Am Abend nach der Demütigung durch seine Großmutter, nachdem all seine kindlichen Hoffnungen wie mit einem Hammer in kleinste Stücke geschlagen worden waren, in einer Art und Weise, die er, wenn auch noch Kind, als endgültig verstand, lag Paul reglos in seinem Bett.
Ein schweres Gewitter hatte für etwas Abkühlung gesorgt. Seine Mutter fand ihn als ein Häufchen Elend mit angezogenen Beinen und eng an den Körper gelegten Armen. Er hatte seit dem Frühstück nichts gegessen. Er hatte nicht reagiert, als der Großvater zu ihm gekommen war und versucht hatte, ihn etwas zu beruhigen. Er hatte Großvater fragen wollen, ob es stimme, was die Großmutter gesagt hatte, aber er hatte keinen Ton herausgebracht.
Seine Mutter hatte offensichtlich zuerst mit ihren Eltern gesprochen, bevor sie zu ihm kam. Denn sie war eingeweiht. Sie wusste bereits, was vorgefallen war. Weshalb? Das wusste er nicht. Spielte es eine Rolle?
Sie setzte sich zu ihm. Ganz an den Rand der Bettkante. Sie wartete, bis er sich von der Wand wegdrehte, die er seit einer Stunde oder mehr angestarrt hatte, und sich ihr zuwandte. Sein Blick war herzzerreißend. Er war bleich. Die Haare klebten ihm am Kopf.
«Es tut mir leid, Paul. Großvater hat mir erzählt, was passiert ist. Großmutter war sehr, sehr wütend. Du hättest rechtzeitig zum Mittagessen heimkommen sollen ...»
«Stimmt es, was sie gesagt hat, Mami?»
Sie zögerte. Sie hatte ihm bis jetzt immer ausweichend geantwortet, wenn er hatte wissen wollen, wer sein Vater sei. Aber jetzt sah sie kaum mehr eine Möglichkeit, ihm nicht die Wahrheit zu sagen. Ihrer Mutter war im heiligen Zorn zu viel rausgerutscht. Viel mehr, als sie hätte sagen sollen.
Sie hatten vor einer Viertelstunde – beide aufgebracht – miteinander geredet. Pauls Großmutter hatte sich nicht entschuldigt. Das konnte sie nicht. Hatte sie noch nie gekonnt. Aber in ihrer Verstocktheit und ihrer Einsilbigkeit lag gut sichtbar das Eingeständnis, etwas falsch gemacht zu haben.
«Stimmt es, Mami?»
«Ja. Dein Vater hat mich sitzenlassen. Er ist aus einer sehr guten Familie und er hat mir gesagt, es sei ein Fehler gewesen, sich mit mir einzulassen.»
«Aber stimmt es, dass wir nicht genug Geld haben, damit ich ans Gymnasium gehen kann?»
«Oh, Paul. Schatz. Was soll ich dir denn sagen? Dein Großvater und ich haben es immer wieder durchgerechnet, als wir gesehen haben, wie gut deine Noten sind und dass du es schaffen kannst. Aber die Wahrheit ist – und es bricht mir wirklich das Herz, das zu sagen –, es geht nicht. Es geht nicht! Wir haben zu wenig Geld, um uns das leisten zu können. Sechs Jahre Gymnasium bedeutet drei Jahre zusätzlich, in denen du kein Geld verdienen kannst. Wenn du eine Lehre anfängst, ist das anders. Du wirst nicht viel verdienen, aber du hilfst mit, über die Runden zu kommen. Großvater hilft uns im Moment aus. Aber er wird das nicht ewig tun können.»
«Und wenn du zu meinem Vater gehst?»
«Er bestreitet, dein Vater zu sein.»
«Aber er ist es?»
«Ja.»
«Geh zu ihm. Er muss uns helfen.»
«Nein, Paul, ich habe alles versucht. Er streitet die Vaterschaft ab, und es gibt keine Möglichkeit, ihm das Gegenteil zu beweisen.»
«Wer ist er?»
«Das sage ich dir, wenn du ein paar Jahre älter bist. Jetzt ist es zu früh.»
«Ich will es wissen.»
«Paul. Hör zu. Ich kann es dir jetzt nicht sagen. Bitte hab Verständnis dafür.»
«Aber er lebt hier, in Basel?»
«Ja, er lebt in Basel.»
«Und er ist reich?»
«Ja, er stammt aus einer sehr wohlhabenden Familie, in der es zum guten Ton gehört, dass man sich eine Frau sucht, die ebenfalls aus einer wohlhabenden Familie kommt.»
Paul drehte sich wieder um. Starrte wieder die Wand an. Seine Mutter strich ihm sanft und liebevoll über den Rücken, einmal, zweimal. Dann stand sie auf, ging auf den Balkon der kleinen Wohnung, zündete eine Zigarette an, rauchte und heulte. Heulte und rauchte. Bis das Päckchen Brunette, das sie am Morgen erst angefangen hatte, aufgebraucht war.