Paul nutzte jede Gelegenheit, um Häuser zu zeichnen. Er wollte Architekt werden. Das war sein großer Traum. Deshalb gab er sich in der Schule auch alle Mühe. Selbst wenn ihm nicht alles gefiel, was sie lernen mussten. Aber mit Fräulein Kamber hatten sie eine Lehrerin, die sie, so gut es ging, förderte. Zwar war ihm schon ganz am Anfang untersagt worden, mit der linken Hand zu schreiben, was für ihn das Natürlichste gewesen wäre. Aber damit war er nicht allein. Auch André und Hans-Georg war das ausgetrieben worden.
Auf seinem Schulweg kam er an der großen Baustelle an der Ecke Grellinger- und Hardstraße vorbei. Am Morgen war er meist in Eile und hatte keine Zeit zuzuschauen, wie die italienischen Gastarbeiter – die «Tschingge», wie man sie nannte – am Fundament arbeiteten. Wie sie Eisen verlegten und verwoben, wie sie Schachtwände konstruierten, in die in einem nächsten Arbeitsschritt der Beton gepresst würde. Aber auf dem Heimweg – am Mittag und am Abend – vergaß er dort manchmal völlig die Zeit und blieb viel zu lange stehen, was ihm immer wieder Schelte, einmal sogar eine saftige Ohrfeige eintrug.
Er lebte zusammen mit seiner Mutter an der Adlerstraße in einer Zwei-Zimmer-Wohnung. Seinen Vater kannte er nicht. Pauls Großeltern wohnten im selben Haus, einem modernen Block, und da seine Mutter arbeitete, war sie über Mittag nie daheim. Dann aß er bei den Großeltern und erst am Abend war er bei seiner Mutter. Mit seinem Großvater verstand er sich hervorragend. Der hatte immer schon gerne mit ihm gespielt oder war mit ihm auf längere Spaziergänge durchs Quartier gegangen, wenn wieder mal dicke Luft geherrscht hatte.
Vor allem die Großmutter war schuld, wenn es gelegentlich dicke Luft gab. Von ihr hatte Paul auch die Ohrfeige kassiert, weil sie seine Antwort frech fand, als er gesagt hatte, ihr Essen sei eben nicht so gut wie das von der Mutter, deshalb habe er nicht pressiert.
Das Schuljahr war fast vorbei. Am Ende der Woche würden sie die Zeugnisse erhalten. Und Paul war sich ziemlich sicher, dass es ihm mit seinen Noten fürs Gymnasium reichen würde. Fräulein Kamber hatte so eine Andeutung gemacht. Dann könnte er den Weg einschlagen, von dem er träumte: die Matur machen, an die ETH gehen und Architektur studieren.
Es war ein sehr warmer, fast schon heißer Tag Mitte Juni. Strahlender Sonnenschein. Und keine Hausaufgaben, da das Schuljahr ja fast zu Ende war, mussten sie nicht mehr büffeln. Also war er wieder bei der Baustelle stehen geblieben. Kurz nach 12. Er hatte fasziniert beobachtet, wie der große Kran die nächste Ladung Armierungseisen ablud und wie der Vorarbeiter – oder Polier, wie man ihn nennt, so hatte ihm der Großvater erklärt – exakte Anweisungen gab, wo die schwere Last hinkommen sollte.
Wieder vergaß er die Zeit. Nicht böswillig, nicht weil er die Großmutter ärgern wollte. Einfach nur, weil er sich nicht satt sehen konnte.
Doch dann rannte er los. Durch den Singerweg hoch, scharf um die Ecke rechts die Adlerstraße hinunter heim.
Seine Großmutter kochte. In beiderlei Hinsicht. Sie kochte das Mittagessen am Herd und sie kochte, weil Paul trotz all seiner Versprechen, sich nicht mehr zu verspäten, schon wieder viel zu lange auf sich hatte warten lassen.
Der Großvater saß schon am Tisch. Auf seinem Teller hatte er schon eine dampfende Omelette. Er schaute Paul an. Wohlwollend, durchaus. Aber Paul konnte an diesem Blick auch ablesen, dass er keine Hilfe zu erwarten hatte. Jedenfalls im Moment noch nicht. Er hatte sich selbst in den Schlamassel geritten und er war, das sollte der Blick wohl heißen, nun dem Zorn der Großmutter ausgeliefert. Der, auch dessen war sich Paul, wenn er mit sich ehrlich war, bewusst, nicht ungerechtfertigt war.
Es war im Grunde ein riesiges Missverständnis. Großmutter hatte das Gefühl, Paul verachte sie und provoziere sie absichtlich fast jeden Tag. Und Paul hatte das Gefühl, seine Großmutter lehne ihn ab, habe ihn nicht gern und bringe kein Verständnis dafür auf, dass er halt gerne an Baustellen stehen blieb, statt sich unverzüglich auf den Heimweg zu machen.
Sie haute ihm keine runter. Sie fluchte und sie schimpfte nicht. Aber ihr Blick war vernichtend. Sie machte sich selbst eine Omelette fertig und setzte sich zu ihrem Mann an den Tisch. Sie machte keine Anstalten, ihm auch noch eine zu backen.
«Wenn Dir diese Bauarbeiter so wichtig sind, dann frag doch, ob du mit ihnen essen kannst, statt heimzukommen», zischte sie Paul an. «Du wirst ja ohnehin bald einer von ihnen sein und Eisen legen.»
«Ich werde nicht Eisen legen», gab er zurück, den Tränen nahe. «Ich werde der Architekt sein, der die Pläne zeichnet!»
«Nein, das wirst du nicht. Dafür müsstest du aufs Gymnasium gehen und später studieren. Beides ist völlig unmöglich. Dafür ist kein Geld da.» Sie kratzte wutentbrannt mit der Gabel in ihrem Teller. «Das heißt, wenn dein Vater zu Dir stehen würde, wäre schon Geld da, aber dem ist deine Mutter ja nicht gut genug. Und du auch nicht!»
Paul schmiss den Tornister auf den Boden. Stampfte, als wäre er noch ein Kleinkind. Aber er war in seiner Wut derart hilflos, dass ihm kein anderes Ventil blieb. Er war nicht jähzornig, es wäre ihm nie und nimmer in den Sinn gekommen, seine Großmutter anzugreifen. Aber er war bis tief in seine Seele verletzt. Weil er wusste, dass sie ihn nicht anlog. Und der Satz «wenn Dein Vater zu Dir stehen würde» hallte in seinen Ohren noch lange nach. Er würde ewig nachklingen, aber das wusste er damals noch nicht.
Er rannte aus der Wohnung, schlug die Tür hinter sich zu, eilte die Treppe nach unten hinaus auf die Straße. Er wollte weg, nur weg.