Im rechtsmedizinischen Institut wurde Emilio in den Sektionssaal verwiesen, wo Professor Turmstaller noch mit der Untersuchung von Lauras Leichnam beschäftigt war. Wieder fiel ihm der Schriftzug über dem Eingang ins Auge: Mortui vivos docent. «Die Toten lehren die Lebenden.» Was der Professor wohl von Laura erfahren hatte?

«Wie kommt’s, dass mich Ihr Besuch nicht überrascht?», wurde er vom Rechtsmediziner begrüßt. «Gutes Timing. Bin gerade fertig.»

Er hatte seinen Kittel schon ausgezogen. Auf einem Drehhocker sitzend, mit einem Tablet-Computer auf dem Schoß, schrieb er an seinem Bericht.

«Ich will Sie nicht lange aufhalten.»

«Nur keine Sorge. Aber ich muss Sie enttäuschen. Es gibt keine neuen Erkenntnisse, nur irrelevante Details. Ansonsten ist alles so, wie ich es Ihnen schon bei meiner Voruntersuchung am Tatort gesagt habe. Vielleicht am Wichtigsten: Die Frau wurde definitiv nicht vergewaltigt. Darüber hinaus gibt es weitere signifikante Unterschiede zum Opfer aus Terlan. Will sagen: Aus forensischer Sicht spricht alles für einen Nachahmungstäter. Ich würde also die These postulieren, dass wir es mit einer anderen Person zu tun haben, die mit kühler Berechnung gehandelt hat und nicht aus triebhaftem Wahn.»

Emilio nickte. «Lieber Professor, Sie haben mich ganz und

«Das kommt häufiger vor. Der Commissario neigt zu vorschnellen Schlussfolgerungen. Aber ich halte ihm zugute, dass er seine Meinung bisweilen auch ändert.»

Emilio lächelte. «Gelegentlich braucht es etwas Überzeugungsarbeit. Aber dann tut er es, Sie haben recht.»

«Jedenfalls bekommt er später meinen Bericht. Mal sehen, was er daraus macht. Was gibt’s bei Ihnen Neues?»

Emilio zuckte mit den Achseln. «Ich hatte mir von Laura Informationen erhofft. Aber das hat jemand zu verhindern gewusst.»

Er nahm sein Handy und zeigte dem Professor das Bild mit den Kratzspuren, das Tilda vergrößert hatte.

«Die Kritzeleien stammen vom Boden im Bunker. Vermutlich hat Dobra sie mit ihrer Haarspange reingeritzt. Haben Sie eine Idee, was das bedeuten könnte?»

Turmstaller schaute sich die Aufnahme genauer an. Schüttelte dann aber den Kopf. «Schaut vorne aus wie eine Sieben und hinten wie ein Kreuz. Keine Ahnung, was das bedeuten könnte. Ich bin Rechtsmediziner und kein Kryptologe.»

Emilio dachte, dass er weder das eine noch das andere war. Und genauso ratlos.

«Hätte ja sein können, dass Sie eine spontane Eingebung haben.»

Emilio zupfte sich am Ohrläppchen. Tatsächlich war er etwas verlegen.

«Darf ich Sie ganz was anderes fragen? Angenommen, ein Mann erfährt von einer Frau, dass sie von ihm schwanger sei. Aber er ist nicht restlos von seiner Vaterschaft überzeugt …»

Turmstaller lachte. «Es gibt Schätzungen, dass mindestens

«Sie haben eine sehr skeptische Weltsicht.»

«Nicht skeptisch, mein lieber Baron, sondern nur realistisch.»

«Um auf meine Frage zurückzukommen. Besteht eine Möglichkeit, schon vor der Geburt einen Vaterschaftstest durchzuführen?»

«Ein Gentest bei einem ungeborenen Kind? Natürlich besteht die Möglichkeit. Bis vor einigen Jahren musste man dazu eine risikobehaftete Untersuchung des Fruchtwassers durchführen. Heute geht das mit einem simplen Test. Dazu bedarf es lediglich einer Blutprobe der Mutter und eines Wangenabstrichs vom potenziellen Vater.»

«Das ist interessant, sehr interessant …», murmelte Emilio.

«Warum? Haben Sie einen konkreten Fall im Auge?»

«Ja, in gewisser Weise … also …»

Der Professor lächelte. Ob er ahnte, dass der konkrete Fall ein ganz persönlicher war?

«Rechtlich sind diese vorgeburtlichen Vaterschaftstests umstritten», sagte er. «Aber wenn Sie mir die Proben bringen, kann ich Ihnen schnell Klarheit verschaffen. Wäre Ihnen damit geholfen?»

Emilio nickte.

«Ja, könnte sein. Vielen Dank für Ihr Angebot. Vielleicht komme ich darauf zurück.»

Er dachte nach. Ihm fiel eine weitere Frage ein. Eigentlich lag sie auf der Hand. Warum hatte er sie bislang noch nicht gestellt? Es wurde höchste Zeit …