Das Ohrläppchen

Der normale Arbeitstag eines Coiffeurs – oder einer Coiffeurin – endet nie um 17 Uhr. Oder um 18 Uhr. Wenn es gut geht, taucht die letzte Kundschaft um 17.30 Uhr auf, weil es ihr «unter gar keinen Umständen» möglich war, früher die Arbeit zu verlassen. Das mag sein. Aber manche machen sich auch nur wichtig. Und weil Färben, Waschen, Schneiden, Föhnen alles in allem gut zwei Stunden dauert, wird es an manchen Tagen gegen 20 Uhr, bis der Laden – aufgeräumt und geputzt – geschlossen werden kann.

Das ist einem kleinen Team wie dem von David nicht Tag für Tag zumutbar. Und so führt er die Tradition seines Vaters ohne Veränderung weiter: «Haargenau» öffnet montags nie. Dienstags immer erst um 10 und schließt um 19 Uhr. An den anderen Tagen geht die Tür um 9 auf und mittwochs, donnerstags und freitags wird bis 20 Uhr gearbeitet. Samstags von 9 bis 15 Uhr.

Gerade aufs Wochenende hin wünschen sich die Frauen – die «Ladys», wie Werner Friedrich diese spezielle Kundschaft heimlich nannte – ganz besonders hübsch zu sein, weil sie ins Theater gehen oder ins Konzert oder in eine Galerie.

Davids Kundschaft in der Dalbe ist teilweise erlaucht, «firnähm», wie man in Basel sagt. Vornehm. Da gehört der gehobene Kulturgenuss dazu. Und obwohl es in Basel zum guten Ton gehört, nicht mit Geld und Habseligkeiten zu protzen, sondern Reichtum möglichst unter dem Deckel zu halten – weil jene, die wissen müssen, wie reich man ist, es eh wissen, und die anderen geht es nichts an – hat David eine ungefähre Ahnung, wer sich eher im Milliarden- als im Millionenbereich bewegt.

An einem Dienstagabend ist es ihm jedenfalls möglich, sich schon um 19.30 Uhr zu verabreden. An einem Mittwoch oder Freitag wäre das nicht gegangen.

Sie sitzen im dunkleren Teil des Restaurants Kunsthalle. Man nennt ihn auch den «Schluuch» – also den Schlauch. Nebenan ist der «weiße Teil», wie die Baslerinnen und Basler sagen. Weiß, weil dort weiß gedeckt ist und die Preise etwas heller leuchten, so dass es jenen mit einem schmalen Budget in den Augen weh tut, wenn sie in die Speisekarte blicken.

Im «Schluuch» isst der Gast bodenständig. Eine Rösti mit Spiegelei. Ein Teller Spaghetti all’arrabbiata. Bratwurst mit Kartoffelsalat. Und weil man für die Gäste dort keine kulinarischen Highlights auf die Teller zaubern muss, ist der Service schnell, die Wartezeit kurz.

Über den beiden Restaurants – also «Schluuch» und «weißer Teil» – befindet sich übrigens wirklich die Kunsthalle. Ausstellungsort für Kunst der Avantgarde. Im Jahr, von dem hier die Rede ist, von einer Amerikanerin geführt, die sich – wie so viele andere Amerikanerinnen und Amerikaner in Basel auch – auf den Standpunkt stellt, dass man ihre Muttersprache im so weltoffenen Basel durchaus versteht und es deshalb vergebliche Liebesmüh wäre, sich mit dieser vermaledeiten deutschen Grammatik und den komplizierten, fast nicht aussprechbaren Wörtern auseinanderzusetzen.

Francine und er sind mittlerweile beim zweiten Glas Wein. David hat Hunger gehabt und sich einen Teller hausgemachter Ravioli mit frischen Salbeiblättern und dazu einen kleinen Salat bestellt. Francine hat sich ihm angeschlossen.

Zu seiner Überraschung hat sie fast gar nichts mit seiner Mutter gemeinsam – außer dem trockenen Humor und den warmen, herzlichen Augen. Sie ist kleiner als seine Mutter, etwas pummeliger, blond und hat dunkelrot lackierte Fingernägel. Ihre Kopfform ist eher rundlich als länglich. Sie ist burschikoser und weniger elegant angezogen, aber keineswegs stillos. War Davids Mutter vom Typ her eher die Frau eines Landadligen, so wirkt Francine auf ihn wie die stets rebellische Bauerntochter. Ist sie mal Motorrad gefahren? Besitzt sie eine schwarze Lederjacke? Er hat sich nicht getraut zu fragen. Aber es könnte sein.

Während er sich vorsichtig gepflegt mit ihr unterhält, laufen in seinem Hinterkopf ganze Filme ab. Manche unschicklich. Aber er kommt nicht umhin, sich zu überlegen, wie, wann und wie oft sein Vater und sie Sex gehabt haben.

«Wie läuft das Geschäft, David?», rüttelt sie ihn aus seinem Kopfkino und nötigt ihm eine klare und vernünftige Antwort ab.

«Gut. Eigentlich sehr gut.»

«Dann bereust du es nicht, wieder in Basel zu sein?»

Sie haben beschlossen, sich zu duzen, und er findet, dieses erste Treffen mit ihr verlaufe überraschend angenehm.

«Nein. Dank Marie-Jo läuft alles wie am Schnürchen, und die Kundschaft hält mir bis jetzt die Treue.»

«Weil man Werner so geschätzt hat, vermutlich.»

Nun gut, denkt er, eine andere mögliche Antwort wäre: weil sich herumgesprochen hat, dass auch er etwas von seinem Handwerk versteht. Aber er behält das für sich. Seine leichte Irritation verbirgt er damit, dass er sich einen Schluck Merlot gönnt.

Er hat Francine wählen lassen – ganz Gentleman – und sich dann angeschlossen, so wie sie sich ihm beim Menü. Ihm wäre ein kräftiger Süditaliener oder ein Cabernet allerdings lieber gewesen.

Was er bis jetzt herausgefunden hat: Francine und sein Vater waren seit gut einem halben Jahr zusammen gewesen. Es war ihnen anfangs gelungen, die Beziehung zu verheimlichen, aber die Branche ist nicht gerade für Diskretion und Verschwiegenheit bekannt. Klatsch und Tratsch in den langen Stunden der fachgerechten Haarpflege ist Usus. Nicht nur im Austausch zwischen Kundin und Coiffeur oder Coiffeurin. Auch untereinander. So machte es bald die Runde, dass Werner Friedrich und Francine Jeunot erstaunlich oft miteinander gesehen würden, und wer wollte, machte sich seinen oder ihren Reim darauf.

Es ist somit unhaltbarer Schwachsinn, dass Werner Friedrich sich vor dem Spital in schierer Verzweiflung vor ein Auto geworfen haben könnte. Das ist das einzige Mal, seit sich Francine und er kennen, dass David richtig laut geworden ist. «Emotional» ist ein schöneres Wort dafür. Er freut sich schon darauf, Hofmann, diesem Widerling von der Versicherung, seine Meinung zu sagen.

Was ebenfalls fest steht, wenn er Francine trauen kann: Die beiden hatten erwogen, zusammenzuziehen. Er habe sie gebeten, bei ihm einzuziehen, hat sie ihm vor ein paar Minuten anvertraut. Das war bis jetzt das einzige Mal, dass Francine «emotional» geworden ist.

«Weißt du, David, es wäre für mich ein großer Schritt gewesen. Ich habe mich daran gewöhnt, auf eigenen Füßen zu stehen. Ich machte einmal in meinem Leben den Fehler, mich an einen Mann zu binden, alles aufzugeben, und mich nach ihm zu richten. Er war es nicht wert, wie ich ein paar Jahre später habe erkennen müssen. Aber mit Werner? Das hätte was werden können.»

Es ist nun gegen 21 Uhr. David hat nicht damit gerechnet, so viel Zeit mit der Partnerin des Vaters zu verbringen. Er hat auch nicht damit gerechnet, dass es ihr gelingen würde, ihm ein paar Würmer aus der Nase zu ziehen. Ja, hat er zugegeben, er habe in Berlin auch eine längere Beziehung geführt, die aber vor einem Jahr zu Ende gegangen sei. Ja, sie hatten zusammengelebt, und nein, es gebe im Moment keine Partnerin.

Nun ist das Gespräch etwas ins Stocken geraten. David wagt es nicht, die Frage zu stellen, die ihn am meisten umtreibt: Was hat sein Vater von ihm gehalten? War er überhaupt ein Thema gewesen? Wurde er je erwähnt?

Francine macht keine Anstalten, selbst irgendetwas in der Art anzuschneiden. Ganz bewusst? Sie hat manchmal ein Zwinkern in den Augen, das ihm nicht entgeht. Sie weiß jedenfalls besser mit ihm umzugehen als er mit ihr. Zwar fühlt er sich nicht gehemmt oder so, aber er hat Respekt. Fast wie vor seiner Mutter, geht es ihm durch den Kopf. Den logischen Schluss daraus zieht er (noch) nicht: Wenn sein Vater mit Francine nicht über ihn geredet hätte, wenn sie nicht ganz genau über ihn im Bilde wäre, würde er sich nicht in diese Rolle gedrängt fühlen.

«Sag mal, Francine, was wollte mein Vater denn an jenem Tag im Spital?»

«Er wollte zu einem Bekannten ins Labor. Aber im Geschäft sagte er, er mache einen Krankenbesuch. Das war die offizielle Version.»

«Also war er doch krank. Hat er irgendwelche Resultate erwartet?»

«Ja, Resultate schon, aber es ging nicht um ihn.»

«Sondern?»

«Er hat ein paar DNA-Proben machen lassen.»

«Wovon?»

«Von Haarbüscheln.»

David Friedrich bleibt der Mund offenstehen. Die Skalps.

Francine macht eine Pause. Lässt die Information sacken. Es scheint ihr bewusst zu sein, dass er überrumpelt ist. «Du weißt, von welchen Haarbüscheln ich rede, so wie du reagierst.»

«Ja, ich habe sie entdeckt. Aber ich konnte mir keinen Reim darauf machen. Sie haben mir fast schon etwas Angst eingejagt. Diese Haarbüschel in diesem kleinen Holzkästchen, das mit einem speziellen Schlüssel abgeschlossen werden kann. Keiner wusste was. Marie-Jo ist nur aufgefallen, dass er gelegentlich ein paar Locken eingesammelt hat.»

«Das stimmt.»

«Weißt du mehr?»

«Bestellen wir uns noch ein Glas, oder? Ich muss ein bisschen weiter ausholen.»

David merkt, dass Francine ihn erst in die Geheimnisse dieser Geschichte einweihen wird, wenn sie noch mehr Merlot intus hat. Das hat einen doppelten Effekt auf ihn. Es ermuntert ihn, den Kellner, einen kleinen Italiener mit einem merkwürdigen Stottern, recht energisch auf sich aufmerksam zu machen, mit einer gut sichtbaren Ungeduld. Und ihn schaudert. Innerlich. Denn er hat sofort den Verdacht, dass es um eine Geschichte besonderer Art geht. Was er immer schon vermutet hat, seit er das Kästchen entdeckt hat. Nur: Wenn man unmittelbar davorsteht, in ein Geheimnis eingeweiht zu werden, und man gewusst hat, dass es ein Geheimnis gibt, entspricht es der menschlichen Natur, ein Kribbeln zu spüren. Oder den erhöhten Herzschlag in der Brust wahrzunehmen.

Mit dem Glas Merlot in Griffnähe, sich mit den Unterarmen auf dem Tisch abstützend und etwas nach vorne gebeugt, so dass sie seinen Ohren näher ist und ihre Stimme dämpfen kann, weil es an den Tischen neben ihnen potenzielle Mithörer gibt, beginnt Francine: «Werner war aufgefallen, dass einige seiner Kundinnen eine seltsame Übereinstimmung hatten.»

«Übereinstimmung? Was heißt das denn?»

«Ich erklär es dir gleich.»

«Okay. Erzähl weiter.»

«Also. So wie er es mir erzählt hat, fiel ihm zuerst auf, dass ein paar Frauen am Hinterkopf einen schwer zu bändigenden Haarwirbel hatten.»

«Wer?»

«Eben, ein paar seiner Kundinnen. Und dann klagte eine dieser Frauen eines Tages, sie könne leider nicht so schöne Ohrringe tragen wie die Frau im Stuhl neben ihr. Und dein Vater begriff zuerst gar nicht, weshalb. Dann fiel ihm auf, dass ihre Ohrläppchen angewachsen waren.»

«Also unten nicht ein bisschen hängend?»

«Genau.»

«Das kann ja Zufall sein.»

«Es geht noch weiter. Ihm fielen die Haarwirbel auf und die festgewachsenen Ohrläppchen. Dann kamen die strahlend hellen grünen Augen hinzu. Das machte ihn stutzig.»

«Wann war das?»

«Erst vor ein paar Monaten. Er schimpfte mit sich selbst. «Dass mir das vorher nie aufgefallen ist! sagte er immer wieder. Er las damals ein Buch einer englischen Krimiautorin. Darin geht es um die Bluterkrankheit und irgendein Tal in der Schweiz. Ich glaube in Graubünden. Kein neues Buch. Er fand es auf einem Flohmarkt. Das hat ihn erst auf die Spur gebracht. Er war ganz aufgeregt, als er begann, eins und eins zusammenzuzählen.»

«Aber diese Frauen sind keine Schwestern. Sie haben nichts miteinander zu tun?»

«Nein. Außer, dass sie alle zur Kundschaft deines Vaters gehörten.»

David braucht einen Moment, um die Sache in seinem Kopf so zu drehen, dass sie Sinn zu ergeben beginnt. Francine gewährt ihm die Zeit. Lässt den Faden absichtlich einige Augenblicke in der Luft hängen, obwohl klar ist, dass sie haargenau weiß, wie es weitergeht.

«Aber wenn diese Frauen einige übereinstimmende körperliche Merkmale haben, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie miteinander verwandt sind.»

Francine sieht ihm tief in die Augen. Schürzt ihre Lippen. Wartet darauf, dass David vollständig begreift, was das zu bedeuten hat.

«Das heißt», kombiniert er weiter, «es sind Kuckuckskinder! Wenn Vater sich nicht täuscht – also getäuscht hat –, haben sie alle den gleichen Vater. Denn die gleiche Mutter kann es ja schlecht sein ...»

«Bravo, David», sagt Francine mit etwas geheuchelter Anerkennung. Als habe es doch ein paar Momente zu lange gedauert, bis bei ihm der Groschen fiel.

«Wie viel verstand mein Vater von Genetik und Erbanlagen?»

«Nicht viel. Aber er war ein guter Beobachter. Beziehungsweise eben nicht. Er hatte den größten Teil der Frauen, die er verdächtigte, schon lange Jahre in seiner Kundschaft und nie etwas bemerkt. Mir gegenüber hat er gesagt, es sei wirklich die Bemerkung wegen des Ohrläppchens gewesen, die ihn stutzig gemacht habe.»

«Und so fing er an zu sammeln?»

«Ja. Nun achtete er darauf, wenn er mit widerspenstigen Haarwirbeln konfrontiert wurde, ob es dazu auch helle grüne Augen gab oder angewachsene Ohrläppchen.»

«Also wollte er den Kreis möglichst offenhalten.»

«Ja. Wenn er zwei von drei Merkmalen erkannte, fing er an Locken zu sammeln.»

«Es sind fast zwei Dutzend geworden.»

«Ich weiß.»

«Und er hat alle ins Labor gebracht?»

«Ja, er brachte alle 23 Proben ins Labor. Was er dem Typ dort erzählt hat, weiß ich nicht. Vielleicht hat er ihm auch ein gutes Honorar angeboten. Ich bin mir auf jeden Fall sicher, dass er am Tag, als er überfahren wurde, über Mittag ins Spital gegangen ist, um das Ergebnis der Analyse zu erfahren.»

«Weißt du, wie der Labormensch heißt?»

«Karlovic.»