Er konnte sich beim besten Willen nicht erinnern, wann er heimgekommen war. Nur daran, dass es verdammt spät geworden war. Später als nötig, denn Tilda hatte er bereits vor Mitternacht verlassen, das wusste er noch. Und zwar ziemlich betrunken. Natürlich hätte er nicht mehr Auto fahren dürfen. Das war ihm spätestens bewusst geworden, als er auf der Landstraße gerade noch rechtzeitig eine Polizeikontrolle entdeckte. Kurz entschlossen war er rechts auf eine Bauernwiese abgebogen und ohne Licht ins Gelände geholpert. Mit seinem Landrover ging das. Irgendwann war er dennoch hängen geblieben. Er hatte den Motor abgestellt – und war hinter dem Steuer eingeschlafen. Als er irgendwann wieder zur Besinnung kam, musste er sich erst orientieren. Dann schaffte er es, sich und sein Gefährt mit einigen Mühen und unter Zuhilfenahme diverser Geländeschaltungen aus der misslichen Lage zu befreien und den Landy zurück auf die Straße zu lenken. Die Polizeikontrolle war weg. Ohne Zwischenfälle hatte er die restliche Fahrstrecke zum Perchtingerhof geschafft – und dort den Weg in sein Schlafzimmer gefunden.

Jetzt saß er völlig gerädert am Frühstückstisch. Phina hatte er noch nicht gesehen. Es blieb ihm also eine Schonfrist, in der er seine Gedanken sortieren konnte. Zum vorbereiteten Kaffee aus der Thermoskanne goss er zwei extrastarke Espressi aus der Maschine. Heute brauchte er zum Wachwerden einen Turbo. Und zwei Aspirin brauchte er auch.

Auch wenn er Tilda wirklich nicht unrecht tun wollte, so war Emilio doch machtlos gegenüber einem Gedanken, der in seinem Hirn umhergeisterte und der sich einfach nicht verdrängen ließ. Okay, sie war schwanger, und das durfte man wohl als unstrittig annehmen – zudem hatte sie keinen Zweifel daran gelassen, dass er der Vater war. Aber wie sicher war das? Tilda hatte ein lockeres Wesen, gerade das gefiel ihm ja an ihr. Weshalb nicht auszuschließen war, dass sie trotz ihrer Liaison mit ihm auch mal mit jemand anderem … Emilio räusperte sich. Nun ja, vollkommen unmöglich war das nicht. Vielleicht wollte sie sich selber nicht mehr daran erinnern? Oder es gab gute Gründe, eine andere Vaterschaft gar nicht erst in Erwägung zu ziehen. Emilio hatte fast ein schlechtes Gewissen, dass er diesen Verdacht überhaupt zuließ. Als ob er sich aus der Verantwortung stehlen wollte, indem er Tilda ein weiteres Verhältnis unterstellte. Nein, das würde er nicht tun. So einfach durfte er es sich nicht machen. Und er würde eine Lösung finden – aber dummerweise hatte er keine Ahnung, wie diese aussehen könnte.

Kam hinzu, dass er den Kopf gerade nicht frei hatte. Weil er mitten in einem Kriminalfall steckte, der seine volle Aufmerksamkeit erforderte. Eine Schwangerschaft gab es auch hier,

Ob es noch einen großen Unbekannten gab? Emilio sehnte das Gespräch mit Dobras Jogging-Partnerin Laura herbei, die heute aus dem Urlaub zurück sein sollte. Sie war seine letzte vielversprechende Informationsquelle. Noch an diesem Vormittag würde er nach Lana zu dem Hotel fahren, in dem sie an der Rezeption arbeitete.

*

«Guten Morgen», begrüßte ihn Phina.

Gott sei Dank hatte sie eine angenehme und ruhige Stimme, dachte Emilio. Es gab Frauen, die würden ihm jetzt mit hochfrequentem Geschnatter die Schädeldecke wegblasen. Auch unter diesem Aspekt war Phina ein besonderer Glücksfall.

Sie blickte auf die angebrochene Schachtel mit Schmerztabletten.

«Hattest wohl einen anstrengenden Abend», stellte sie fest. «Ist ja auch reichlich spät geworden.»

«Wie spät?»

«Tut mir leid. Ich wollte dich nicht wecken.»

«Aber dann war Ruhe. Bist wohl gleich ins Koma gefallen.»

Emilio langte sich an den Kopf und zog eine Grimasse. «Ja, könnte sein.»

Phina goss sich Kaffee ein und setzte sich zu ihm an den Tisch.

Sie sah ihn fragend an. «Willst du mir verraten, worum es bei deinem Termin ging? Kennst du jetzt Dobras Mörder? Dann hätte sich ja dein Einsatz gelohnt.»

Das wäre schön, dachte Emilio. Schön wäre es auch, wenn er wüsste, wie er jetzt seinen Kopf aus der Schlinge ziehen könnte. Er wollte nicht lügen. Aber die Wahrheit konnte er ihr auch nicht sagen. Wenigstens nicht im Moment.

«Sagen wir so …», begann Emilio zögerlich.

Dann passierte etwas, was mit Blick aufs Timing an ein Wunder grenzte: Sein Handy klingelte. Emilio war es gewohnt, Pech zu haben. Glück dagegen eher selten.

Er schaute aufs Display. Mariella aus dem Vorzimmer von Commissario Sandrini versuchte, ihn zu erreichen.

Er zuckte entschuldigend mit den Schultern. «Sorry, könnte wichtig sein. Da muss ich rangehen.»

Phina lächelte nachsichtig. «Aber vergiss nicht, was du mir gerade sagen wolltest.»

«Baron Emilio, schön, dass ich Sie erreiche», begrüßte ihn Mariella, nachdem er sich am Telefon gemeldet hatte. «Ich habe eine Neuigkeit, die Sie interessieren dürfte. Sie haben doch eine gewisse Laura Sabitzer aus Lana erwähnt, eine

«Richtig», bestätigte Emilio. «Ich bin sozusagen auf dem Sprung zu ihr.»

«Den Weg können Sie sich sparen. Man hat vor einer halben Stunde ihre Leiche gefunden.»

Emilio erstarrte. So schnell konnte sich ein vermeintlicher Glückszufall ins Gegenteil verkehren.

«Wie bitte? Laura Sabitzer soll tot sein?» Er konnte es kaum glauben.

«Ja, an ihrer Identität gibt’s keinen Zweifel, sie hatte einen Ausweis bei sich und wurde bereits identifiziert. Sie ist schon der zweite Fall in diesem Jahr.»

«Der zweite Fall? Wie meinen Sie das?»

«Schon vor fünf Monaten ist eine Joggerin überfallen, vergewaltigt und getötet worden. Damals am Ufer der Etsch in Terlan. Diesmal hat es Laura in Lana erwischt. Das gleiche Muster. Der Täter hat sie ins Gebüsch gezerrt, ihr die Joggingklamotten vom Leib gerissen, sich offenbar an ihr vergangen und sie danach erstickt.»

Emilio, dem normalerweise auch schockierende Nachrichten nichts anhaben konnten, war … erschüttert. Obwohl er diese Laura überhaupt nicht persönlich kannte. Er wäre ihr ja erst in gut einer Stunde begegnet. Mariella hatte recht – den Weg nach Lana konnte er sich sparen.

«Geht die Polizei davon aus, dass es sich um denselben Täter handelt?», fragte er.

«Der Commissario ist davon überzeugt. Er ist persönlich nach Lana unterwegs. Offenbar haben wir es mit einem Serientäter zu tun. Alle Umstände sprechen dafür.»

«Ein Serientäter …», wiederholte Emilio, noch immer wie gelähmt. «Und dieser Serientäter sucht sich ausgerechnet

«Ist aber so», bestätigte Mariella. «So etwas nennt man Zufall.»

Er stellte fest, dass sie abgeklärter auf die Situation reagierte als er selbst. Das war für ihn eine neue Erfahrung.

«Weiß Sandrini, dass ich mit Laura Sabitzer sprechen wollte?», fragte er.

«Nein, weil ich mich an den Namen erst erinnert habe, als er schon weg war. Sie haben die Laura mal am Telefon erwähnt.»

«Ich weiß.»

«Ihren Namen hatte ich mir auf einer Pralinenschachtel notiert. Die musste ich erst raussuchen, um Gewissheit zu haben.»

«Auf einer Pralinenschachtel … Ich verstehe.»

Jetzt wiederholte er schon wieder ihre Worte. Wurde er jetzt blöde?

«Warum fragen Sie? Soll ich den Commissario anrufen und es ihm sagen? Oder wollen Sie das selber machen?»

«Den Commissario anrufen …» Emilio versuchte, sich zu konzentrieren. «Nein, besser nicht. Das könnte ihn verwirren. Aber eine Bitte hätte ich …»

Mariella lachte. «Ich weiß, Sie wollen, dass ich Sie auf dem Laufenden halte. Stimmt’s?»

«Auf dem Laufenden … Ja, genau.»

«Das mache ich doch sowieso. Ich schicke Ihnen schon mal die Koordinaten des Tatorts aufs Handy.»

«Sie sind ein Schatz.»

«Danke. Ciao, mein lieber Baron. Und gute Besserung.»

«Gute Besserung? Warum?»

«Sie machen auf mich einen etwas angeschlagenen Eindruck.»

Wie konnte sie das wissen? Hatte sie ein Bildtelefon?

«Wirklich?»

«Nein, besser nicht. Vielleicht kontaktiere ich ihn am Nachmittag selber.»

Nachdenklich drückte Emilio auf die «Aus»-Taste.

Phina sah ihn fragend an. «Habe ich das gerade richtig verstanden? Eine frühere Bekannte von Dobra ist umgebracht worden? Von einem Serientäter?»

«Laura Sabitzer. Mit ihr wollte ich heute sprechen. Man hat ihre Leiche gefunden. Offenbar wurde sie beim Joggen überfallen, vergewaltigt und erstickt.»

«Mein Gott. Ich erinnere mich, dass ich vor einigen Monaten in der Zeitung von einem ähnlichen Fall gelesen habe. Damals wurde ebenfalls eine Joggerin überfallen und umgebracht. Irgendwo am Etschufer.»

«Richtig, in Terlan. Hast ein gutes Gedächtnis.»

«Schrecklich.»

«Ausgerechnet Laura Sabitzer. Und ausgerechnet heute Morgen, kurz bevor wir uns treffen wollten», sagte Emilio leise vor sich hin. «Und so etwas soll ein Zufall sein?»

«Was denn sonst? Jemand, der Joggerinnen überfällt und sich an ihnen vergeht, kommt doch kaum in Frage, vor sieben Jahren Dobra ermordet zu haben. Die Fälle sind doch überhaupt nicht vergleichbar.»

Emilio musste zugeben, dass Phina recht hatte. Vergleichbar waren sie wirklich nicht. Dafür brauchte es keinen Profiler, um zu diesem Schluss zu kommen. Dennoch war nicht ausgeschlossen, dass es einen Zusammenhang gab. Nur welchen? Genau das galt es herauszufinden.

«Ich werde trotzdem gleich nach Lana fahren», entschied er.

Was sollte das jetzt wieder bedeuten? Das war heute wirklich nicht sein Tag.

Er runzelte die Stirn. «Vom Haken?»

«Vor Mariellas Anruf wolltest du mir gerade erzählen, was du gestern für einen wichtigen Termin hattest. Und warum du danach so betrunken warst.»

Oje, seine Hoffnung, dass die Nachricht vom Mord alles überlagern würde, hatte sich hiermit nicht bestätigt. Phina ließ sich nicht so leicht aus dem Konzept bringen.

«Warte einen Moment, ich muss dir was zeigen.»

Emilio stand auf und ging hinaus zum Landy. Gerade noch rechtzeitig war ihm Tildas Fotoabzug mit den seltsamen Kratzspuren eingefallen. Er holte die Papprolle aus dem Auto und kam mit ihr zurück an den Frühstückstisch.

«Ich war bei Tilda», sagte er wahrheitsgemäß.

Einmal mehr erwies es sich als Vorteil, dass Phina nicht zu hysterischen Reaktionen neigte. So blieb ihm Zeit, das Poster herauszuziehen und aufzurollen.

«Und zwar wegen dem hier», erklärte er.

Das allerdings entsprach nicht mehr ganz der Wahrheit. Aber richtig falsch war es auch nicht.

«Was soll das sein?», fragte sie.

«Tilda dachte, dass mir das Bild weiterhelfen könnte. Es zeigt eine Bodenkachel aus dem Bunker. Offenbar hat Dobra in den letzten Stunden ihres Lebens in völliger Dunkelheit mit ihrer Haarspange darauf herumgekratzt. Die Vermutung liegt nahe, dass sie eine Botschaft hinterlassen wollte.»

Phina zog eine Augenbraue nach oben. «Und deshalb bist du zu ihr hingefahren? Wegen dieses Bildes?»

«Ja, deshalb. Tilda hat sich die Mühe gemacht und alle Fotos aus dem Bunker vergrößert. Dabei ist sie auf diesen Ausschnitt

Phina nickte. «Ich verstehe. Aus diesem Grund habt ihr euch mit Alkohol zugeschüttet. In der Hoffnung, dass euch vielleicht doch noch ein Licht aufgeht. Hat aber wohl nicht geklappt.»

Hörte er da leichten Spott in ihrer Stimme? Er konnte es ihr nicht verdenken.

«Zugegeben, ich bin länger geblieben als geplant. Sie wollte mit mir noch etwas besprechen.»

«Besprechen? So sagt man also heute dazu?»

«Nein, wirklich. Tilda hat ein Problem.»

Das war nun wirklich eine dreiste Untertreibung und Verzerrung der Realität, gestand sich Emilio ein. Denn nicht nur Tilda hatte ein Problem, sondern ebenso er selbst. Genau genommen war seine Schwierigkeit sogar die größere. Vor allem aus einem Grund: Und dieser saß in Gestalt von Phina gerade direkt vor ihm. Weil er sie wirklich sehr, sehr mochte. Weil er sie nicht verletzen wollte. Vor allem wollte er sie nicht verlieren.

«Konntest du ihr weiterhelfen? Oder sind weitere therapeutische Sitzungen vonnöten?»

Emilio sah Phina lange an. Äußerlich war sie die Ruhe selbst. In ihrem Inneren, da war er sich sicher, brodelte es.

«Nur so lange wie es braucht, eine Lösung herbeizuführen», sagte er. «Dann ist Schluss.»

«Schluss? Ich nehme dich beim Wort.»

Emilio wusste, dass er sich gerade in eine Sackgasse manövriert hatte. Wenn Tilda darauf bestand, das Kind zu bekommen, woran sie keinen Zweifel gelassen hatte, würde es schwer, wenn nicht gar unmöglich sein, einen wirklichen Schlussstrich zu ziehen. Oder gab es doch eine Chance? Eine Chance gab es immer – außer man war tot.