Commissario Sandrini hatte die Fähigkeit, einem das schönste Frühstück zu vermiesen. Freilich hätte Emilio das Gespräch nicht annehmen müssen, aber zuweilen handelte er unüberlegt. Vor allem, wenn er noch nicht richtig wach war. Sandrini blaffte ihn an, dass er nicht sein Befehlsempfänger sei. Wie er auf die Idee kommen könne, die Vernehmung eines gewissen Tscharli Niederhofer anzuordnen.
Emilio unterdrückte den Impuls, einfach aufzulegen. Er atmete tief durch und antwortete so entspannt wie möglich.
«Lieber Commissario, wie könnte ich auf den Gedanken kommen, etwas anzuordnen? Da hat die gute Mariella meinen Vorschlag wohl missverständlich weitergegeben. Ich wollte nur in aller Demut eine Anregung geben …»
«Wenn ich eine Anregung brauche, gehe ich ins Kino. Außerdem verstehe ich nicht, was dieser Tscharli mit dem Mord an Laura Sabitzer zu tun haben könnte. Mariella hat mir gesagt, Tscharli wäre ein Bekannter von dieser Mumie aus dem Bunker gewesen, dieser Dolora, äh, Domenica …»
«Dobra!»
«Sag ich doch. Warum sollte dieser Mumienfreund jetzt über eine Joggerin herfallen, die zufällig des Weges kommt? Mein lieber Baron, Ihre Phantasie möchte ich mal haben.»
Und Emilio dachte: Genau das war das große Problem des Commissario, dass es ihm an dieser Phantasie mangelte. Auch fand er seine Ausdrucksweise befremdlich.
«Commissario, ich verstehe Ihre Skepsis. Aber Ihnen fehlt eine entscheidende Information: Nicht nur Tscharli Niederhofer war ein Bekannter von Dobra Novak, auch die tote Joggerin war mit ihr befreundet. Deshalb wollte ich sie sofort befragen, sobald sie aus ihrem Urlaub zurück ist. Das war gestern Vormittag. Ihr Mörder ist mir zuvorgekommen.»
«Porca miseria … allora … Nun, das wusste ich tatsächlich nicht. Vor diesem Hintergrund ist natürlich nicht gänzlich ausgeschlossen, wenn auch nicht besonders wahrscheinlich, dass es einen Zusammenhang geben könnte …»
«Es ist eine vage Möglichkeit», sagte Emilio. «Hinzu kommt, dass Tscharli Niederhofer wusste, dass ich mit Laura Sabitzer sprechen wollte. Deshalb schien es mir opportun …»
«Baron Emilio, sprechen Sie nicht weiter! Ihre Gedankengänge sind nicht so kompliziert, dass man ihnen nicht folgen könnte. Weil ich grundsätzlich allen Spuren nachgehe, auch solchen, die wenig erfolgversprechend sind, werde ich diesen Tscharli selbstverständlich vernehmen lassen. Übrigens ein blöder Name. Der Kater meiner Tante heißt so … Sicherheitshalber lasse ich auch sein Handy überprüfen, um seinen Standort zur Tatzeit zu ermitteln.»
«Habe ich auch schon überlegt. Aber könnte nichts bringen, denn er wohnt so nah am Tatort, dass es sich wahrscheinlich um dieselbe Funkzelle handelt.»
Der Commissario lachte. «Mein lieber Emilio, Sie sind technisch nicht auf dem neuesten Stand. Glauben Sie mir, wir haben Mittel und Wege … Na ja, Sie müssen nicht alles verstehen. Gibt es sonst noch Informationen, die Sie mir vorenthalten haben?»
Viele, dachte Emilio, sehr viele sogar. Aber das würde vorläufig so bleiben. «Den Bericht von Professor Turmstaller haben Sie sicherlich gelesen», antwortete er ausweichend.
Sandrini hüstelte. Also hatte er ihn nicht gelesen.
«Dann wissen Sie ja», fuhr Emilio fort, «dass Laura Sabitzer nicht vergewaltigt wurde und dass auch sonst einiges gegen den Täter von Terlan spricht.»
Emilio hörte es rascheln. Vermutlich blätterte Sandrini gerade im Untersuchungsbericht, der ungelesen auf seinem Tisch lag.
«Das ist mir selbstverständlich bekannt», sagte er nach einer Weile. «Auch wenn ich das rechtsmedizinische Gutachten noch nicht in allen Details studiert habe. Die Arbeitsüberlastung, Sie verstehen, die Arbeitsüberlastung …»
«Wie weit sind Sie mit Ihren anderen Fällen?», erkundigte sich Emilio freundlich, dem es ganz recht war, auf den Stress des Commissario einzugehen. «Zum Beispiel mit dem Drogenring von Don Bosco und dem toten Zuhälter aus dem Froschbrunnen?»
«Ich stehe kurz davor, beide Fälle abzuschließen. Im Anschluss habe ich den Kopf frei, mich um die vergewaltigte … beziehungsweise doch nicht vergewaltigte … na egal, jedenfalls tote Joggerin zu kümmern. Auch um diesen Kater Tscharli und um die Mumie aus dem Bunker …»
Sandrini stand wirklich unter Strom. Und das schon am frühen Morgen.
«Ich bin schon sehr auf Ihren Bericht gespannt», fügte Sandrini noch hinzu.
«Sehr gerne, mein lieber Commissario, jederzeit. Wie wäre es mit heute Nachmittag?»
Emilio stellte sich vor, wie Sandrini erschrak. So schnell wollte er sich wohl doch nicht mit dem Fall beschäftigen.
«Heute Nachmittag? Da habe ich keinen Termin frei. Tut mir leid. Ich melde mich. Ciao, mein Bester, ciao.»
Nun war er plötzlich wieder sein «Bester». Immerhin ein versöhnliches Ende. Als Nächstes würde Sandrini wahrscheinlich seine Schreibtischschublade aufziehen und das erste Fläschelchen Fernet-Branca trinken. Der Commissario dachte, keiner würde davon wissen. Doch Mariella wusste alles – und sie hatte es Emilio erzählt.
Phina, die sich mit einer Tasse Kaffee zu Emilio an den Tisch gesetzt hatte, sah ihn schmunzelnd an.
«Nervt er wieder, dein Commissario?»
«Ja, könnte man so sagen. Aber nicht mehr als sonst auch.»
Phina hatte ihre Kaffeetasse auf das Poster gestellt, das von gestern noch auf dem Küchentisch lag.
Als sie wieder einen Schluck nahm, sah er den braunen Ring, den ihre Tasse hinterlassen hatte. Der Kaffeefleck faszinierte ihn. Erst wusste er nicht, warum, dann fiel es ihm ein.
«Warum schaust du so komisch?», fragte sie. «Ist was?»
Ohne zu antworten, wanderte sein Blick über das Poster zu den kryptischen Kratzspuren, die Dobra auf dem Boden ihres Verlieses hinterlassen hatte. Er drehte den Kopf hin und her, dann schloss er für einen Moment die Augen.
Phina stupste ihn an. «Muss ich mir Sorgen machen?»
«Nein», flüsterte er. «Aber Dobras Mörder muss sich Sorgen machen.»
«Wieso?»
«Weil ich ihm justament auf die Spur gekommen bin.»
«Wie das? Hattest du eine göttliche Eingebung?»
«Könnte man so sagen. Jedenfalls hat mich der Blitz der Erleuchtung getroffen. Von wem er geschleudert wurde, ist mir egal, meinetwegen von Zeus persönlich.»
«Wer ist es? Dieser Tscharli? Jemand vom Sternenschein oder doch einer der beiden Mayrs aus Mals?»
«Neugierig bist du gar nicht. Nein, ich kann dir den Namen noch nicht nennen …»
«… oder du willst nicht.»
«Richtig. Es könnte ja sein, dass ich mich täusche.»
Phina lächelte. «Das würde mich sehr wundern. Ich kenne deinen Gesichtsausdruck. So schaust du, wenn dir gerade ein Licht aufgegangen ist.»
«Göttliche Eingebung, Blitz der Erleuchtung, Licht aufgegangen … Meine liebe Phina, es ist viel einfacher. Plötzlich passt alles zusammen. Jetzt brauche ich nur noch einen Beweis.»
«Und danach …»
Er sah sie fragend an. «Was sollte danach sein?»
Sie gab ihm einen Kuss. «Danach unterschreibst du die Adoptionspapiere für Zola.»