Tilda erwartete ihn im Atelier. Er hatte sein Kommen per Textnachricht angekündigt. Kurz und knapp. Ohne grinsende Emojis mit Herzchen oder so. Die hasste er sowieso wie die Pest. Aber Tilda liebte sie.
Auf der Fahrt nach Klausen fiel ihm auf, dass die Vorderachse seines Landy schnarrende Geräusche von sich gab. Vielleicht hatte sie doch einen Schlag abbekommen?
Vor ihrem Haus angelangt, blieb er einen Moment im Auto sitzen. Die nächsten Minuten würden nicht einfach werden, so viel war klar. Die Vorzeichen hätten aber auch deutlich schlechter sein können. Jedenfalls was die Konsequenzen für seine Person anging.
Er gab sich einen Ruck und stieg aus. Professor Turmstallers Expertise ließ er auf dem Beifahrersitz liegen. Er nahm an, dass er sie nicht brauchen würde.
Tilda empfing ihn im weißen Kimono. Ihr Lächeln wirkte etwas verkrampft. Kein Wunder, erwartete sie doch einen ärztlichen Bescheid, der sie selbst und ihr Kind betraf.
«Ich habe Nachricht aus dem Labor», begann er.
«Nun sag schon, habe ich Antikörper gegen deine Bluterkrankheit oder brauche ich Infusionen?»
Emilio überlegte, wie er es ihr am besten beibrachte.
«Weder noch», antwortete er. «Du musst dir also keine Sorgen machen.»
Sie runzelte die Stirn. «Verstehe ich nicht. Du hast doch gesagt, dass die Infusionen zwingend nötig sind, wenn ich keine Antikörper im Blut habe.»
«Richtig, aber da bin ich von einer anderen Prämisse ausgegangen.»
«Prämisse? Was soll das jetzt wieder heißen?»
Emilio ließ sich mit der Antwort Zeit. Ob sie ahnte, was gleich auf sie zukam?
«Ich bin von der Annahme ausgegangen, dass ich der Vater deines Kindes bin. Stimmt aber nicht.»
So, jetzt hatte er es ausgesprochen. Ohne Umschweife. Wer ihn wie Tilda hinters Licht geführt hatte, konnte keine beschönigenden Worte erwarten. Auch kein Mitgefühl.
Sie schnappte nach Luft. «Natürlich bist du der Vater. Wie kommst du auf den absurden Gedanken …»
Tilda sprach nicht weiter. Vielleicht, weil sie wusste, dass der Gedanke alles andere als absurd war. Und weil sie seinem Gesicht ansah, dass er sich seiner Sache sicher war.
«Ich wollte es zunächst nicht glauben», sagte er, «aber der Befund ist eindeutig.»
«Hast du einen Vaterschaftstest machen lassen? Ohne meine Einwilligung?»
«Nein», log er. «Das kam bei der Blutuntersuchung heraus. Sozusagen ein Nebenbefund.»
«Das soll ich dir glauben?»
«Es klingt vielleicht brutal, aber es ist mir egal, ob du mir glaubst. Ich bin nicht der Vater deines Kindes. So viel steht fest. Ich will dir nicht unterstellen, dass du mich reinlegen wolltest. Aber du hättest mir wenigstens sagen müssen, dass es noch einen anderen … Kandidaten gibt. Das hättest du tun sollen. Das hätte ich von dir erwartet. Dann hätten wir vernünftig miteinander reden können. Aber so hast du mein Vertrauen missbraucht. Ich bin enttäuscht, sehr sogar.»
Das stimmte sogar – bis zu einem gewissen Grad.
«Ich wollte dich nicht reinlegen», beteuerte Tilda kleinlaut. «Ich war mir sicher, dass das Kind von dir ist. Ich habe es mir so sehr gewünscht.»
Plötzlich tat sie ihm leid. Er nahm Tilda in den Arm. Fiel er gerade schon wieder auf sie rein? Oder war er ein sentimentaler Trottel? Vermutlich beides.
«Wir hatten schöne Stunden miteinander», sagte er leise. «Sehr schöne sogar, und ich möchte sie nicht missen. Aber alles hat seine Zeit. Und unsere Zeit ist vorbei. Jetzt muss jeder wieder seinen eigenen Weg finden.»
«Du hast es leicht, du kehrst zu deiner Phina zurück …»
«Ich habe sie nie verlassen.»
«Aber treu warst du ihr auch nicht. Bist eben auch kein Heiliger.»
«Habe ich nie behauptet.»
«Ich dagegen sitze mit einem schwangeren Bauch da, einsam und verlassen.»
Emilio sah sie schräg an. «Jetzt drück nicht auf die Tränendrüse, das passt nicht zu dir. Bislang hast du dein Leben ganz gut alleine gemanagt. Das wirst du auch in Zukunft schaf fen.»
«Kann ich weiter auf dich zählen? Als Freund?»
Emilio wusste nicht, ob er dazu in der Lage war. Wohl eher nicht.
«Ich kann’s versuchen», antwortete er. «Im Übrigen bist du ja nicht wirklich alleine. Was ist mit dem Mann, dem du dein Kind verdankst?»
Sie schüttelte den Kopf. «Geht nicht», flüsterte sie. «Ich werde es ihm nicht sagen.»
Emilio dachte, dass er diese Entscheidung nicht nachvollziehen konnte. In seinem Fall hatte Tilda ja auch keine Skrupel gehabt. Warum also bei dem anderen Mann? Weil er eine kranke Frau hatte?
Emilio wagte einen Schuss ins Blaue. «Du kannst es Matteo ruhig sagen. Er hat ja kein Parkinson, nur seine Frau.»
Tilda erstarrte. Blass war sie schon vorher gewesen. Jetzt wurde ihr Gesicht aschfahl.
«Du weißt … du weißt von … von Matteo», stammelte sie.
Volltreffer! Hatte er es sich doch gedacht. Nicht nur wegen des extravaganten Rings an ihrem Zeigefinger. Matteos Tochter Amelie hatte dementiert, dass die Freundschaft zwischen ihrem Vater und Tilda mehr sei als eine rein künstlerische Beziehung. Dabei hatte er das gar nicht unterstellt und auch nicht danach gefragt. Ein aus der Luft gegriffenes Dementi bestätigte häufig das Gegenteil.
«Natürlich weiß ich von dir und Matteo», behauptete er. «Und ich finde, du solltest mit ihm sprechen. Miteinander ehrlich zu reden hilft in den meisten Situationen.»
«Das sagst gerade du …»
Wie kam sie darauf, dass er nicht ehrlich war?
«So, meine liebe Tilda. It’s time to say goodbye …»
«Bitte nicht! Das letzte Mal habe ich dieses Lied bei einer Beerdigung gehört.»
Er lächelte. «Hast recht. Tot sind wir ja nicht. Das Leben geht weiter. Für uns beide – nur nicht zusammen. Pass auf dich auf …» Er hauchte ihr einen Kuss zu. «Und auf dein Baby.»