Als Emilio mit seinem Landy von der Strada del Vino auf die Schnellstraße Richtung Meran bog, fühlte er sich trotz der schockierenden Nachricht von Lauras Tod sogar ein wenig erleichtert. Phina hatte ihn, um mit ihren Worten zu sprechen, «vom Haken» gelassen. Zumindest für den Augenblick. Er war sich bewusst, dass sie ihm nur eine Schonfrist eingeräumt hatte. Natürlich würde sie ihn bei nächster Gelegenheit erneut zur Rede stellen. Was sollte er ihr dann sagen? Dass Tilda von ihm schwanger war? Wie sie auf diese Nachricht reagieren würde, vermochte er sich nicht vorzustellen … Wollte er auch nicht … Konnte er nicht! Emilio hatte sich in eine Situation hineinmanövriert, aus der er keinen Ausweg wusste. Das war ihm im Leben zwar schon häufiger passiert … aber diesmal war es wirklich ernst.
Insofern kam es ihm im Moment nicht ungelegen, sich auf seinen Kriminalfall und die damit verbundenen aktuellen Vorkommnisse zu konzentrieren. War das eine Form von Eskapismus? Indem er aus der realen Wirklichkeit in eine andere Welt flüchtete? Schön wäre es, denn dann wäre diese «andere Welt» eine Scheinrealität, eine Imagination, um ihn auf andere Gedanken zu bringen. Tatsächlich aber war mit Laura Sabitzer eine Frau umgebracht worden. Nach ihrem Urlaub, am frühen Morgen beim Joggen. Das war keine Scheinrealität, sondern die ganz brutale Wirklichkeit, die ihn zwar von seinen persönlichen Problemen ablenken konnte, aber eine Katastrophe darstellte. Vor allem für Laura Sabitzer. Und auch … für ihn.
Denn Emilio ging ein Gedanke durch den Kopf, der vielleicht weit hergeholt war, jedoch im Bereich des Möglichen lag. In diesem Fall wäre er indirekt sogar für ihren Tod verantwortlich. Nun ja, nicht im eigentlichen Sinne des Wortes, aber er hätte Lauras Ermordung quasi provoziert. Eine quälende Vorstellung. Denkbar wäre nämlich das Szenario, dass er mit seinen Ermittlungen und Befragungen den Mörder von Dobra Novak aufgescheucht hatte, dass er ihn nicht nur nervös gemacht, sondern in Panik versetzt hatte. So sehr, dass er zu dem Entschluss gekommen war, Laura zu beseitigen. Weil sie irgendetwas wusste, das ihn hätte auf seine Spur bringen können … Ausgehend von dieser Hypothese, ergaben sich zumindest vier Schlussfolgerungen: Erstens wäre das nur möglich, wenn er von Emilio und seinen hartnäckigen Recherchen wusste. Womöglich, weil Emilio sogar mit ihm persönlich gesprochen hatte? Ludwig Mayr, Gustl Mayr, Lorenz Holzer, Tscharli Niederhofer … Die Liste ließe sich fortsetzen. Zweitens hätte der Täter eine falsche Spur gelegt, indem er einen Mord an einer Joggerin vor fünf Monaten in Terlan kopiert hatte. Drittens wäre ihm Commissario Sandrini auf den Leim gegangen. Und viertens hatte Emilio keine Gelegenheit mehr, Laura zu befragen. Letzteres nicht im Konjunktiv, sondern im Indikativ: Denn Lauras Tod war keine Möglichkeit, sondern ein Faktum.
Emilios Stimmungslage war also ziemlich angespannt, als er von der MeBo nach Lana abzweigte. Ursprünglich hatte er vorgehabt, direkt zum Tatort zu fahren, also zu der Stelle am Ufer der Etsch, wo man Lauras Leiche gefunden hatte. Sollte er Pech haben, würde er dort Commissario Sandrini antreffen. Auch nicht gerade eine verlockende Perspektive.
Emilio entschied spontan, zuvor noch einen «Hausbesuch» einzuschieben. Es war nicht weit zur Wohnung von Tscharli Niederhofer im Ortsteil Gries. Ihm gegenüber hatte er Laura erwähnt; daran konnte er sich genau erinnern. Tscharli hatte beteuert, sie nicht zu kennen – aber er hatte dabei Zeichen von Nervosität erkennen lassen.
Da er Storemanager einer Modeboutique in Meran war, könnte es sein, dass er sich nicht zu Hause aufhielt. Und wenn er doch da war, würde er womöglich nicht aufmachen. Erst recht nicht, wenn er vor wenigen Stunden Laura umgebracht hatte.
Beim Einparken sah Emilio, wie im ersten Stock gerade das Fenster geschlossen wurde, aus dem ihn Tscharli bei seinem ersten Besuch angepöbelt hatte. Ob er ihn gesehen hatte?
Emilio blieb im Auto sitzen und wartete. Es dauerte einige Minuten, dann öffnete sich die Haustür, und Tscharli trat auf die Straße. Er setzte sich die Sonnenbrille auf und lief zu einem roten Fiat Cinquecento. Sein Schritt war locker. Er wirkte weder gestresst noch sonst wie angeschlagen. Sah man so aus, wenn man vor dem Frühstück eine Frau ermordet hatte? Emilio dachte, dass ihm die Vergleichsmöglichkeiten fehlten.
Er stieg aus und schnitt Tscharli den Weg ab.
«Guten Morgen, Herr Niederhofer. Schön, dass ich Sie noch erwische», begrüßte er ihn.
Tscharli blieb verdattert stehen. War er erschrocken? Nein, nur überrascht. Oder vielleicht doch?
«Na so was, der … der Baron», stotterte er. «Was ver… verschafft mir die Ehre?»
Emilio konnte sich nicht erinnern, dass Tscharli bei seinem ersten Besuch gestottert hatte. Also war er doch nicht so locker, wie es erst den Anschein machte? Was natürlich viele Gründe haben könnte. Wer ließ sich schon gerne vor der Haustür von einem «Sonderermittler» der Polizei überfallen? Zudem von einem, der schon das letzte Mal penetrante Fragen gestellt hatte? Das wäre der harmlose, sozusagen der menschlich nachvollziehbare Grund für Tscharlis Nervosität. Gab es noch einen anderen, viel drastischeren?
«Ich wollte Ihnen nur einen schönen Tag wünschen», sagte Emilio, «und fragen, wie Sie die Morgenstunden verbracht haben?»
Tscharli nahm die Sonnenbrille ab. Jetzt wirkte er überhaupt nicht mehr souverän.
«Was ist denn das für eine blöde Frage?», erwiderte er. «Als ob Sie das etwas anginge.»
«Da haben Sie recht, es geht mich nichts an, ob Sie warm oder kalt geduscht haben. Das will ich auch nicht wissen. Aber Sie könnten mir verraten, ob Sie heute Morgen schon einmal außer Haus waren. Das wäre durchaus von Belang.»
«Von Belang? Für wen?»
«Für mich. Und für die ermittelnden Polizeibehörden.»
«Das muss ich nicht verstehen, oder?»
«Nein, müssen Sie nicht. Beantworten Sie mir einfach meine Frage!»
«Ist irgendwas passiert?»
«Herr Niederhofer, bitte!»
«Ja, verdammt noch mal … Ich meine natürlich, nein. Ich habe das Haus bis gerade eben nicht verlassen.»
«Kann das jemand bezeugen?»
«Mein Goldfisch kann das bezeugen.»
Emilio lächelte schief. «Ich weiß nicht, ob das als Alibi ausreichen wird.»
«Alibi? Wofür brauche ich ein Alibi?»
Es sprach nichts dagegen, dachte Emilio, ihn aufzuklären. Falls er es nicht sowieso schon wusste. Dann würde er sich vielleicht durch seine Reaktion verraten.
«Sie erinnern sich, dass ich Sie das letzte Mal nach Laura Sabitzer gefragt habe, mit der Dobra früher häufig joggen war?»
Tscharli runzelte die Stirn. «Ja, kann schon sein. Was ist mit ihr?»
«Sie wurde heute Morgen umgebracht!»
Emilio sah ihn hochkonzentriert an. Das kurze Flattern der Augenlider hatte er schon einmal bei ihm beobachtet. Mehr allerdings fiel ihm nicht auf. Höchstens sein stupider Gesichtsausdruck. Der aber war manchen Menschen in die Wiege gelegt.
«Wollen Sie mir, wollen Sie mir … Ich glaube, Sie sind paranoid. Das letzte Mal haben Sie mir unterstellt, ich könnte die Dobra ermordet haben. Diesmal halten Sie es für möglich, dass ich eine Laura, die ich überhaupt nicht kenne, umgebracht habe. Sie sollten sich mal auf Ihren Geisteszustand untersuchen lassen …»
Emilio dachte, dass er diesen Vorschlag in ähnlicher Form schon häufig gehört hatte. Auch und gerade von Menschen, die selber einen an der Waffel hatten. Dennoch entsprach Tscharlis Reaktion durchaus seiner Erwartung. Sie war emotional und passte zu dem Kerl. Leider gab sie keinen weiteren Aufschluss – weder in die eine noch in die andere Richtung.
«Außer Ihrem Goldfisch haben Sie also kein Alibi», antwortete Emilio ungerührt. «Ich werde das an den Commissario in Bozen weitergeben. Ich schätze, Sie werden bald von ihm hören. Vielen Dank für das freundliche Gespräch.»
Zum Abschied zeigte Tscharli ihm den Vogel.