«War das Eddie?», fragt ihn Marie-Jo via Spiegelblick, als er wieder ins Geschäft kommt. Ihn fröstelt. Er hätte sich doch eine Jacke anziehen sollen, als er kurz frische Luft schnappen wollte. Aber wer hätte gedacht, dass er am Schluss fast eine Viertelstunde da draußen stehen würde? Konnte ja niemand damit rechnen, dass ihn ausgerechnet der Briefträger aufhalten würde.
«Ja, weshalb?»
«Sag’ ich dir später.» Marie-Jo macht mit ihrer Arbeit weiter, und David ist klar, weshalb sie ihn vertröstet: Sie will nicht vor der Kundin plaudern. Was ein Hinweis darauf sein könnte, dass sie nicht voll des Lobs über Eduardo Armando Fontanella ist. Anuschka schaut ihn auch nur stumm an. Sie scheint auch eine Meinung zu haben, beschließt aber ebenfalls, diese nicht jetzt und nicht hier mit ihm zu teilen.
Aha, da versteckt sich also einiges hinter den vielsagenden, aber wenig verratenden Blicken, denkt David. Er geht davon aus, dass beide Frauen nicht lange warten werden, um ihn in ihre sehr eigene Einschätzung Eddies einzuweihen.
Im Büro liegt die Buchhaltung geduldig auf dem Tisch, hat sich aber leider nicht selbst erledigt. Er braucht einen Moment, um sich zu erinnern, wo er aufgehört hat und was der nächste Gedanke gewesen wäre.
Ja, genau, die Lieferanten und die Abrechnung der Produkte. Farben sind in der Schweiz verdammt teuer, findet er, als er die Beträge addiert. Da machten ihm die Vertreter der großen Hersteller in Berlin weitaus attraktivere Preise. Ob es einen Weg gäbe, sein kleines Lager hier zu deutschen Preisen aufzufüllen?
Er hält sich den Bleistift an den Mund und überlegt, was er sonst noch alles optimieren könnte. Dann fällt ihm der Pfarrer wieder ein. Und Isabelle. Dass er zu einer Entscheidung kommen muss. Dann wandern seine Gedanken aber bereits wieder zu Tess und den vorteilhafteren deutschen Preisen. Wenn er die quirlige Berlinerin mit all ihren Body Modifications im grenznahen Deutschland unterbringen könnte, wäre sie vielleicht auch bereit, für deutsche Ansätze bei ihm zu arbeiten und ihm Ware über die Grenze zu bringen? Immer in kleinen, legalen Portionen selbstverständlich, dafür Tag für Tag? Das wäre ein Superdeal und er müsste nur vorsichtig sein. Von wegen Arbeitsmarktkontrolle und so. Zwar hat er selbst noch nie mit denen hier in Basel zu tun gehabt, aber er ist sich sicher, dass es nicht lange dauern wird, bis der Vertreter irgendeines kantonalen Amtes bei ihm vorstellig wird. Oder die Vertreterin.
Darf er überhaupt den Laden des Vaters einfach so weiterführen? War ihm überhaupt erlaubt, Mario und Silvie die Kündigung auszusprechen? Wie groß wäre der Aufwand, wenn er sich tatsächlich durchringen würde, Isabelle eine Lehrstelle anzubieten?
Er weiß ganz genau, was er tut: Er lässt sich ablenken. Prokrastinieren. Er ist offen für alle möglichen Gedankengänge, wenn er nur nicht mit dieser blöden Buchhaltung weitermachen muss. Früher, auch diesen kurzen Exkurs in die Vergangenheit blockiert er nun nicht, sondern gibt der Versuchung willig nach, früher war es seine Mutter, die immer über den Büchern gesessen und mit ihrer methodischen Art und einer seelenruhigen Präzision für tipptoppe Ordnung im Fadenkörbchen gesorgt hat. Kennt er denn niemanden, der ihm das abnehmen könnte? Einen Schulkollegen? Einen der – im Gegensatz zu ihm – aufs Gymnasium gegangen ist?
Eddie, der Fuchs. Jetzt fällt ihm der wieder ein und sein Teilzeitpensum. Was der wohl noch nebenbei so macht? Hat er Frau und Kinder? Davids Eindruck ist: Dem geht es sehr gut, der hat keinen Grund zum Klagen, und die Grundzufriedenheit, die er ausstrahlt, hängt nicht mit seiner Arbeit als Briefträger zusammen. Da steckt sicher noch etwas anderes dahinter.
Er setzt sich wieder ein bisschen aufrechter hin. Er holt den Schlüsselbund mit dem Waggis und sucht den kleinsten Schlüssel. Wieder läuft es ihm kalt über den Rücken, als er die kleine Tür öffnet und die Skalps sieht. Naja, Skalps klingt jetzt etwas großmäulig, denkt er. Sind eigentlich nichts anderes als Locken. Aber wie sie da so hängen, in diesem versteckten Holzkästchen, so sauber organisiert und so akribisch beschriftet ...
Er pickt zwei, drei heraus, zufällig, ohne ein System. Und wenn sein Vater diese Sammlung doch angelegt hatte, um bei jeder Kundin, der er solch ein Muster gewidmet hat, die präzise Farbe garantieren zu können? Bei der Chevalier und der Werthmüller hatte er vielleicht den Naturton archiviert, falls diese sich die Haare künftig einmal färben lassen wollten? David überlegt. Aber dann hätte er bei den Färbungen auch die exakte Mischung festgehalten. Entweder auf den Schildchen direkt oder aus Platzgründen dort mit einer Nummer oder einem Code auf ein externes Verzeichnis verwiesen. Alles andere wäre sinnlos.
Das kann also nicht die Lösung sein. Dass «die Skalps» nicht alphabetisch geordnet sind, hat er schon festgestellt. Er prüft es noch einmal, als würde er sich selbst nicht trauen. Aber er kommt auch dieses Mal nicht zu einem anderen Schluss.
Nach nur knapp einem Monat im Geschäft gelingt es ihm nur bei einer Handvoll Namen, die passenden Personen zuzuordnen. Entdeckt er eine Gemeinsamkeit?
Nur eine, die offensichtlichste: alles Frauen. Alles Frauen, die Kundinnen seines Vaters waren. Er versucht sich vor Augen zu halten, wer die sechs oder sieben Namen sind, die ihm etwas sagen. Er ruft sich die Gesichter in Erinnerung.
Wenn er sich nicht täuscht, sind es alles Frauen mittleren Alters. 45 oder älter. Und wenn er sich an Baschung und Vollenweider richtig erinnert, sind auch das Frauen, die noch gar keine grauen Haare haben und keine Farbe verwenden, weil sie es (noch) nicht nötig haben. Aber von der Theorie mit den Farbmustern hat er sich doch eh schon verabschiedet. Oder doch nicht? Es ist zum Sich-die-Haare-Raufen. (Nicht nur im übertragenen Sinn.)
«Ähm, hmm», hüstelt Marie-Jo. Sie steht in der Tür zum Büro und beobachtet ihn interessiert.
«Ja, was willst du?», und wie er das sagt, merkt er, dass er fast perfekt in Tonfall und Art seinen Vater nachgeahmt hat. Er fühlt sich auf eine sehr unangenehme Weise ertappt, als hätte er sich nackte Frauen in unzweifelhaften Positionen angesehen. Er schüttelt sich, als müsse er diese fremde Haut abwerfen. «Ja, Marie-Jo, tut mir leid, aber was kann ich für dich tun?»
«Hattest Du nicht vorhin gesagt, du wollest mit mir reden?»
«Genau. Nimm Platz.» Er sieht, dass ihr Blick zu den «Skalps» geht. Vielleicht doch ein guter Moment, jetzt, da er wieder gefasst ist. «Weißt du etwas darüber?» Er deutet auf die Haarmuster. Fast ein wenig zu beiläufig.
«Nein. Ehrlich gesagt, finde ich es ein bisschen unheimlich. Aber es ist mir aufgefallen, dass Werner seit letztem Herbst gelegentlich sehr merkwürdig war. Zwei Mal habe ich ihn beobachtet, wie er beim Aufräumen des Arbeitsplatzes Locken in seiner Hand hat verschwinden lassen. Sehr, sehr schnell und sehr, sehr erpicht darauf, dass es niemand sieht. Aber das Kästchen habe ich erst nach seinem Tod entdeckt. Es stand nie offen. Willst du deshalb mit mir reden?»
«Eigentlich nicht. Aber wenn du irgendeine Idee hast, was das soll, wäre ich froh, wenn du mich einweihen würdest. Ich find’s auch ein bisschen unheimlich, wenn ich ehrlich bin.»
«Ich glaub’, ich kann dir da nicht helfen.»
«Hmm. Was ganz anderes. Wegen des Pfarrers. Dieser Eckert, der heute Morgen da war.»
«Ja?»
«Hast du mitgekriegt, was der will? Er war ja offensichtlich schon einmal hier, als mein Vater noch gelebt hat.»
«Ja, er sucht einen Ausbildungsplatz für eine junge Frau.»
«Genau. Was hat Vater darüber gedacht?»
«Fragst du mich das jetzt, weil du genau das Gegenteil davon machen wirst?»
David ist überrascht. Traut sie ihm das zu? Waren sein Vater und er tatsächlich so gegensätzlich, dass der Junior nun alles anders anpacken will als der Senior, einfach aus Prinzip? Das stimmt doch gar nicht! Er führt doch den Laden fast im ähnlichen Stil weiter. Hat er denn alles umgekrempelt? «Hab’ ich denn alles umgekrempelt? Es ist doch nicht meine Absicht, alles auf den Kopf zu stellen, was der Alte gemacht hat!»
«Sorry. Du hast recht. Das war dumm von mir. Je m’excuse.»
«Also, noch einmal: Was hat denn Vater darüber gedacht? Wann hattet ihr überhaupt zuletzt einen Lehrling?»
«Anuschka.»
«Ach, das wusste ich ja gar nicht. Das ist in dem Fall noch nicht lange her.»
«Nein, ist es nicht. Dreieinhalb Jahre. Und dein Vater war immer stolz darauf, wie er mit den jungen Leuten hat umgehen können. Er hat sich stets persönlich um sie gekümmert. Und weißt du was, David? Er hat sich immer etwas darauf eingebildet, bei der Auswahl ein gutes Händchen zu haben. Talente zu entdecken. Wie Mario zum Beispiel.»
«Mario war auch mal Lehrling hier?»
«Logisch.»
«Was heißt das nun in Bezug auf diese Isabelle?»
«Er hätte es wohl gemacht.»
«Rechnet es sich denn?»
«Du sitzt doch über den Büchern.»
Er findet ihre Antwort schon wieder eine Spur zu schnippisch und blickt sie etwas missbilligend an. Sie merkt es. Zieht ein bisschen eine Schnute. Sagt aber kein Wort.
«Wir machen das so», sagt er, «wir lassen den Herrn Pfarrer samt seinem Mündel am besten gleich morgen antanzen. Ich will mir das Mädchen mal ansehen. Heute Nachmittag mache ich mal ganz grob Buchhaltung. Bis jetzt läuft der Laden ja nicht schlecht.»
«Aber du weißt schon, dass du dich für drei Jahre verpflichten musst, wenn du einen Lehrling ins Geschäft holst?»
«Ja. Das ist genau der Punkt. Wenn ich zusage, muss das auch Hand und Fuß haben.»
«Wobei es auch so Lehrverbünde gibt, soviel ich weiß. Mehrere Geschäfte teilen sich einen Lehrling. Du müsstest dich mal beim Gewerbeverband kundig machen.»
«Ich muss noch viel, Marie-Jo. Ich bin noch nicht einmal als rechtmäßiger Inhaber des Geschäfts angemeldet. Aber eins nach dem anderen.»
«Genau.» Anuschka betritt das Büro. Macht ein Zeichen in Richtung Marie-Jo. Eine Kundin offenbar.
Die Elsässerin kapiert. «Ich muss, Chef.»
So hat sie ihn erst einmal genannt. Er hört die Mischung zwischen Ironie und Anerkennung ohne Weiteres heraus. Sie zwinkert nicht, sie blinzelt nicht, sie lächelt nicht, sondern steht auf, streicht sich das Kleid glatt, nimmt Haltung an, wie David das nennt. Kerzengerade, fast schon aristokratisch. Irgendwann muss er einmal herausfinden, wer eigentlich ihre Eltern sind, was ihr familiärer Hintergrund ist. Sie ist schon fast draußen, als sie sich noch einmal rasch zu ihm umdreht.
«Übrigens ...»
«Ja?»
«Patrizia hat angerufen.»
«Und, wie geht es ihr?»
«Nicht gut. Also nichts Schlimmes. Wir müssen uns keine Sorgen machen oder so, aber mit Arbeit ist nichts mehr, bis das Baby auf der Welt ist.»
«Dachte ich mir. Wir werden es halt ohne sie schaffen müssen, für den Moment.»
«Genau. Das kriegen wir hin.»
Sie verabschiedet sich, die Tür ist schon fast zu, als sie noch einmal den Kopf reinstreckt.
«Ja, was ist, Marie-Jo?»
«Wegen Eddie.»
«Was ist mit Eddie.»
«Pass auf!»