Die Kontaktaufnahme

«Krächz.»

David hört schon, als er die Wohnungstür aufschließt, den Kommentar. Er ahnt sofort, von wem er kommt.

«Krächz.»

«Jaja», gibt er zur Antwort. Bevor er sich aber anschauen geht, was die doofe Krähe wieder angestellt hat, zieht er die Schuhe aus, hängt die Jacke an die Garderobe, legt den Schlüsselbund auf die Ablage im Gang. Das gewohnte Ritual.

«Krächz.»

Der blöde Vogel lässt ihm keine Ruhe. Also geht er nachschauen. Die Krähe hockt auf dem Balkongeländer, streckt ihm aber den Hintern hin und richtet ihre Kommentare demnach weniger an ihn als an irgendwelche Artgenossen, mit denen sie nicht einer Meinung zu sein scheint. David hört zwar keine Gegenstimmen, aber so energisch, wie sie mit ihrem schwarzgefiederten Körper wackelt, während sie reklamiert, kann das kaum Friede, Freude, Eierkuchen verheißen.

Als David in der Küche das Licht anschaltet, denn der Tag neigt sich allmählich dem Ende zu, und rasch seine Einkäufe in den Kühlschrank versorgt, herrscht draußen für einen Moment Ruhe. Und dann schaut ihn der große, schwarze Vogel durch die Scheibe neugierig an. Hat er nur darauf gewartet, dass er heimkommt? Wie lange er wohl schon da sitzt? Und was genau ist es, das er von ihm nun gerne hätte? Einen weiteren faulen Apfel? Etwas Fleisch? Krähen sind, davon ist David überzeugt, Allesfresser. Frau Krächz ist also kaum vegan und nur auf Äpfel fixiert. Sie hätte bestimmt auch Spaß, wenn ihr ein anderer Leckerbissen vorgelegt würde.

Er wirft einen längeren Blick in den Kühlschrank und ist tatsächlich versucht, dem gefiederten Besucher eine kleine Portion Trockenfleisch hinzuwerfen, als er sich die Konsequenzen überlegt. Wenn er jetzt anfinge, dem blöden Gekrächze nachzugeben, würde das vermutlich kein Ende mehr nehmen. Zudem ist der verdammte Vogel ein Wildtier, das sich durchaus selbst auf Nahrungssuche begeben kann und nicht von einem Menschen erwarten sollte, dass man es füttert.

«Krächz», lautet der Kommentar dazu.

«Es war nicht einmal ein harter Winter, du Trottel. Was würdest du machen, wenn jetzt noch Schnee liegen würde und die Temperaturen seit ein paar Tagen weit unter null wären?» Dass er sich in seiner Küche mit einer Krähe unterhält, die zudem noch durch eine Scheibe von ihm getrennt ist, stört ihn nicht weiter. Kriegt ja niemand mit. Und außerdem, findet er, sei es durchaus an der Zeit, in der Sache auch mal seine Meinung einzubringen.

Der Vogel schweigt nun. Betreten. Sieht ihn aber immer noch an und hält den Kopf wieder so schräg, wie er das schon beim letzten Mal getan hat.

Botschaft angekommen, vermutet David, geht in den Flur und sucht sein Handy. Es ist kurz nach 19 Uhr. Die heilige Zeit in der Schweiz, zu der es sich nicht gehört, jemanden anzurufen, kommt erst. So gegen 19.30 Uhr, kurz vor den Hauptnachrichten im Schweizer Fernsehen, beginnt die Tabuzone.

Er ist etwas nervös, als er die zehn Zahlen auf dem Display seines Smartphones eintippt. Wie soll er sich vorstellen? Was soll er sagen? Wieviel muss er erklären?

Es klingelt. Vier Mal, fünf Mal, sechs Mal, bis sich der Anrufbeantworter meldet. Er habe die Voicemail von Francine Jeunot erreicht. Er solle doch bitte nach dem Signalton eine Nachricht hinterlassen. Sie rufe zurück. Das Ganze zuerst auf Mundart, dann auf Französisch. Er muss innerhalb weniger Sekunden entscheiden, was er macht. Botschaft hinterlassen oder nicht?

Er legt auf. Es scheint ihm sympathischer, wenn er ganz direkt mit der Frau reden kann, statt sich – vielleicht ungeschickt – auf Band vorzustellen und darauf hoffen zu müssen, dass sie sich bei ihm meldet.

Es gibt nur ein paar Spaghetti, etwas Pesto und eine große Schüssel Salat an diesem Abend. Nachher wählt David noch einmal Francine Jeunots Nummer, kommt wieder nicht weiter als bis zur Aufforderung, eine Nachricht zu hinterlassen. Da sind die Nachrichten und die Sendung «Meteo» – die Wetterprognosen – bereits vorbei. Er ist enttäuscht. Er hätte gerne möglichst rasch mit dieser Francine geredet.

Er holt seinen Laptop und googelt ein bisschen. Den Fernseher schaltet er ab. Eh nur langweiliges, dummes Zeug. Vielleicht findet er online ein Foto dieser Francine? Denn das nimmt ihn am meisten wunder: Was für eine Partnerin sich sein Vater ausgesucht hatte.

Davids Mutter war eine elegante Frau gewesen. Mit Stil. Sie hatte in einer Arztpraxis gearbeitet und war mit ihrer Ruhe und ihrer Besonnenheit dort sehr geschätzt gewesen. Sie hatte den Streit zwischen ihrem Mann und ihrem Sohn noch miterlebt, und das Zerwürfnis hatte ihr zugesetzt. Beim einzigen halbwegs vernünftigen Gespräch, das David mit seinem Vater nachher noch geführt hatte – bei der Beerdigung der Mutter – hatte der Alte ihm mehr oder weniger vorgeworfen, an der Krankheit seiner Mutter mitschuldig zu sein, da es ihr derart große Sorgen bereitet habe, wie sich ihr Mann und ihr einziges Kind derart hatten zerstreiten können.

Aus dem einzigen halbwegs vernünftigen Gespräch war danach totale Funkstille geworden, denn dieser absurde Vorwurf brachte David so in Rage, dass er dem Vater einfach davonlief, noch während die Urnenbestattung im Gange war. Er beschloss, sich nie mehr bei ihm zu melden. 15 Jahre würden es im Juli genau sein. 15 Jahre!

Wenn an der Sache etwas stimmte, dann das: Vater und Sohn gemeinsam hatten Yvonne Friedrich große Sorgen bereitet, und wenn jemand wirklich schuld sein sollte an ihrer Krankheit – oder vielleicht eher am Krankheitsverlauf –, dann beide und ganz sicher nicht er allein.

David hatte, solange sie noch am Leben gewesen war, auch immer mit seiner Mutter telefoniert. Hatte ihr berichtet, wie es ihm in Berlin erging, wie es am Anfang schwierig gewesen war, Fuß zu fassen und etwas aufzubauen. Von seinem Privatleben hatte er absichtlich möglichst wenig preisgegeben, unter anderem, weil er es vermeiden wollte, dass seine Mutter die Frau an seiner Seite unbedingt kennenlernen wollte. Denn wie hätte er das angestellt, solange er mit seinem Vater kaum reden konnte?

Google liefert ihm keine vernünftigen Hinweise auf Frau Jeunot. Er findet zwar heraus, dass sie in Basel arbeitet – in einem Geschäft im St. Johann, das ihm nichts sagt – aber ein Foto kann er nicht aufstöbern.

Stattdessen beginnt er, zuerst nach Eddie Ausschau zu halten, findet aber auch über ihn erstaunlich wenig. Und wie so oft, wenn er sich in dem blöden Internet rumtreibt, führt das Hundertste zum Tausendsten. Von Eddie geht es weiter zu anderen ehemaligen Klassenkameradinnen und -kameraden. Obwohl er es grundsätzlich vermeidet, Facebook zu besuchen, stößt er dort auf die meisten Spuren. Erstaunlich, wie sich die entwickelt haben und was aus ihnen geworden ist. Und was die Frauen anbetrifft: Jene, die in der Primarschule eher hässliche Entlein gewesen sind, lassen ihn nun staunen. Vreni Zimmermann? Wow! Dorothée Hasler? Wow!

So allmählich fällt ihm wieder ein, wie er denselben Effekt schon einmal erlebt hat. Das kann eigentlich nur an der Klassenzusammenkunft im Schlüssel gewesen sein. Vage meint er sich auch zu erinnern, dass er mit Jacqueline geredet – geflirtet! – hat. Und weil seine Erinnerungen etwas bröselig sind, fragt er sich plötzlich, wie nüchtern er damals gewesen sein mag. Hatte es nicht gleich zu Beginn diesen Apero-Mix gegeben, der ihm so gemundet hatte? Und, interessant, verhielt sich heute Vormittag Eddie nicht deswegen etwas seltsam, als sie kurz über den Abend im Schlüssel geredet haben?

Je länger er darüber nachdenkt und je intensiver er die Fotos anschaut, desto mehr beschleicht ihn das Gefühl, er habe da eine Lücke und Eddie sei es, der präziser Auskunft geben könnte.

Gegen zehn gönnt er sich noch einen Whisky. Einen Lagavulin. Er ist müde, der Tag war anstrengend, und er weiß, dass er morgen ganz schön ausgebucht ist; zwei Kundinnen von Patrizia sind jetzt halt bei ihm gelandet. Zwei weitere hat er an Anuschka übergeben können. Bevor er aus dem Geschäft ging, hatte er noch einen Blick in die Bibel geworfen, um morgen nicht unangenehm überrascht zu werden.

Nach dem Whisky schon in die Falle? Er kommt sich vor wie ein alter Mann. Tess’ dumme Bemerkung hallt nach: «Ausgetrocknet.» Höchste Zeit, dass er in Basel anfängt, seine Netze auszulegen und eine Bar zu suchen, die ihm passt. Er wirft einen Blick auf sein Handy. «Neue Nachricht» wird angezeigt. Kein Name, aber eine Nummer. Weil er sie an diesem Abend zwei Mal gewählt hat und weil er über ein recht gutes Zahlengedächtnis verfügt, weiß er sofort, von wem die Nachricht ist. Francine.

Sie hat ihm eine SMS geschickt: «Lieber David. Es ist leider spät geworden heute. Ich werde Sie morgen anrufen. Freut mich sehr, dass Sie sich bei mir gemeldet haben. LG F.»