Weil es von Meran nicht weit war, fuhr er von den Trauttmansdorffer Gärten nach Naturns, um dem Schmuckatelier Teutsch einen Besuch abzustatten. Das hatte er schon mal vorgehabt, aber nicht auf die Reihe gebracht. Was kein Problem war, denn einen besonderen Grund gab es nicht. Von Matteo und seiner Tochter Amelie hatte er schon alles erfahren, was sie über Dobra und ihr Fußkettchen wussten. Sie hatten ihn bei der Suche nach der Identität des Opfers den entscheidenden Schritt vorangebracht. Dafür wollte er sich bedanken. Emilio schmunzelte, denn natürlich war ihm klar, dass dies nur ein vorgeschobener Anlass war. Er wollte einfach ein wenig mit Matteo plaudern. Spätestens seit er an Tildas Zeigefinger einen extravaganten Ring gesehen hatte, der ihn sehr an die ausgestellten Arbeiten des Schmuckdesigners erinnerte. Sie war also Kundin bei ihm – oder hatte Matteo ihr den Ring geschenkt?
Ging ihn das was an? Nein, natürlich nicht. Denn selbstverständlich kannten sich die beiden, immerhin stammte von ihr der Tipp, mit Matteo über Dobras Fußkettchen zu sprechen. Außerdem hätte er Tilda auf den Ring ansprechen können, es aber unterlassen. Warum auch immer. Wahrscheinlich hatte es gerade ein wichtigeres Thema gegeben.
In Naturns stellte er sein Auto auf einem Parkplatz an der Hauptstraße ab und ging von dort zu Fuß. Im Schaufenster des Schmuckateliers betrachtete er die Auslagen. Nicht alle trafen seinen Geschmack. Allerdings musste er sich eingestehen, dass ihm die Expertise fehlte. Denn für Schmuck hatte er sich noch nie interessiert. Er verstand nicht, dass man für diesen Firlefanz so viel Geld ausgeben konnte. Weshalb er noch nie auf die Idee gekommen war, Phina einen Ring zu schenken. Oder gar einen dieser Ohrhänger? Er musste grinsen. Die Vorstellung war auch zu komisch: Phina in Gummistiefeln auf dem Traktor – mit klimpernden Ohrhängern. Phina hatte von Theresa den alten Familienschmuck geerbt. Sie hatte noch nie ein Stück getragen. Er selbst besaß nur den Siegelring seines Vaters. Auf Anhieb wusste er nicht, wo er ihn verstaut hatte. Aber ihm fiel ein Anlass ein, bei dem er den Siegelring tragen könnte. Nämlich auf seiner eigenen Beerdigung, als Leichnam im Sarg. Das wäre eine angemessene Gelegenheit. Dann den Deckel draufgenagelt, in einer Grube versenkt und mit Erde zugeschüttet. Da läge er, six feet under, der letzte Nachkomme derer von Ritzfeld-Hechenstein. Emilio spürte einen Kloß im Hals. Nicht weil er gerade an seinen eigenen Tod gedacht hatte, das kümmerte ihn wenig, sondern weil seit gestern Abend die Möglichkeit bestand, dass sein Adelsgeschlecht entgegen allen Erwartungen eben doch nicht aussterben würde. Eine überaus irritierende Vorstellung.
Emilio gab sich einen Ruck – und betrat den Laden. Es läutete. Von hinten tauchte Amelie auf. Sie schien sich zu freuen, ihn zu sehen, und begrüßte ihn herzlich. Sie habe in der Zeitung von Dobra Novak gelesen, erzählte sie. Bei ihr habe es sich also um ihre damalige Kundin gehandelt. Jene Frau, die ihr erstes selbst gefertigtes Schmuckstück gekauft und der es kein Glück gebracht habe.
Emilio nickte bestätigend. Dennoch habe das Fußkettchen etwas Gutes bewirkt, erklärte er, schließlich habe es dazu geführt, die Leiche aus dem Bunker zu identifizieren. Damit habe Dobra ihre Würde zurückerhalten. Aber noch wichtiger: Jetzt ließe sich teilweise rekonstruieren, was damals passiert sei. Und es bestünde eine Chance, ihren Mörder zu fin den.
Das hoffe sie inständig, sagte Amelie. Ob er noch irgendwelche Fragen habe?
«Nein, keine Fragen mehr. Sie haben mir bereits so sehr geholfen, Sie und Ihr Vater. Wo ist er übrigens?»
«Ist leider nicht da. Er hat einen auswärtigen Termin und kommt erst am Abend zurück.»
«Schade, ich wollte mich auch bei ihm bedanken.»
Emilio stellte eine mitgebrachte Magnumflasche auf den Tisch. «Der beste Lagrein des Weinguts Perchtinger. Mit meinen besten Empfehlungen.»
«Vielen Dank.» Amelie lächelte. «Weiß nicht, ob ich ihm die Flasche gebe. Vielleicht behalte ich sie.»
«Ist genug drin für Sie beide. Und für Ihre Frau Mutter …»
Amelie schüttelte den Kopf. «Die trinkt keinen Wein, nur Milch und Fruchtsäfte.»
«Schade. Obwohl der Wein genau genommen auch nichts anderes ist als ein Fruchtsaft – nur vergoren.»
«Mit dieser faulen Ausrede würden Sie bei meiner Mutter nicht durchkommen.»
«Arbeitet sie eigentlich auch in Ihrem Schmuckgeschäft?»
«Früher schon, aber heute kann sie nicht mehr. Sie müssen wissen, meine Mutter hat Parkinson im fortgeschrittenen Stadium. Ihr geht’s nicht gut.»
«Tut mir leid. Ist sicher nicht leicht für Ihre Familie, vor allem auch für Ihren Vater.»
«Wir schaffen das. Aber Sie haben recht, für meinen Vater ist es besonders schwer.»
«Da hilft es, Freunde zu haben. Apropos, mit Tilda Kneissl haben Ihr Vater und ich eine gemeinsame Bekannte. Von ihr hatte ich den Tipp, mit Ihrem Vater zu sprechen.»
«Tilda hat den Kontakt hergestellt? Ja, sie ist eine gute Freundin meines Vaters.»
«Wie schön.»
«Doch, doch …» Amelie lachte. «Aber nicht so, wie Sie denken.»
Wie kam sie darauf, dass er sie hätte falsch interpretieren können?
«Er bewundert ihre künstlerischen Arbeiten», stellte sie klar.
«Geht mir auch so. Ich war mal in der Franzensfeste bei der Vernissage einer ihrer Ausstellungen.»
«Photography. Peinture …», wusste Amelie sofort den Titel. «Da hätten wir uns treffen können; auf der Vernissage waren wir auch. Ihre großformatigen Fotos und Installationen waren einfach umwerfend.»
«Aber auch etwas verstörend. Ging jedenfalls mir so.»
«Na klar, das ist Tildas Konzept. Sie will mit tradierten Sehgewohnheiten brechen, auch mit Tabus. Fast beneide ich sie darum, denn bei unseren Schmuckstücken haben wir nur wenig Spielraum. Schließlich müssen wir sie verkaufen.»
«Tilda will ihre Werke auch verkaufen.»
Amelie winkte lachend ab. «Bei großer Kunst ist das viel leichter. Da findet sich immer ein durchgeknallter Sammler. Aber ein Ring …»
«Oder ein Fußkettchen», ergänzte Emilio.
«Genau, ein Ring oder ein Fußkettchen muss ins Budget einer Kundin passen und ihren Erwartungen entsprechen.»
Emilio verstand, was sie meinte. Unwillkürlich dachte er an eine andere Kunst, nämlich jene, große Weine zu kreieren. Auch hier galt es, einerseits den Erwartungen zu entsprechen, andererseits auch mit Konventionen zu brechen. Der Preis konnte dagegen nicht hoch genug sein. Jedenfalls bei Weinen, die Kultstatus genossen. Denn Amelie hatte recht: Ein paar «Durchgeknallte» gab es immer!