Die Quästur in Bozen hatte mehrere Verhörzimmer. Commissario Sandrini hatte bewusst das hässlichste ausgesucht, um Tscharli Niederhofer die Trostlosigkeit seiner Situation vor Augen zu führen. Zuvor hatte er ihn eine Nacht in einer Einzelzelle schmoren lassen. Jetzt sollte er mürbe sein.
Er war fest entschlossen, den Mann nach allen Regeln der Kunst auseinanderzunehmen. Wenn dieser Tscharli Dreck am Stecken hatte, würde er es herausbekommen. Erst recht, wenn er ein Mörder war. Was einfach zu schön wäre. Denn er brauchte dringend, dringend eine Erfolgsmeldung. Seine gegenüber Baron Emilio gestern geäußerte Skepsis, warum ausgerechnet dieser Stronzo aus Lana für den Mord an der Joggerin verantwortlich sein sollte, hatte sich mittlerweile ins Gegenteil verkehrt. Er hatte sich regelrecht in die Vorstellung verrannt, dass er der Täter war. Natürlich war hier der Wunsch der Vater des Gedankens, darüber war sich Sandrini im Klaren. Aber warum sollte nicht mal ein Wunsch in Erfüllung gehen?
Sie saßen sich an einem abgeschabten Tisch gegenüber, im kalten Licht einer Neonröhre. Tscharli mit Handschellen. Zwischen ihnen ein Aufnahmegerät mit Mikrophon. Neben der Tür stand mit stoischer Miene ein uniformierter Beamter. Ein Ventilator drehte sich an der Decke.
Tscharli war mit den Nerven fertig, das war ihm anzusehen. Sein freches Grinsen war ihm vergangen. Dabei hatten sie noch gar nicht begonnen.
Sandrini konfrontierte ihn gleich zu Beginn damit, dass sein Handy zur Tatzeit in genau jener Funkzelle eingeloggt war, in der Lauras Leiche gefunden wurde. Tscharli kam gar nicht auf die Idee, nach der Größe der Funkzelle zu fragen. Denn tatsächlich lag auch seine Wohnung in ihr. Ein Alibi für die Tatzeit hatte er ebenfalls nicht. Und warum er beim Auftauchen der Polizei vor seinem Geschäft in Meran durch die Hintertür hatte abhauen wollen, konnte er nicht erklären.
Tscharli bat um ein Glas Wasser. Sandrini verweigerte es ihm mit der Begründung, dass gerade alle Gläser in der Spülung seien. Den Vorwurf der Schikane ignorierte er.
Sandrini knallte den Untersuchungsbericht der Rechtsmedizin und das Protokoll der Spurensicherung auf den Tisch. Er klopfte mit dem Zeigefinger energisch darauf. Es gebe eine Fülle von Hinweisen, behauptete er, die ihn dringend tatverdächtig machten. Angefangen mit der Plastiktüte, die aus einem Supermarkt in Lana stammte – Sandrini verschwieg, dass es Läden dieser Kette in ganz Südtirol gab –, bis hin zu …
«Was für eine Plastiktüte?», unterbrach ihn Tscharli.
Spielte er jetzt den Ahnungslosen?
«Die du Perversling der Laura über den Kopf gezogen hast!», schrie ihn Sandrini an. «Am Tatort wurden Fußabdrücke gefunden, die zu deiner Schuhgröße passen. In deiner Wohnung haben wir einen Baseballschläger sichergestellt, der Lauras Kopfverletzung erklären würde …»
Tscharli schnappte nach Luft. «Dreht ihr jetzt völlig durch? Ihr könnt mir doch keinen Mord anhängen. Ich bin unschuldig.»
«Gegenüber unserem Fallanalytiker Baron Emilio hast du behauptet, bis zu seinem Eintreffen deine Wohnung nicht verlassen zu haben.»
«Habe ich auch nicht.»
Sandrini schlug mit der Faust auf den Tisch.
«Gelogen, gelogen … Du bist gesehen worden. Wir haben gleich mehrere Zeugenaussagen.»
Tscharli sah ihn verstört an. «Ach ja, kann sein. Ich war kurz draußen, um Semmeln zu holen.»
«Das fällt dir ja früh ein. Nächster Punkt: Laut Baron Emilio kanntest du das Mordopfer nicht. Ihren Namen hast du von ihm das erste Mal gehört. Korrekt?»
«Ich will was zu trinken.»
«Und ich will eine Antwort auf meine Frage.»
«Kann sein, dass ich das so gesagt habe. Aber nur weil mich der Typ genervt hat.»
Sandrini beugte sich vor und fixierte Tscharli mit kaltem Blick.
«Du hast also schon wieder die Unwahrheit gesagt. Du kanntest diese Laura sehr wohl, stimmt’s?»
Tscharli rutschte auf dem Stuhl hin und her.
«Ja, von früher. Ist aber ewig her. Ich habe sie seitdem nicht mehr gesehen.»
«Das glaubst du ja selber nicht. Sie arbeitet bei dir gleich um die Ecke in einem Hotel. Und da willst du ihr nie über den Weg gelaufen sein?»
«Falls doch, haben wir nicht miteinander geredet.»
Sandrini dachte, dass sich Tscharli immer mehr in die Scheiße ritt. Es bereitete ihm große Freude, ihm dabei zuzusehen.
«Du kanntest die Laura also von früher. Interessant. Zusammen mit Dobra Novak – die kanntest du ja auch.»
Tscharli bekam einen roten Kopf. Er versuchte aufzuspringen. Sandrini rammte ihm den Tisch gegen den Bauch. Der Beamte an der Tür eilte hinzu und drückte Tscharli zurück auf seinen Stuhl.
Sandrini grinste. Gleich hatte er ihn so weit. Gleich würde Tscharli zusammenbrechen und alles gestehen.
«Wir haben Zeugen», bluffte Sandrini, «die dich vor sieben Jahren in Mals gesehen haben, zusammen mit Dobra Novak …»
Die Tür ging auf. Mariella steckte ihren Kopf herein.
«Der Baron ist hier, er will Sie dringend sprechen.»
«Jetzt nicht!»
«Er hat eine überaus wichtige Information.»
Sandrini kam der Gedanke, dass diese was mit Tscharli zu tun haben könnte und ihn womöglich endgültig der Tat überführte.
Mariella eilte zu ihm hin und flüsterte ihm was ins Ohr.
«Ich hab Sie nicht verstanden», raunzte er sie an. «Wiederholen Sie noch mal.»
Dabei hatte er Mariella sehr wohl verstanden. Nur wollte er es nicht glauben.
«Baron Emilio lässt Ihnen ausrichten», sagte sie leise, «er kenne Dobras und Lauras Mörder. Tscharli Niederhofer sei es nicht.»
Sandrini kniff die Augen zusammen. War das jetzt eine gute oder eine schlechte Nachricht? Falls sich Emilio täuschte, würde er ihm den Hals umdrehen.
Sandrini schob den Stuhl zurück und stand auf.
«Kurze Pause!», entschied er. «Tscharli, du wartest hier! Mach keinen Ärger, sonst lasse ich dich in eine Zwangsjacke stecken.» Und dem Sicherheitsbeamten befahl er: «Bringen Sie ihm ein Glas Wasser!»