Paul staunte und schwieg. Er hatte Franziska sofort angesehen, dass etwas nicht stimmte. Sie war zu ihm in die Wohnung gekommen, was sie sonst – wenn es irgendwie möglich gewesen war – stets vermieden hatte, denn sie hielt es für «unklug», wie sie es formulierte, in «dieser Gegend», wie sie es ebenfalls formulierte, gesehen zu werden. Das sei, so hatte sie ihm gesagt, nicht ein Teil der Stadt, in dem man eine Fahy antreffe.
«Ich bin schwanger, Paul», hatte sie ihm an den Kopf geworfen, kaum war die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen.
«Von mir?»
«Natürlich von dir, von wem sonst?»
«Das weiß ich doch nicht. Mit mir triffst du dich ja bloß heimlich, hast mich noch niemandem vorgestellt. Vielleicht gibt es noch einen anderen?»
Sie schwieg. Nur ganz kurz hatte sie seinem Blick nicht standgehalten. Gab es wirklich einen anderen? Franziska war ein Luder. Nach außen hin ganz das brave Frollein, war sie in Tat und Wahrheit ziemlich durchtrieben und genoss Sex fast mehr als er. Sie war zügellos, wurde richtig laut und hatte Orgasmen, um die er sie, wenn er ehrlich sein sollte, beneidete. Was er aber nie jemandem verraten hätte. Eine ihrer Fantasien war, gleichzeitig von zwei oder drei Männern genommen zu werden.
Vielleicht hatte sie das ja umgesetzt? Ohne ihn.
Er hatte sich nie große Illusionen gemacht. Ihm war stets bewusst gewesen, dass die junge, hübsche Frau Fahy zwar mit ihm voller Freude und Begehren bumste, aber dass es ihr wohl kaum einfallen würde, ihn als den Mann an ihrer Seite früher oder später der Familie und Freunden zu präsentieren. Ihre Affäre dauerte nun schon knapp drei Monate, und sie war immer darauf bedacht gewesen, alles so verschwiegen zu halten, wie es nur ging.
«Ich bin schwanger, Paul!», wiederholte sie. Nun war ihre Stimme weniger fest und er merkte, dass sie sich nicht mehr wirklich unter Kontrolle hatte.
Er war drauf und dran zu fragen: «Bist du sicher?», ließ es aber bleiben. Es war nicht viel mehr als ein allerletzter Strohhalm, an den er sich gerne geklammert hätte.
Sie redeten dann. Er brachte sie dazu, sich zu setzen, und da sich für ein Gespräch zu zweit – im Sitzen – in seiner kleinen Wohnung nur gerade der Küchentisch anbot, setzten sie sich halt an den Küchentisch.
Franziska wich seiner Nachfrage, ob es wirklich nur von ihm sein könne, erneut aus. Er war sich dessen bewusst, hielt es aber für unergiebig, zu insistieren. Er rechnete nicht mehr mit einer Antwort.
«Ich will das Kind nicht, ich will es nicht!»
Das war der Punkt. Darauf beharrte sie. Und das löste in ihm etwas aus, was er lange ganz, ganz tief in sich verborgen gehalten hatte. Den Gedanken, warum seine Mutter ihn wohl zur Welt gebracht hatte. Warum sie nicht auf die Idee gekommen war, einen Arzt – oder einen «Engelmacher» – aufzusuchen, der das «Problem» auf seine Art hätte lösen können. Dann würde es ihn nicht geben. Und seine Mutter hätte vermutlich ein völlig anderes Leben führen können. Ohne «den Balg».
Doch Paul liebte das Leben. Und er konnte sich nicht vorstellen, je damit einverstanden zu sein, dass ein anderes Leben, eines, das offensichtlich am Entstehen war, einfach so ausgelöscht würde.
«Wäre das Kind nicht von mir – was es ja vielleicht wirklich nicht ist! –, sondern von einem jungen Mann aus besseren Kreisen, würdest du dann auch so entscheiden, Franziska?»
Sie zog eine Schnute. So hatte er sie auch schon gesehen. Wenn ihr etwas verwehrt wurde. Wenn man sie vor den Kopf stieß oder ihr einen Wunsch verweigerte. Nicht attraktiv.
«Willst du mir eine Antwort geben oder nicht?»
«Was willst du denn hören?»
«Die Wahrheit, wenn’s geht!»
«Ich weiß es nicht, Paul. Lass mich doch in Frieden mit so theoretischen Fragen. Alles, was ich weiß, ist, dass ich nicht mit 21 schon Mutter werden will.»
«Aha, darum geht es dir also. Du hast Angst, das Kind könnte dir dein Leben vermasseln.»
«Ja, Herrgott nochmal, ja, das will ich nicht. Ich will nicht jetzt Mutter werden. Ich will leben!»
«Und dafür muss das Kind sterben!»
Sie stand auf, sah ihn wutentbrannt an, ja, sie schnaubte richtig. Zornesröte war ihr ins Gesicht gestiegen. Weil sie sich so rasch erhoben hatte, war der Küchenstuhl, auf dem sie gesessen hatte, fast zu Boden gefallen. Sie hatte ihn aber gerade noch gepackt und mit Wucht hingestellt. Dann griff sie ihren Mantel und stürmte aus der Wohnung. Nicht einmal die Tür machte sie hinter sich zu.
Weil sie erwartete, dass er hinter ihr hereilen würde? War das als Einladung gemeint, ihr zu folgen? Es fiel ihm nicht im Traum ein. Wozu auch? Um den Streit auf der Straße fortzuführen? Sicher nicht! Er gab sich Mühe, sich etwas zu beruhigen. So gefasst wie möglich schloss er die Tür. Setzte sich allein an den Tisch. Atmete tief durch.
Es war die zweite tiefe Kränkung in seinem Leben. Sein Vater – wer immer er war – hatte nicht zu seiner Mutter stehen können, weil sie nicht aus den gehobeneren Kreisen war, in denen er verkehrte; oder besser: zu denen er offensichtlich gehörte. Sie hatte den kleinen Paul allein aufziehen müssen, und hätten ihr nicht ihre Eltern zur Seite gestanden, wie wäre es wohl herausgekommen?
Und nun Franziska. Sie hatten sich miteinander vergnügt, sie hatten gegen 30 Mal miteinander Sex gehabt, aber wenn es darauf ankam, war er ihr zu wenig. Ja, er nahm ihr ab, dass es ihr in erster Linie darum ging, noch nicht an ein Kind gebunden zu sein, nicht eine Familie zu gründen in ihrem Alter. Aber er wusste sehr genau, weshalb es für sie ebenfalls nicht in Frage kam, zu ihm zu stehen, überhaupt nur einen Augenblick ernsthaft zu erwägen, dieses Kind zu behalten und es zusammen mit ihm großzuziehen.
Er war gekränkt. Verletzt. Er ärgerte sich maßlos, dass er überhaupt so blöd gewesen war, sich auf jemanden wie Franziska Fahy einzulassen. Peter, dem er verraten hatte, mit wem er sich gelegentlich traf, hatte ihn zuerst neidisch angesehen.
«Wirklich?», hatte er gesagt. «Verkehrst du jetzt in besseren Kreisen?»
«Was meinst du mit ‹verkehren›?»
«Naja, dass ihr Verkehr habt miteinander.» Er hatte gelacht. Und plötzlich innegehalten. «Pass auf, Paul», hatte er gesagt, «das kommt nicht gut. Sei vorsichtig. Ich habe kein gutes Gefühl ...»
Kein gutes Gefühl. Und was sollte er nun tun? Er konnte Franziska nicht zwingen, das Kind auszutragen. Wie auch? Hatte er etwas gegen sie in der Hand?
Zwei Tage später, kurz vor 11 Uhr, hatte der schwarze Mercedes, von dem er genau wusste, wem er gehörte, bei der Tankstelle angehalten. Franziskas Mutter war ausgestiegen, hatte sich umgesehen, bis sie ihn erblickte, und ihn dann zum Wagen zitiert.
«Steigen Sie ein, Paul.»
«Geht nicht, ich arbeite.»
«Herr Gruber ist unterrichtet. Wir machen eine kurze Ausfahrt. Er weiß Bescheid. Ich bringe Sie nachher wieder zurück. Dauert nicht sehr lange.»
Er zögerte. Aber da stand schon der Chef unter der Bürotür, griff sich mit der Linken an die Brille, wie er es immer tat, wenn ihm etwas nicht in den Kram passte. Ganz kurz nur winkte er mit der Rechten. Das Zeichen war klar: «Geh. Mach was sie sagt.»
Paul stieg ein. Sie fuhr los. Sie zündete sich eine Zigarette an, verzichtete aber darauf, ihm auch eine anzubieten, und fuhr in Richtung Wettsteinplatz, Wettsteinallee, Bäumlihof und weiter nach Riehen, eine der beiden Basler Vorortsgemeinden im Norden der Stadt, auf der anderen Seite des Rheins. Sie war keine besonders gute Fahrerin, schaltete oft einen Moment zu spät, gewährte einmal einem anderen Wagen den Vortritt nicht. Aber in ihren Aussagen war sie glasklar. Ihre Stimme kalt, schneidend.
«Franziska hat uns alles gesagt. Sie wird das Kind behalten. Aber Sie, mein Lieber, werden mit diesem Kind nichts zu tun haben. Das kommt nicht in Frage, verstehen Sie? Ein Automechaniker in unserer Familie?»
«Ich bin kein Auto...»
«Seien Sie gefälligst still. Ich rede jetzt. Und hören Sie gut zu. Ich erkläre Ihnen unsere Abmachung, an die Sie sich halten werden.»