Die Überraschung

David hat gegen Mittag eine Kundin, die sich als geschwätzig erweist. Eine ältere Dame, die offenbar während fast 40 Jahren seinem Vater stets Vertrauen schenkte. Er sei so ein toller Coiffeur gewesen, so ein unermüdlicher Arbeiter. Der vor allem während den Festtagen Außergewöhnliches geleistet habe. Blablabla.

Es ist ihm immer ein bisschen unangenehm, wenn er wäscht oder schneidet und ihm die Kundinnen von seinem Vater vorschwärmen. Wie soll er denn damit umgehen? Ignorieren? Es als Ehre und Anerkennung auffassen? Oder als Herausforderung? Als Messlatte? Und, das wundert ihn am meisten: Weshalb kommen all diese Frauen, die bei Monsieur Werner so glücklich waren, nun zu ihm? Weil ein junger Friedrich zweifellos das kann, was der alte Friedrich konnte? Weil ihnen das Geschäft vertraut ist und sie Marie-Jo und Anuschka kennen? Weil sie ihm eine Chance geben wollen?

Was genau hat eigentlich der Alte damals erzählt, als David sang- und klanglos abgehauen ist? Hat er überhaupt ein Wort darüber verloren? Schlecht gemacht bei seiner Kundschaft hat er den Junior auf jeden Fall nicht, sonst würde Frau Wettstein mit ihren bald 80 Jahren nicht pausenlos plaudernd bei ihm auf dem Stuhl sitzen.

In der Mittagszeit findet er kurz Gelegenheit, mit Anuschka zu reden. Sie ist einer Lehrtochter gegenüber nicht abgeneigt, wagt es aber, ihn ganz direkt zu fragen, ob sich das denn rechne. Noch sei die Bibel ja nicht wieder voll.

Das wisse er, sagt er ihr. Aber er sei zuversichtlich, bald wieder Zahlen zu schreiben wie noch am Ende des letzten Jahres. Und zudem habe sie ja sicher mitgekriegt, dass Patrizia wegen der Schwangerschaftsbeschwerden nicht mehr arbeiten könne.

«Mario fehlt», merkt sie noch an. Etwas scheu. Er hat das Gefühl, als habe Anuschka lange überlegt, ob sie das überhaupt erwähnen soll oder nicht.

«Meinst du menschlich oder als Arbeitskraft?»

«Menschlich nicht unbedingt. Er konnte zwar recht witzig sein und hat auch manchmal für gute Stimmung gesorgt, wenn der Chef mal Stress hatte oder Marie-Jo einen ihrer Stummtage. Gleichzeitig war er schwierig. Immer diese Anrufe und all das Drama. Das fand ich gar nicht gut. Aber er ist ein wirklich guter Coiffeur, und wir haben ein paar Kundinnen gehabt, die auf ihn geschworen haben.»

David nimmt das interessiert zur Kenntnis. Er weiß auch, dass Anuschka kein Riesentalent ist, das hat er in den letzten Wochen selbst sehen können. Das Schneiden ist ihre Schwäche. Sie hält aber auch die Schere etwas unbeholfen. Komisch, dass Vater da nie eingegriffen und korrigiert hat. David kann sich erinnern, wie pedantisch er früher gewesen ist, der alte Herr, wenn ihm etwas Handwerkliches nicht ganz in den Kram gepasst hat. Dafür ist sie überdurchschnittlich gut mit Farben und Mèches.

Am Nachmittag, die Buchhaltung hat er für den Moment ad acta gelegt, fängt er an, ein paar der unangenehmeren Dinge anzupacken, die er seit ein paar Tagen erfolgreich vor sich hergeschoben hat.

Er ruft zuerst beim Gewerbeverband an und fragt, wie er vorgehen müsse, wenn er das Geschäft des Vaters weiterführen wolle. (Als ob er das nicht schon täte!) Die Frau am Telefon ist geduldig und schildert ihm Schritt für Schritt, was es alles zu erledigen gilt. Er hört aus dem Gespräch heraus, dass sie genau weiß, wer Werner Friedrich war, wo das Geschäft ist und dass es einen Todesfall gegeben hat. (Vermutlich weiß sie auch ganz genau, dass er längst übernommen hat.)

Er hat sich schon fast verabschiedet, da fällt ihm Tess ein. Vorsichtig sondiert er, wie das genau mit Arbeitsbewilligungen für Deutsche aussehe. Und ob es grundsätzlich eine Rolle spiele, wo Tess wohne, wenn sie bei ihm arbeite, diesseits oder jenseits der Grenze. Gemäß den Auskünften der Frau des Gewerbeverbands sollte dies alles keine Probleme bereiten. «Solange die Schweiz mit der EU die Personenfreizügigkeit weiter als einen der Eckpfeiler des bilateralen Abkommens unberührt lässt, steht es Ihnen frei, eine Deutsche zu beschäftigen. Ob sie in Basel wohnt oder in Lörrach oder Weil tut nichts zur Sache. Sie kann auch in Berlin wohnen und jeden Tag mit EasyJet anreisen. Geht uns nichts an.»

Nachher kontaktiert er das Erbschaftsamt. Wieder hat er eine Frau am Apparat. Wieder erhält er recht klare Auskünfte. Schritt für Schritt erklärt sie ihm, was er alles zu erledigen habe. Da er der einzige Nachkomme sei, gehe sie davon aus, dass sich sämtliche Fragen recht schnell und speditiv klären lassen sollten. Wenn er alle erforderlichen Dokumente beisammenhabe, solle er doch einen Termin vereinbaren und vorbeikommen. Ob es ein Testament oder eine schriftliche Verfügung seines Vaters gebe, will die Frau wissen.

David ist ehrlich. Er könne das weder mit Ja noch mit Nein beantworten, er wisse es schlicht und einfach nicht.

«Gut, versuchen Sie das abzuklären. Ihr Vater war ja Geschäftsinhaber, wie Sie mir gerade eben erklärt haben. Gab es denn einen Treuhänder? Hat er selbst die Steuerformulare und alles andere ausgefüllt? Meistens wissen die Treuhänder auch darüber Bescheid, ob es ein Testament oder so etwas gibt.»

Frau Steinberger hält ihn zwischen 14.30 und 16 Uhr davon ab, mehr herauszufinden. Immerhin fällt ihm, während er ihr die Haare macht, ein, wen er ganz direkt fragen kann: Marie-Jo. Sie weiß so ziemlich alles, was das Geschäft betrifft, sie weiß bestimmt auch, wie Vater die Finanzen geregelt und gepflegt hat.

«Frag mal bei STB-Treuhand an», rät sie ihm. «Ich weiß nicht mehr genau, mit wem er dort immer telefoniert hat. Frau Buser oder Huser oder so.»

In seinem Eifer, an diesem Tag so viel wie möglich ins Reine zu bringen, macht er das, sobald er Zeit dafür findet. Bei der STB gibt es tatsächlich eine Frau Buser, und auch sie scheint ganz genau zu wissen, wer er ist. Das eindeutigste Indiz dafür: «Ich hatte schon seit ein paar Tagen mit ihrem Anruf gerechnet, Herr Friedrich, denn wie ich gehört habe, ist ja das Geschäft wieder offen. Da gibt es noch ein paar Sachen, die wir in dem Fall miteinander besprechen müssen.»

Er vereinbart einen Termin mit ihr.

Anschließend ruft er Tess an. Versucht, nochmals zu sondieren, ob sie überhaupt Lust hätte, in die Schweiz zu kommen und hier für ihn zu arbeiten. Er erklärt ihr die Situation, sagt, er könnte jemanden wie sie gut gebrauchen.

«Was heißt denn das nun wieder? Jemanden wie mich ... Du meinst abgefahren. Ein bisschen wild. Nicht so brav wie du?»

«Ja, so ungefähr.»

«Und warum haste diesen Mario vor die Tür gestellt? Seit wann biste gegen Schwule?»

«Ich hab’ nichts gegen Schwule. Ich will bloß nicht so ein Geläuf und einen Mitarbeiter, der ständig abgelenkt wird.»

«Aha. Biste denn sicher, dass ich nicht auch ein bisschen Unruhe in deinen süßen kleinen Laden bringe?»

«Kann schon sein. Aber in einer anderen Art. Und vor allem will ich jemanden, der gut ist. Der vielleicht auch ein bisschen modernere Kundschaft anzieht.»

«Verstehe. Den Alten magste mich also nicht zumuten?»

«Jetzt hör doch auf, mir jedes Wort im Mund umzudrehen, Tess. Sag mir ganz einfach, ob du dir vorstellen kannst, April und Mai bei mir zu arbeiten. Alles andere können wir immer noch besprechen.»

«Und du zahlst mir den Flug?»

«Ich helf’ dir auch ‘ne Unterkunft zu finden. Ja.»

«Okay. Geb’ dir in den nächsten Tagen Bescheid. Muss darüber schlafen.»

«Nochmal?»

«Ja. Ich bitte ergebenst darum. Wer geht schon freiwillig in die Provinz.»

«Ach, übrigens. Woher weißt du denn, dass der Laden klein und süß ist?»

«Bin ich von gestern?»

«Biste nicht, nein.»

«Kennst du Google Maps?»

«Ja, davon gehört.»

«Hab’ halt recherchiert. Sieht ein bisschen nach Museum oder so aus, die Gegend, wo der Laden ist.»

«Ist halt alt.»

«Nix kaputt gegangen im Krieg, eh?»

«Gab hier keinen Krieg.»

«Sag ich ja.»

«Pass auf dich auf, Schatzi!»

«Du auch, Davi. Und lach dir um Himmelswillen endlich ein Mädel an. Du vertrocknest noch. Weißt du, zwischen den Beinen. Aber in dem süßen kleinen Museumsladen läuft dir natürlich nichts Heißes über den Weg.»

«Wie du, meinst du?»

«Was auch immer ich meine. Mach dich ran, Davi. Ist ja kein Zustand.»

Zuversichtlich, weil er Tess kennt, setzt er sich nachher ins Büro. Er will gerade versuchen, «die Skalps» in eine Ordnung zu bringen – nachdem er mit dem Handy fotografiert hat, wie sein Vater sie in dem Schrank aufgehängt hatte, um das allenfalls rekonstruieren zu können –, als das Telefon schon wieder klingelt. Nicht sein Handy, sondern das Festnetz. Marie-Jo ist dran und sagt ihm, er werde gesucht, sie verbinde.

Ein Herr Hofmann von der Basler Versicherung informiert ihn darüber, dass sein Vater mehrere Policen bei ihm abgeschlossen hatte. Hausrat, Geschäft, Unfall – und eine Lebensversicherung.

«Eine Lebensversicherung? Davon wusste ich nichts.»

«Ja, vor vielen Jahren. Und weil sein Tod sehr unverhofft gekommen ist, ist es unsere Aufgabe, ein wenig nachzufragen. Wir haben uns auch bereits mit der Polizei in Verbindung gesetzt, denn es geht doch um eine erhebliche Summe.»

«Was soll denn am Tod meines Vaters besonders sein? Er ist von einem Auto angefahren worden, unglücklich gestürzt und hat sich dabei schwere Kopfverletzungen zugezogen, denen er, soweit ich weiß, auf der Stelle erlegen ist. Ärzte waren ja sehr schnell zur Stelle. Man hat ihm leider nicht mehr helfen können.»

«Das weiß ich, Herr Friedrich, das weiß ich. Und ich spreche Ihnen an dieser Stelle mein tiefes Beileid aus. Hätte ich selbstverständlich sofort machen sollen, bitte verzeihen Sie mir. Ich stelle das alles auch überhaupt nicht in Frage. Aber ich hätte zum Beispiel gerne gewusst, weshalb er an diesem Tag im Spital war. Gab es möglicherweise einen Befund, der für ihn verheerend war?»

«Sagen Sie, Herr Hofmann, geht’s noch? Sind Sie noch ganz bei Trost? Sie wollen doch nicht etwa ernsthaft meinem Vater unterstellen, dass er sich quasi vor ein Auto geworfen hat?»

«Beruhigen Sie sich, Herr Friedrich. Das würde ich selbstverständlich nie tun ...»

«Aber Sie haben gerade etwas in der Richtung angedeutet!»

«Ich habe mich nur erkundigen wollen, ob Sie wissen, wen er im Spital besucht hat. Oder weshalb er an jenem Tag überhaupt ins Spital gegangen ist.»

«Ehrlich gesagt: Ich finde Sie ziemlich impertinent, Herr Hofmann. Und ich weiß nicht, ob ich Ihnen überhaupt solche Fragen beantworten soll.»

«Noch einmal, Herr Friedrich: Regen Sie sich doch nicht auf. Sagen Sie mir einfach, dass Sie es nicht wissen. Wenn mich nicht alles täuscht, waren Sie ja zu dem Zeitpunkt in Berlin und haben erst einige Stunden später überhaupt erst erfahren, dass Ihr Vater gestorben ist. Und wenn ich richtig informiert bin, standen Sie ihm ja auch nicht sehr nahe. Sie hatten ja kaum mehr Kontakt.»

«Verdammt. Sie sind aber schon sehr penetrant. Und Sie scheinen schon ziemlich gewühlt zu haben. Aber, um Ihren Rat zu befolgen, Herr Hofmann: Ich habe keine Ahnung, was mein Vater an diesem Tag im Spital gemacht hat, und kann Ihnen somit diesbezüglich nicht weiterhelfen.»

«Gut. Ich danke Ihnen, lieber Herr Friedrich. Ich werde mich in dem Fall beim Spital um den Obduktionsbefund bemühen.»

David ist derart in Rage, dass ihm dieser letzte Satz erst so richtig einfährt, nachdem er den Hörer aufgehängt hat. Was hat dieser Vogel gesagt? Er will den Obduktionsbefund einsehen? Geht das? Darf der das? Und gibt es denn einen Obduktionsbefund?

Er bleibt starr im Stuhl sitzen. Gerade als er gedacht hat, die meisten Brocken, die er heute hatte aus dem Weg räumen wollen, hinter sich zu haben, kommt dieser Hofmann.

Als er sich etwas beruhigt hat, ruft er Marie-Jo zu sich ins Büro. Sie sieht ihm sofort an, dass er außer Fassung ist.

«Frag mich jetzt bloß nicht zu viel, Marie-Jo. Ich habe eben gerade mit einem Heini von der Basler Versicherung geredet. Der hat angedeutet, dass mein Vater vielleicht den Unfall, bei dem er ums Leben gekommen ist, selbst herbeigeführt haben könnte.»

«Quoi?»

«Ja. Im Ernst. Die Theorie lautet, dass er an jenem Nachmittag im Spital war, weil er einen Befund erhalten hat. Und der Befund sei so schrecklich gewesen, dass er sich vor das nächstbeste Auto geworfen hat.»

«Merde. Spinnen die? Dein Vater war bumsfidel. Okay. Vielleicht kein so gutes Wort wegen bums und so. Quietschfidel? Sagt man das?»

«Absolut. Er war also nicht geknickt? Er zeigte keine Anzeichen von Alzheimer? Er war nicht kurzatmig oder hatte unerwartet und in kurzer Zeit viel Gewicht verloren?»

«Wovon redest du, David? Spinnst du jetzt? Ich habe dir doch gerade gesagt: Deinem Vater ging es gut. Er war glücklich und zufrieden. Sogar sehr glücklich ...»

«Was heißt das nun wieder, Marie-Jo?»

«Er war frisch verliebt.»

Kann eine Kinnlade noch weiter herunterrutschen nach einem nervenaufreibenden Telefonat mit einem verdammten Versicherungstrottel, das einen schon völlig aus der Fassung gebracht hat?

Ja. Sie kann.