In der Kammer mit der mumifizierten Leiche waren Scheinwerfer aufgestellt. Spurensicherer nahmen mit Spezialgeräten jeden Quadratzentimeter in Augenschein. Zum Beispiel suchten sie nach eingetrockneten Blutspuren und genetischem Material. Dabei standen sie sich wechselseitig im Weg, denn viel Platz gab es nicht – obwohl die Frauenleiche bereits rausgeschafft war und auf einer Spezialfolie im Gang lag. Die erste Untersuchung hatte der Rechtsmediziner Professor Dr. Turmstaller noch am Fundort durchgeführt. Jetzt examinierte er den mumifizierten Körper genauer. Emilio stand neben ihm und beobachtete ihn bei seiner Arbeit. Tilda hielt sich im Freien auf, um sich von den schockierenden Eindrücken zu erholen.
Turmstaller hatte einen ausgezeichneten Ruf. Emilio und er kannten sich von einem früheren Fall und von gemeinsamen Weinverkostungen, weshalb der Rechtsmediziner seine Anwesenheit akzeptierte.
«Genaueres kann ich erst sagen, wenn ich den Leichnam im Institut untersucht habe. Aber zweifellos haben wir hier einen sehr ungewöhnlichen und aus forensischer Sicht überaus faszinierenden Fall», erklärte er.
Daran hatte Emilio keinen Zweifel. Zwar hatte Südtirol mit dem Ötzi die berühmteste Mumie des Alpenraumes aufzubieten, aber allzu häufig dürfte Turmstaller keine auf dem Seziertisch haben.
«Wie kommt es, dass die Frau in dem eingemauerten Verlies mumifiziert ist? Und wie lange ist sie schon tot?»
«Zwei Fragen, mein lieber Baron. Die erste kann ich Ihnen leicht beantworten. Damit ein Körper auf natürliche Weise mumifiziert, müssen besondere klimatische Bedingungen gegeben sein, die zu einer raschen Austrocknung führen und auf diese Weise den Verwesungsprozess unterbinden.»
«Beim Ötzi war es das Eis, nicht?»
«Richtig. Er wurde quasi gefriergetrocknet. Bei unserer armen Frau hier liegt dagegen der Vergleich mit getrocknetem Speck nahe …»
Emilio dachte, dass der Professor eine überaus plastische Art hatte, sein Wissen zu vermitteln.
«Die Kammer hat Lüftungsrohre, so wie der ganze Bunker», fuhr er fort. «Die sind anscheinend noch voll funktionsfähig. Andere Bunker in Südtirol weisen eine hohe Luftfeuchtigkeit auf, dieser aber ist durch die Belüftung extrem trocken. Die hohe Trockenheit ließ die Flüssigkeit im Körper rasch verdunsten, weshalb es zu keiner bakteriellen Verwesung kam. Wie gesagt, das ist wie beim Speck.»
«Ich hab’s verstanden, vielen Dank. Ich werde versuchen, bei der nächsten Brotzeit nicht daran zu denken. Was ist mit meiner zweiten Frage?»
«Wie lange die Frau schon tot ist? Diese Frage ist wesentlich schwerer zu beantworten. Dazu muss ich unter anderem erst die Organe untersuchen. Sie verschrumpeln wie getrocknetes Obst, aber langsamer als die Haut. Darüber hinaus gibt es eine Vielzahl weiterer Indikatoren, die ich jetzt nicht ausführen möchte.»
Keine gefriergetrockneten Lebensmittel, kein Speck, kein Obst … Der Professor konnte einem ein komplettes Abendessen vergällen.
«Sobald ich den Leichnam auf dem Seziertisch habe, kann ich Ihnen Genaueres sagen.»
Die gemeinsam verkosteten Weine schienen sich auszuzahlen. Denn natürlich müsste ihm der Professor gar nichts sagen. Wahrscheinlich dürfte er es nicht einmal.
«Handelt es sich um Monate, Jahre oder Jahrzehnte?», wollte es Emilio dennoch etwas genauer wissen.
«Mehr als ein Jahr, weniger als ein Jahrzehnt.» Der Professor räusperte sich. «Sie könnten mir übrigens noch eine dritte und vierte Frage stellen.»
«Ich weiß, aber ich will Ihre Geduld nicht überstrapazieren.»
«Sie wollen drittens wissen, wie dieses Geschöpf zu Tode gekommen ist, richtig?»
«Natürlich interessiert mich das. Wurde die Frau lebendig eingemauert?»
«Es spricht vieles dafür. Allerdings hat sie am Hinterkopf eine gut erkennbare Verletzung, die von einem heftigen Schlag herrühren dürfte. Ich glaube aber nicht, dass der Schlag ihren Tod herbeigeführt hat. Meine vorläufige und unverbindliche These wäre also, dass die Frau erst niedergeschlagen und dann ohnmächtig eingemauert wurde. Wäre sie bei Bewusstsein gewesen, hätte man sie fesseln müssen. Später dürfte sie dann aufgewacht sein.»
Der Gedankengang war plausibel und logisch schlüssig. Dem Forensiker war seine lange Erfahrung mit Kriminalfällen anzumerken.
«In totaler Finsternis. Eine grauenvolle Vorstellung.»
«Wie gesagt, alles unter Vorbehalt. Und nur unter uns. Wie auch meine Antwort auf Ihre vierte Frage.»
«Die ich noch nicht gestellt habe …»
«Die aber auf der Hand liegt. Natürlich interessieren Sie sich für das Lebensalter der verstorbenen Person. Ich schätze, dass sie noch relativ jung gewesen ist. Vielleicht Ende zwanzig? Wie gesagt, in wenigen Tagen bin ich schlauer.»
Ende zwanzig? Das würde zu Tildas Einschätzung aufgrund des Kleides und des Kettchens am Fußgelenk passen.
«Dann könnten wir uns auf ein Glas Wein treffen?»
Der Professor lächelte. «Aber Sie laden mich ein.»
«Mit dem größten Vergnügen.»