Emilio stand neben Tilda, die regungslos am Boden kniete. «O mein Gott», hatte sie gesagt. Jetzt verstand er, warum. In der Ecke der Kammer lag … eine zusammengekrümmte … mumifizierte … Frauenleiche …

Der Anblick war so grauenvoll, dass Tilda für den Moment sogar das Fotografieren vergaß. Die Haut der Leiche war lederartig verschrumpelt, die Wangen bis auf die Knochen eingefallen … lange verfilzte Haare … ein knielanges, rotes Kleid … nackte, verkrampfte Füße …

«Nicht gerade das, was wir erwartet hatten», flüsterte Emilio.

«Eine Mumie …» Ihre Stimme war kaum zu verstehen. «Eingemauert – wie kann das sein?»

«Einen Suizid schließe ich aus», sagte Emilio, der sich seinen schwarzen Humor selbst in dieser Situation bewahrte.

Tilda richtete sich langsam auf. Sie hatte sich so weit gefangen, dass sie sich wieder in der Lage sah, zu fotografieren.

«Wie lange, glaubst du, liegt die Leiche hier schon?», fragte sie.

«Kann ich nicht beurteilen. Ich weiß nur, dass menschliche Körper bei geeigneten Bedingungen relativ schnell mumifizieren können. Ganz von selbst. Da reichen wenige Jahre.»

«Dafür spricht auch ihr Kleid; es ist gut erhalten.»

«Trotzdem kommt jede Hilfe zu spät.»

«Das ist nicht witzig.»

«Kannst du bitte außer der Leiche auch die Wände der Kammer fotografieren», bat er. «Und die Decke und den Boden.»

Ohne den mumifizierten Leichnam zu berühren, inspizierte er ihn im Schein seiner Taschenlampe. Dabei stellte er sich die Frage, ob die Frau noch gelebt hatte, als sie eingemauert wurde. Ihre zusammengekrümmte Haltung sprach dafür. Eine grauenvolle Vorstellung.

«Schwer abzuschätzen, wie alt die Frau war», murmelte er.

«Nicht so alt. Das Kleid und der Gürtel deuten auf eine junge Frau hin. Auch trägt sie am Fußgelenk ein Kettchen …»

Er beugte sich vor. «Richtig, habe ich gar nicht gesehen. Machst du bitte von der Kette eine Nahaufnahme.»

«Arbeite ich jetzt bei der Spurensicherung?»

«Das überlassen wir den Profis. Aber deine Fotos sind sicher besser.»

«Davon kannst du ausgehen.»

«Sobald du fertig bist, verlassen wir den Tatort und verständigen die Polizei.»

«Tatort?»

«Das hier war ganz sicher kein christliches Begräbnis.»

*

Draußen angekommen, rief Emilio in der Bozner Quästur bei Commissario Sandrini an. Mit ihm arbeitete er häufiger zusammen. Nicht immer reibungslos. Genau genommen hielt Emilio nicht viel von ihm. Aber sie kannten sich, und Sandrini hatte gelernt, dass es nicht zu seinem Nachteil war, mit dem Privatdetektiv zu kooperieren. Denn Emilio überließ ihm gerne den Ruhm, sobald er einen Fall aufgeklärt hatte.

«Baron Emilio, Sie nehmen mich auf den Arm. Die letzte Mumie, die bei uns gefunden wurde, war der Ötzi. Außerdem, wie sollte eine Mumie ins Vinschgau gelangen? Ein Weltkriegsbunker ist doch keine altägyptische Pyramide.»

Sandrinis Begriffsstutzigkeit konnte ganz schön nerven.

«Wir haben auch keinen Pharao gefunden, sondern eine weibliche Leiche, die mumifiziert ist», stellte Emilio klar. «Alle Anzeichen deuten auf ein Gewaltverbrechen hin», fügte er hinzu, falls Sandrini auch das nicht kapiert haben sollte. «Also schicken Sie umgehend ein Team. Wir brauchen einen Forensiker, die Spurensicherung, also das volle Programm.»

Emilio hörte den Commissario stöhnen. «Können Sie sich das nicht endlich mal abgewöhnen?»

«Was soll ich mir abgewöhnen?»

«Immer wieder über Leichen zu stolpern. Wenn Sie wüssten, wie viel Arbeit Sie mir damit machen. Jetzt graben Sie schon jahrhundertealte Leichen aus. Nur, um mich in den Wahnsinn zu treiben.»

Eine interessante Sichtweise, die aber an der Realität vorbeiging.

«Die Frau ist erst wenige Jahre tot», korrigierte Emilio ihn. Auch wenn er sich, was die genaue Zeitspanne betraf, natürlich nicht sicher sein konnte.

«Wie kann sie dann mumifiziert sein?»

«Das wird uns der Gerichtsmediziner erklären.»

«Baron Emilio, wir sind gerade mit einem wirklich schlimmen Fall beschäftigt, der alle unsere Kapazitäten bindet. Ihre Mumie kann doch sicher noch etwas warten.»

«Ist nicht Ihr Ernst? Ich melde Ihnen den Fund einer Leiche, und Sie wollen sich erst um andere Dinge kümmern.» Emilio

«Die Presse informieren?» Sandrinis Stimme überschlug sich. «Um Gottes willen, nur das nicht. Dann habe ich auch noch die Pressefuzzis im Nacken. Baron Emilio, ich flehe Sie an, bitte behandeln Sie den Leichenfund mit äußerster Diskretion. Ich verspreche Ihnen auch, dass ich meine Leute sofort losschicke.»

Na bitte, warum nicht gleich?

«Sehr schön, ich warte.»

Emilio nannte ihm die Koordinaten des Bunkers. Und er gab ihm die Empfehlung, ohne Blaulicht und Sirene zu kommen. Denn in zwei Punkten hatte der Commissario recht: Übertriebene Eile war bei einer mumifizierten Leiche nicht geboten. Und auf übertriebenes Aufsehen konnten sie auch verzichten.