen? Oder hatte sie in Zukunft vor …? Was erwartete sie von ihm …?
Tilda goss ihm Champagner nach. Unpassenderweise dachte er an Phina. Er dachte an ihren Wunschtraum, Zola zu adoptieren. Und dass sie ihn dafür brauchte. Und dass er sie nicht im Stich lassen wollte. So ein Mist, jetzt steckte er in einem veritablen Konflikt.
«Warum sagst du nichts?», fragte Tilda. «Ich habe dir gerade gesagt, dass wir ein Kind bekommen. Du solltest vor Glück weinen und mich ganz fest in deine Arme nehmen.»
Weinen? Das ja. Aber nicht vor Glück!
«Ich freu mich für dich», antwortete er. Dann nahm er sie tatsächlich in seine Arme und drückte sie. Das glaubte er ihr schuldig zu sein.
Er spürte, wie sich ihr Körper versteifte. Hatte er gerade was Falsches gesagt? Fühlte sich ganz so an.
«Emilio, du sollst dich nicht nur für mich, sondern auch für dich selbst freuen. Ist ja nicht so, als ob du mir zu einem neuen Auto gratulierst.»
Da hatte sie recht. Ein Kind war kein Auto. Das war ja gerade das Problem. Man konnte es weder zurückgeben noch am Straßenrand abstellen und dort vergessen.
«Mir fehlen die richtigen Worte», flüsterte er, «tut mir leid. Aber ich bin noch nie Vater geworden.»
Ihr Körper in seinen Armen entspannte sich wieder.
«Ist doch schön. Das wollte ich dich nämlich fragen. Unser Kind ist also dein erstes Kind. Du wirst es lieben.»
Wusste sie nicht, dass er keine Kinder mochte? Von Zola mal abgesehen; die hatte zu seinem Herzen ein Hintertürchen gefunden. Dieses Türchen wollte er nicht zuschlagen. Und sich von Phina trennen – das wollte er auch nicht. Das war ihm noch nie so bewusst geworden wie just in diesem Augenblick.
«Du willst es also bekommen?», fragte er. Wohl wissend, dass das schon wieder die falschen Worte waren. Aber warum sollte er ihr was vorspielen? Das konnte er nicht – und es machte auch keinen Sinn. Tilda wusste genau, was sie miteinander hatten: nämlich eine Affäre. Daraus abzuleiten, dass er sich über ein gemeinsames Kind freuen und ein Leben an ihrer Seite führen würde, wäre naiv. Und Tilda war vieles, aber ganz bestimmt nicht naiv.
«Ich hoffe, du bittest mich nicht, es wegzumachen», sagte sie leise.
Emilio dachte, dass er sie nicht verletzen wollte.
«Nein, ist alleine deine Entscheidung. Ich werde sie respektieren, so oder so.»
«Mit allen Konsequenzen?»
Welche Konsequenzen meinte sie? Alimente? Natürlich würde er zu seinen finanziellen Pflichten stehen. Aber tatsächlich würde er lieber einen Schwangerschaftsabbruch bezahlen. War der Gedanke unmoralisch? War er unehrenhaft? Denken durfte man vieles, aussprechen wohl weniger.
«Mach dir keine Sorgen», sagte er ausweichend.
Tilda sah ihn fragend an. Doch schien ihr klar, dass sie von ihm nicht mehr erwarten durfte. Nicht so unmittelbar nach der ‹freudigen Nachricht›.
«Willst du einen Whisky?», fragte Tilda.
Sie war tatsächlich eine Frau, die wusste, was Männer brauchten.
«Gerne. Bitte einen doppelten.»
«Ich trinke einen mit.»
«Du bist doch schwanger …»
«Ab morgen kann ich ja vernünftig sein.» Sie drohte ihm lächelnd mit dem Zeigefinger. «Und damit eines klar ist: Du machst dich jetzt nicht vom Acker. Du bleibst! Ich habe leckere asiatische Gerichte vorbereitet. Wir trinken den Champagner aus. Ein Sauvignon ist auch kaltgestellt. Der Abend ist noch lang.»
Lieber würde er bald aufbrechen, dachte Emilio. Aber daraus würde nichts werden. Er hatte sich mit einer Raubkatze eingelassen. Die würde ihm die Augen auskratzen, wenn er jetzt die Flucht antrat. Aber wenn sie glaubte, sie könne später noch mit dem Vater ihres ungeborenen Kindes schlafen, hatte sie sich getäuscht. Da konnte sie noch so aufreizend schnurren: Er würde der Versuchung widerstehen. Warum? Weil er gerade eine Entscheidung getroffen hatte – nämlich wieder monogam zu leben. Mit Phina! Zumindest versuchen wollte er es. Da wäre es ein schlechter Auftakt, mit Tilda ins Bett zu gehen. Oder sich mit ihr auf dem Fell zu wälzen. Und sei es nur ein letztes Mal, um Abschied zu nehmen.