Emilio saß in Lana auf der Terrasse eines Cafés. In einem Glas Wasser löste er eine Kopfschmerztablette auf. Schon die dritte heute. Die gestrige Nacht steckte ihm noch immer in den Knochen. Oder besser gesagt, unter seiner Schädeldecke. Dort machte sie sich immer wieder durch penetrantes Bohren und Stechen bemerkbar. Mal hinter den Schläfen, dann wieder hinter der Stirn. Nicht selten überall gleichzeitig. Was er als besonders gemein empfand, denn dann blieb im Gehirn keine neuronale Region frei, mit der er denken konnte. So jedenfalls stellte er sich die Organisation in seinem Kopf vor. Wale konnten mit einer Hälfte des Gehirns schlafen, mit der anderen blieben sie hellwach. So ähnlich müsste das auch beim Katerkopfschmerz funktionieren. Aber er war kein «Walfisch».
Emilio stellte fest, dass er mit seinen verfügbaren Hirnkapazitäten völligen Blödsinn dachte. Vor sich hatte er zwei Tassen mit extrastarkem Espresso stehen. Er erwartete niemanden. Sie waren beide für ihn.
Es gelang ihm langsam, sich wieder auf die Dinge zu konzentrieren, die wichtig waren. Er rekapitulierte das Gespräch mit Professor Turmstaller. Schließlich griff er zum Handy und rief Mariella an. Ob der Commissario schon zurück sei, fragte er. Er war es nicht, was ihm sowieso lieber war. Er bat Mariella, dem Commissario auszurichten, er möge bitte jemanden zu Tscharli Niederhofer schicken, entweder nach Hause oder in seinen Laden nach Meran. Zwar sei der gute Mann nicht wirklich verdächtig, Laura Sabitzer umgebracht zu haben, aber sicherheitshalber würde er anregen, ihn etwas in die Mangel zu nehmen. Denn gänzlich ausgeschlossen sei es nicht.
Mariella versprach, sofort mit dem Commissario zu sprechen. Ob der Baron am Tatort in Lana gewesen sei, fragte sie.
Natürlich, er sei sogar immer noch in Lana, aber den Commissario habe er zu seinem größten Bedauern verpasst.
Mariella reagierte mit einem glockenhellen Lachen.
Er verabschiedete sich mit einer Schmeichelei. Welche das war, hatte er schon im nächsten Moment vergessen.
Emilio lehnte sich zurück und fragte sich, was Tilda wohl gerade machte. Ob sie auch Kopfschmerzen hatte? Sollte er sie anrufen und sich für den «netten» Abend bedanken? Und ihr zur Schwangerschaft gratulieren? Machte man das? Vor allem, wenn man der Vater war, aber wenig Begeisterung gezeigt hatte? Oder doch besser eine Textnachricht schicken? Auch keine gute Idee, denn Tilda würde antworten. Dann war wieder er am Zug. Was eine Schwangerschaft so alles anrichten konnte … Erneut fragte er sich mit wachsendem Unbehagen, ob sie deshalb hatte sterben müssen. Weil sie wollte, dass sich der Vater zum Kind bekannte? Wer war der Vater? Hatte er sich genauso verwirrt gefühlt? Selbst wenn – das rechtfertigte nichts!
Emilio fand es gruselig, den Gedanken weiterzuverfolgen. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund seiner persönlichen Situation.
Er beschloss, sich wieder auf den Fall zu konzentrieren. Besser dachte man über andere Menschen nach als über sich selbst.
Längst stand für ihn fest, dass Laura Sabitzer kein Zufallsopfer eines Triebtäters war. Vielmehr war sie gezielt von jemandem umgebracht worden, der verhindern wollte, dass sie was ausplauderte. Aber was hätte sie verraten können? Sicher nicht, wer Dobras Mörder war. Sonst wäre sie schon vor sieben Jahren zur Polizei gegangen. Vielleicht hatte sie in ihrem Urlaub gar nicht mitbekommen, dass Dobras Leiche gefunden wurde. Aber wäre sie jetzt davon in Kenntnis gesetzt worden, hätte sie die damaligen Ereignisse möglicherweise in einem ganz anderen Licht gesehen. Weil, weil …
Emilio trank die zweite Tasse Espresso.
… weil sie wusste, wer der geheimnisvolle Liebhaber gewesen war. Beim Joggen hatte Dobra es ihr verraten. Oder sie hatte die beiden zusammen gesehen. Wie auch immer, gegenüber Emilio hätte sie den Namen preisgegeben. Was Dobras einstiger Liebhaber zwingend verhindern musste – weil er ihr Mörder war.
Das Motiv? Zum Beispiel Eifersucht. Weil Dobra ihren Freund mit einem anderen Mann betrogen hatte und von ihm ein Kind erwartete. Dieses Motiv war so alt wie die Menschheit und kam schon in der griechischen Tragödie vor.
Emilio dachte an sich selbst und kam fast zwangsläufig zu einem anderen Szenario. Unwillkürlich ersetzte er Dobra durch Tilda. Sie war von ihrem Liebhaber schwanger. Der aber hatte ganz andere Pläne im Leben, er hatte viel zu verlieren, er wollte sich nicht erpressen lassen. Tilda blieb hartnäckig … also brachte er sie um.
Emilio langte sich an den Kopf. Er hatte die Namen verwechselt. Natürlich meinte er nicht Tilda, sondern Dobra. Was wären eigentlich seine Pläne im Leben? Er hatte keine. Womöglich lag hier das eigentliche Problem.
Es machte wenig Sinn, diesen Gedanken weiterzuverfolgen. Der Grat, auf dem er sich bewegte, war zu schmal. Also kam er zurück zum Tathergang und zu dem, was er von Professor Turmstaller erfahren hatte. Er versuchte zu denken wie ein Profiler, also auch die psychologischen Aspekte zu berücksichtigen. Prompt fiel ihm eine Gemeinsamkeit bei den Morden an Dobra und Laura auf. In beiden Fällen hatte der Mörder Skrupel gehabt, die Tat mit bloßen Händen zu vollenden. Dobra hatte er niedergeschlagen, dann aber nicht final getötet, sondern sie in ihrem Verlies zugrunde gehen lassen. Laura war auch niedergeschlagen worden, womöglich heftiger als geplant, dann aber hatte er sie unter einer am Hals verschnürten Plastiktüte ersticken lassen. Das mochte er sogar als human angesehen haben, denn immerhin wurden im Internet luftdichte Plastikbeutel für den Suizid empfohlen. Jedenfalls hatte er Laura nicht erwürgt wie der Jogging-Mörder in Terlan.
Zu dieser Vorgehensweise würde auch der «Autounfall» von Angie Mayr passen, der sich mutmaßlich am selben Tag ereignet hatte wie der Mord an Dobra. Sofern er vorsätzlich herbeigeführt worden war, wovon Emilio ausging. Hier war es erst recht zu keinem direkten Kontakt gekommen. Töten aus Distanz hatte die niedrigste Hemmschwelle.
Was folgte daraus? Erstens: dass es sich um ein und denselben Täter handelte. Sowohl der Logik folgend als auch aus psychologischer Perspektive. Zweitens: Der Mörder handelte rational und mit kühler Berechnung. Drittens: Er hatte keine Freude am Töten. Denn Laura hatte er erst umgebracht, als es ihm zwingend nötig erschien. Viertens: Er wurde zunehmend nervös. Was einerseits gut war, denn damit stieg die Wahrscheinlichkeit, dass er einen Fehler machte. Andererseits waren die Konsequenzen schrecklich, wenn deshalb eine potenzielle Zeugin ihr Leben lassen musste.
Emilio saß noch eine Weile vor dem Café und dachte über eine Beobachtung nach, der er zunächst keine Bedeutung beigemessen hatte. Er sah auf den Fleck, den seine Espressotasse auf der Papierserviette hinterlassen hatte. So ein Fleck konnte verräterisch sein. Jedenfalls lenkte er seine Überlegungen in eine völlig neue Richtung.