Wer ein wichtiges Gespräch führen muss, der nimmt das nicht auf die leichte Schulter. Der bereitet sich vor. Der überlegt sich einen ungefähren Gesprächsverlauf und auch, wohin das Gespräch führen soll. Was ist der Grund der Unterhaltung? Was ist ihr Zweck oder Ziel? Wie groß sind die Chancen, dass es Sinn ergibt und der Zweck erreicht wird, und was kann derjenige, der das Gespräch gesucht hat, dafür tun?
David Friedrich tigert durch das Geschäft. Er ist wieder mit dem Morgenflug aus Berlin nach Basel gekommen, wieder zu Fuß vom Bahnhof, wohin ihn die Buslinie 50 vom Euroairport gebracht hat, in die Dalbevorstadt gegangen, aber dieses Mal hat er sich beim Bahnhof keinen Kaffee gegönnt.
Zwar gibt es in Berlin noch immer dies und das zu regeln, aber die Pflöcke, die tragenden Pfeiler, sie sind eingeschlagen. Er hat sein Geschäft dort an Silke und Petra verkauft, hat seine Wohnung ausgeschrieben und hat bereits sortiert, was er nach Basel transportieren lassen möchte und wovon er sich würde trennen können, wollen, müssen.
Seit ungefähr zwanzig Minuten ist er nun im Geschäft, erwartet jeden Augenblick Marie-Jo und geht noch einmal alles durch, was er sich seit drei Tagen für diesen Moment vorgenommen hat. Im Wesentlichen vier Punkte: Die Elsässerin ja nicht erzürnen! Herausfinden, wer von den Angestellten wirklich etwas taugt! Herausfinden, wie es bei der Kundschaft ankommen würde, wenn er, David, den Laden wieder öffnet und übernimmt! Herausfinden, ob sie mitziehen möchte oder nicht. Voilà, sagt er, halblaut, zu sich selbst. So schwer kann das ja nicht sein. Und wie jeder und jede, die diesen Satz sagen, ist völlig klar, dass es eben nicht leicht sein würde, all das zu erreichen.
Marie-Jo trifft pünktlich ein. Er nimmt ihr den Mantel ab, merkt dabei, dass sie immer noch das gleiche Parfüm verwendet wie früher, sieht ihre Perlenohrstecker, die eleganten Schuhe, das Kleid, das vielleicht nicht superteuer ist, aber ganz bestimmt nicht billig. Sie ist eine Elsässerin, die in Paris ohne weiteres als Pariserin durchgehen würde. Chic, selbstbewusst, kerzengerade Haltung, sicherer Blick, aber nicht arrogant. Ihr langes, blondes Haar trägt sie offen.
Es fühlt sich verdammt komisch an, in diesem Geschäft, in dem Marie-Jo ungefähr ein halbes Leben verbracht hat und er etwa drei Monate – alles hochgerechnet –, der Chef zu sein. David fällt erst jetzt ein, wie absolut dumm es gewesen ist, sich hier mit ihr zu treffen. Neutrales Territorium wäre wesentlich klüger gewesen. «Logisch», wie der Alte ihm aus dem Off zuraunt. Was ihm gerade noch gefehlt hat, diese Besserwisserei aus den ewigen Jagdgründen.
Er zögert, denn er weiß nicht recht, wo sie überhaupt miteinander reden wollen. Im Geschäft? Dann könnten Passanten, die neugierig durchs Schaufenster gucken, ja am Ende etwas mitkriegen, und er kann sich ausrechnen, dass eine allfällige Beobachtung sich unter Umständen wie ein Lauffeuer verbreiten würde.
In der Küche? Etwas eng. Etwas zu intim. Er zögert immer noch und nimmt sich – innerlich – schon zum zweiten Mal an der Nase. Zur sorgfältigen Vorbereitung hätte neben der Strategie auch eine Festlegung des Schlachtfeldes – sozusagen – gehört.
«Komm, David, wir gehen lieber in die Küche», schlägt Marie-Jo vor und übernimmt die Führung.
«Gute Idee.»
Fast stoßen sie aneinander, weil nicht ganz klar ist, wer vorangehen soll. Die de facto Hausherrin? Oder der selbsternannte neue Hausherr?
«Ça va?», fragt sie ihn und nimmt auf dem etwas weniger abgeschabten der beiden Stühle in der Küche Platz. So, dass sie den Rücken zum kleinen Fenster hat und er somit das Licht im Gesicht. Immerhin, es ist ein weiterer trüber Februartag, der drittletzte, und ganz so schlimm ist es mit dem Licht nicht.
Was aber meint sie mit «ça va?», wundert er sich? Geht es ihm gut nach dem unerwarteten Tod des Vaters? Geht es ihm gut hier wieder im Geschäft, in dem damals der Vulkanausbruch und der folgende pyroklastische Strom für so viel Verheerung gesorgt haben? Geht es ihm gut in Basel? Geht es ihm gut heute?
«Oui, oui», sagt er und nimmt sich vor, nicht in die Falle zu tappen und im weiteren Verlauf des Gesprächs beim Deutsch zu bleiben, statt irgendwelche Fehler beim Subjonctif oder ähnlichen Tücken des Französischen zu machen.
«Und dir?»
«Ganz gut, merci.»
Eine dumme Pause tritt ein.
«Hmm, also bevor ich dir jetzt erkläre, weshalb ich dich gebeten habe, heute nach Basel zu kommen, möchte ich dir noch einmal herzlich dafür danken, dass du sofort übernommen hast, als Vater starb.» Sie nickt, senkt den Blick ein wenig. Hat sie feuchte Augen gekriegt, verdrückt sie eine Träne? «Das war wirklich großartig, und du hast das perfekt gemeistert. Merci.»
«De rien.»
«Hmm. Also. Marie-Jo. Wie lange bist du jetzt schon hier im Geschäft?» Er weiß es ganz genau: seit April 1987. Sein Vater hatte sie bei einem Kollegen als Lehrtochter kennengelernt, war bei ihrer Prüfung der Experte gewesen und hatte sie nachher sofort gefragt, ob sie nicht bei ihm im Geschäft anfangen wolle. David weiß das alles und fragt trotzdem ...
«Seit April 1987.»
«Wahnsinn. Schon so lange.»
«Ja, dein Vater war mein Prüfungsexperte, und kaum war klar, dass ich bestanden habe, hat er mich gefragt, ob ich bei ihm anfangen will.»
«Ah, ja. Ich glaube, ich kann mich erinnern, jetzt, wo du das sagst.»
«Ich war 18 damals ...»
Sie muss es nicht sagen, weil es beiden klar ist: Sie ist älter als er, fast genau zehn Jahre. Wieder fühlt er sich in die Defensive gedrängt und wieder merkt er, dass das sein eigenes Verschulden ist.
«Marie-Jo, was würdest du sagen, wenn ich dir sage, dass ich das Geschäft ...»
«... schließen willst?»
«Nein. Falsch. Übernehmen will. Weiterführen will.»
Sie schaut ihn mit so großen Augen an, wie er es noch nie zuvor bei ihr gesehen hat. Um sie zu überraschen, braucht es einiges. Ihre Humorlosigkeit wird nur noch von ihrer stoischen Ruhe übertroffen. Marie-Jo braucht fast eine Minute, bis sie sich wieder im Griff hat.
«Wirklich?»
«Höre ich Zweifel oder Freude?»
«Soll ich ehrlich sein?»
«Wenn es geht ...»
«Beides.»
«Aha. Dann habe ich grundsätzlich richtig gehört. Weshalb zweifelst du?»
«Naja, ich hab’ dich zuletzt vor vielen Jahren hier im Geschäft erlebt. Du hattest ziemlich andere Vorstellungen als Werner.»
«Stimmt. Aber ich hab’ in der Zwischenzeit in Berlin einen eigenen Laden aufgebaut – mit sechs Angestellten – und ich bin jetzt nicht grad der größte Figaro der Hauptstadt geworden, aber man kennt mich. In Prenzlberg mindestens.»
«Prenzlberg?»
«Prenzlauer Berg. Ein hipper Stadtteil, der ehemals zur DDR gehört hat.»
«Okay.»
«Was heißt okay?»
«Nun ja, schön, dass man dich dort kennt, es ist übrigens auch nicht so, dass das alles deinem Vater entgangen wäre. Er hat gelegentlich damit angegeben. Aber vielleicht wollen ja die Kundinnen hier etwas anderes als deine Kundinnen in Berlin, in Brezelberg? Vielleicht wollen die am liebsten einfach Werner zurück. Oder mindestens seinen Stil, und, wenn ich das sagen darf, das bist du nicht. Ich erinnere mich an euren Streit damals ...»
«Jaja. Ich auch. Und du hast recht. Natürlich hast du recht: Ich will nicht wie der Al..., hm, wie Vater weitermachen. Wäre ja auch dumm. Aber nehmen wir mal an, du wärst in Zukunft die Garantin für eine möglichst haargenaue Weiterführung der Verhältnisse ...»
«Und du bringst Berliner Luft in den Laden?»
David staunt. Jetzt bleibt ihm der Mund offenstehen. Woher kennt denn eine Elsässerin diesen Ausdruck? Er hat sie aufziehen wollen mit dem «Haargenau», aber sie kontert. Mutig. Schlagfertig. Er muss schmunzeln. Sie sieht es, und er sieht, wie ihre Körperspannung für einen Moment nachlässt, wie sie ihre Waffen für einen Augenblick senkt. Vielleicht kann das ja wirklich etwas werden, denkt er sich.
«Marie-Jo, wollen wir lieber jetzt zum Thema Freude wechseln?»
«Von mir aus gerne.»
«Heißt das, du würdest mitmachen?»
«Ich kann es versuchen.»
«Du hast Zweifel, dass es gelingen wird?»
«Ja, klar.»
«Aber es ist in deinen Augen nicht ausgeschlossen?»
«Nein, überhaupt nicht. Die Frage ist, wen du sonst noch ins Team holen willst.»
«Anuschka?»
«Von mir aus. Sie ist gut. Sie ist effizient. Wenn sie sich noch endlich das Rauchen abgewöhnen würde und etwas weniger Pausen bräuchte ...»
«Silvie?»
«Nein.»
«Nein? Warum nein?» Und selbstverständlich weiß er, dass sie weiß, dass er und Silvie mal etwas gehabt haben. Aber das ist viele Jahre her, ging friedlich über die Bühne, hatte keinerlei Nachwirkungen und kann ohne Weiteres unter den Teppich gekehrt werden.
«Weil sie ein Unruheherd ist. Weil sie sich für besser hält, als sie wirklich ist. Weil sie gelegentlich mit den Kundinnen über Zeug redet, über das man nicht redet.»
«Aha.»
«Weil sie die Küche immer wie einen Saustall hinterlässt, weil sie ...»
«Okay, okay. Also keine Silvie. Und was ist mit Mario?»
«Zu schwul.»
«Bitte?»
«Du hast schon richtig gehört. Einer dieser Schwulen, der das Wort Promiskuität bestens kennt – und ich habe Mühe, als Elsässerin dieses Wort richtig auszusprechen. Ich kann’s dir auch anders beschreiben, direkter, wenn du willst: Er bumst ständig rum, hat x Partner, manchmal gleichzeitig, also ich will sagen, parallel.»
«Na und? Was hat das mit dem Geschäft zu tun? Wir sind ein Salon für Frauen, wenn er ständig mit anderen Männern schläft, berührt uns das nur am Rand. Eigentlich geht uns das gar nichts an.»
«Du hast mich gefragt, wen ich hier im Laden haben will, und ich gebe dir meine ehrliche Meinung. Und meine Meinung ist, dass Mario wegen seiner x Affären eine verdammte Dramaqueen ist. Es lenkt ihn ab. Er hat ständig enttäuschte Lover am Handy oder, was gar nicht geht in meinen Augen, hier bei uns vor dem Schaufenster stehen.»
«Kein Mario.»
«Kein Mario, wenn es nach mir geht.»
«Bleibt noch Patrizia.»
«Patrizia ist okay. Aber schwanger.»
«Oh.»
«Ja, oh. Da musst du jetzt entscheiden. Aber vermutlich darfst du ihr nicht kündigen, jetzt.»
«Aber sie fällt aus, und wir brauchen unbedingt noch jemanden.»
«Richtig.»
So geht es weiter. Und als Marie-Jo anderthalb Stunden später das Geschäft verlässt, sind sie übereingekommen, den Laden schnellstmöglich wieder zu öffnen.
Er setzt sich gleich hin und nimmt zuerst mit Anuschka Kontakt auf. Dann mit Patrizia. Denn die beiden wird es brauchen, um den Betrieb sicherzustellen.
Schließlich hat er riesigen Hunger und geht in Richtung Aeschenplatz, um sich ein Sandwich zu holen und gleich ein paar Sachen zu besorgen, die er als Notnagel im Kühlschrank deponieren will. Die unangenehmeren Gespräche – mit Silvie und Mario – hat er sich für den Nachmittag vorgenommen. Aber es steht für ihn fest, dass er sich an den Rat von Marie-Jo halten wird. Sie hat genügend Erfahrung, um kompetent einschätzen zu können, wer etwas taugt und wer nicht. Dass ihre eigenen Präferenzen und Sympathien mitspielen, ist ihm völlig klar. Wäre ja erstaunlich, wenn es anders wäre.
Aber es geht ihm noch um etwas anderes: Wenn er wirklich hier in Basel Erfolg haben und das Geschäft des Vaters – der Erfolg hatte! – wieder in Schuss bringen will, braucht er ein kleines Team, das harmoniert. Und es ist jetzt der richtige Zeitpunkt, um faule Äpfel auszusondern.
Zur Not, nur zur Not, könnte er ja immer noch Tess aus Berlin holen. Vielleicht etwas zu keck für Basel, vielleicht etwas zu schräg für die Kundschaft hier in der Dalbe mit ihren Piercings und ihren Tattoos, aber sie ist in jedem Fall eine heiße Nummer und vielleicht gar kein schlechter Notfallplan.
Was ihm erst jetzt wieder einfällt: Er hatte Marie-Jo wegen des Kästchens mit den Haaren fragen wollen. Er kann sich kaum vorstellen, dass sie davon nichts weiß, und er hofft, sie könne ihm alles in einem Satz oder zwei erklären.