Die Zweitwohnung

Eddie ist an diesem Samstag nicht mit dem Austragen von Briefen beschäftigt. Mit seinem 80-Prozent-Pensum hat er immer einen Tag in der Woche frei, manchmal zwei, da die Post ja an sechs und nicht bloß an fünf Tagen verteilt werden muss. Sein Chef aber hat festgelegt – der Fairness halber –, dass nicht alle mit einem reduzierten Pensum sich einfach immer den Luxus leisten können, Samstag und/oder Freitag frei zu machen, und sich so ein verlängertes Wochenende nach dem anderen einrichten. Es gibt einen «Turnus», wie der Chef es nennt. Und sie alle lieben das Wort, «Turnus».

Auf jeden Fall hat er an diesem sonnigen Samstag – turnusgemäß – frei und brütet nun über Zahlen. Er führt seit Jahren eine akribische Liste der Wohnungen oder Häuser, bei denen die Post nicht geleert wird. In aller Regel sind das bloß Ferienabwesenheiten oder Spitalaufenthalte. Niemand hat daran gedacht, entweder eine Umleitung einzurichten oder den Nachbarn oder die Nachbarin zu bitten, den Briefkasten gelegentlich zu leeren.

Das heißt, nach drei, vier oder spätestens fünf Wochen nimmt alles wieder seinen gewohnten Gang. Er verteilt Post, und am nächsten Morgen, wenn er wiederkommt, ist der Briefkasten geleert und damit genügend Platz, um die neuen Sendungen einzuwerfen.

Spannender sind die Einzelfälle. Also wenn über eine längere Zeit keiner mehr den Briefkasten leert. Dann ist er von Amtes wegen angehalten, eine Meldung zu machen. Aber es gibt da eine kleine Karenzfrist. Es fällt kaum jemandem auf, wenn er mal eine oder zwei weitere Wochen verstreichen lässt, um abzuwarten, ob Frau Meier oder Herr Müller nicht doch plötzlich wieder auftauchen.

Es sei denn, er teilt sich die Tour in dieser Zeit mit einem besonders aufmerksamen beziehungsweise übereifrigen Kollegen, der von sich aus aktiv wird und Meldung macht. Ist aber eher die Ausnahme als die Regel, dass ein Kollege mit ihm die Tour teilt.

Wenn es gut geht, verfügt Eddie also hin und wieder über kostbares Insiderwissen. Er hat mit einer gewissen Vorlaufzeit Kenntnis davon, dass eine Wohnung oder ein hübsches kleines Reihenhaus am Hirzbodenweg oder an der Grellingerstraße demnächst auf den Markt kommen könnte. Und obwohl er selbst nicht liquide genug ist, um mir nichts, dir nichts bei einem allfälligen Verkauf mitbieten zu können, hat er ein paar Leute an der Hand, die über Geld in Hülle und Fülle verfügen und gerne bereit sind, ihm einen schönen Batzen für gute Informationen zukommen zu lassen.

Dazu muss man wissen, dass es im noblen Gellertquartier und in der Dalbe ein paar sehr gesuchte Objekte gibt. Häuser oder Wohnungen, an die man nicht einfach so herankommt. Sie gehen – wie man so schön sagt – immer unter der Hand weg (wie warme Semmeln). Niemand wird sie je bei Immoscout, Comparis oder Homegate entdecken, weil sich schon ein neuer Besitzer oder Bewohner gemeldet hat, bevor man sich die Mühe machen muss, das Objekt öffentlich anzupreisen.

Logischerweise ist das alles höchst verschwiegen und vertraulich. Und Eddie ist sich ziemlich sicher, dass er sich mit seinem Insiderwissen als Pöstler keinen netten Zusatzverdienst erarbeiten dürfte. Nur: Eddie hat gelernt, seinen Schnabel zu halten und mit den richtigen Leuten Geschäfte zu machen. Eine Immobilienfirma, ein Treuhänder und ein reicher Investor sind immer mal wieder dankbare Abnehmer für seine Tipps. Das Geheimnis seines Erfolgs besteht darin, den richtigen dieser drei zu wählen. Und den Kreis nicht über diese drei Ansprechpartner hinaus zu erweitern, während diese drei voneinander nichts wissen.

Verdacht geschöpft hat bis jetzt kein Mensch. Es scheint auch niemandem aufzufallen, dass sich Eddie – dank eines geschickten Schachzugs – eine unglaublich tolle Wohnung hat sichern können, die keineswegs dem Budget eines biederen Pöstlers entspricht.

Aber a) verkehrt er privat nicht mit anderen Pöstlern und Pöstlerinnen (obwohl er bei den Kolleginnen schon zwei Mal fast schwach geworden wäre) und b) hat er für den Fall der Fälle auch noch eine Zweitwohnung unten in der Breite in einem eher durchschnittlichen, langweiligen, um nicht zu sagen schäbigen Wohnblock, die ihm als Tarnung dient, wenn er findet, es sei der richtige Zeitpunkt für eine Tarnung.

Selbstverständlich ist er auch dort offiziell wohnhaft. Von seinem wahren, bevorzugten Wohnsitz in einem schmucken Hinterhaus an der Angensteinerstraße braucht ja niemand zu wissen.

Zwar sind ihm schon zwei oder drei Mal zu unchristlichen Zeiten Menschen über den Weg gelaufen, die er kennt, als er nach Hause gekommen ist – also an der Angensteinerstraße und nicht unten in der Breite –, aber denen hat er, mit einem vieldeutigen Zwinkern, zu verstehen gegeben, er sei gerade bei einer Freundin gewesen oder auf dem Weg zu ihr.

Verkauft sich prima. Macht niemanden stutzig. Funktioniert zuverlässig. Gebiert höchstens stillen Neid.

Jetzt also brütet er über den Zahlen. Er muss einen substanziellen, fünfstelligen Geldbetrag verschwinden lassen, der unlängst als Dank für seine guten Dienste eingegangen ist. Er verspürt auf jeden Fall nur geringe Lust, diese Summe in seinem Steuerausweis zu deklarieren. Wohin also damit?

Schon wieder Ferien in Florida in einem exquisiten kleinen Ressort? Oder lieber ein paar Tage Dubai? Oder doch auf die hohe Kante legen, um sich gelegentlich Wohneigentum zu leisten? Das ist immer sein Plan gewesen. Aber seit er diese Wohnung hat, ist der Drang, sich was «Hübsches» zu kaufen, gar nicht mehr so groß. Er wohnt ja schon so, wie er sich das mal erträumt hat. Zudem: Wenn es irgendetwas zu reparieren gibt, kann er einfach dem Vermieter Bescheid geben und es wird erledigt. Wäre er der Besitzer, müsste er sich mühsam um Handwerker, eventuell sogar Baubewilligungen und anderen, mühsamen Krempel kümmern. Als Mieter muss er das nicht.

Bleibt immer noch die Frage: Wohin mit dem Batzen? Wäre er zehn Jahre älter, also 55 statt 45, würde er in Erwägung ziehen, einen großen Betrag in die Pensionskasse einzuzahlen und dann beim Chef zu sondieren, ob er nicht schon ein paar Jahre eher in Rente gehen könnte.

Dafür ist es zu früh. Und dazu ist sein Nebenjob im Moment zu interessant. Das Gellertquartier und die Dalbe sind überaltert. Der Umbruch aber hat bereits eingesetzt. Viele Bewohnerinnen und Bewohner der prächtigsten Häuser und der schönsten, diskret verborgenen Wohnungen sterben. Viele haben zwar Erben, und eine Handänderung kommt kaum in Frage, aber viele heißt nicht alle. Und Eddie ist wachsam. Seine Liste führt er akribisch nach und er weiß ganz genau, dass da ein paar dicke Fische an der Angel sind, auf die sich die Immobilienhaie gierig stürzen werden.

Wobei: Haben Haie Interesse an Fischen, die an einer Angel hängen? Er macht sich keine größeren Gedanken über solche Spitzfindigkeiten und studiert und studiert.

Da klingelt sein Handy. Auf dem Display steht: «David F.». Er wird den Teufel tun und jetzt drangehen. Soll der «Herr Haargenau» doch ein bisschen zappeln. An der Angel.

Eddie hat keine Ahnung, was David will. Wie sollte er? Es überrascht ihn vor allem, dass der andere seine Nummer kennt. Woher hat er die?

Die Lösung, fällt ihm ein, ist ganz einfach. Klassenzusammenkunft 2018. Die Liste. Jürgen und Mary-Anne, die das Treffen organisiert hatten, waren sehr beflissen gewesen und hatten eine Liste erstellt mit allen Adressen und Telefonnummern. Gerade bei den Mädchen aus der Primarklasse war es nicht ganz einfach gewesen, sie wieder zu finden. Die meisten hatten geheiratet, trugen jetzt einen anderen Namen. Hätte nicht Jürgen, der beim Kanton arbeitet, Zugriff auf ein paar Daten gehabt (illegal, by the way), sie hätten zum Beispiel Christine in Sapporo und Theresa in Vancouver nicht mehr gefunden.

Daher wehte also der Wind. Der Herr Coiffeur hat sich diese Liste gegriffen und wollte nun etwas von ihm. Interessant. Beim letzten Klassentreffen war es Eddie, der gerne etwas von David gehabt hätte. Ein bisschen Aufmerksamkeit und ein bisschen Anstand. Da hatte er von Anfang an ein Auge auf Jacqueline geworfen. Er hatte kaum glauben können, wie aus dem ehemaligen Mauerblümchen eine Rose geworden war. Tolle Figur, super angezogen mit feinen, schwarzen Strümpfen, die ihre Beine zur Geltung brachten, und einem schwarzen Rock, der nicht gerade unanständig, aber verheißungsvoll kurz gewesen war. Und dann diese blauen Augen kombiniert mit den schwarzen Haaren. Boah!

Er hatte sich schon früh am Abend bemüht, in ihre Nähe zu kommen, und sie schließlich in ein Gespräch verwickelt. «Klar, Eddie, dein Vater ist der Maler, oder?» Und Eddie hatte genickt, hatte ein paar Episoden von damals aus der Schule erzählt, und die kleine Gruppe rund um Jacqueline und ihn hatte diese mit Details ergänzt, und sie hatten drei, vier Bierchen getrunken.

David, der fesche David, der professionelle Frauenverschönerer und -versteher war nirgends in Sichtweite gewesen. Hatte bei einer anderen Gruppe Anschluss gefunden, hatte Eddie beim Eintreffen nur knapp begrüßt, hatte sich seither nie die Mühe gemacht, mit Eddie ein paar Worte zu wechseln.

Es hatte ihn ein bisschen geärgert. Diese Distanz. Dieser Abstand. Er fand das an der Grenze zum Unhöflichen. Zudem traute er seinen Ohren nicht, als das Gespräch in seiner Gruppe – sie waren bereits zum Dessert beziehungsweise zum lockeren «Nachbrenner» an der Bar übergegangen – ausgerechnet auf den Figaro aus Berlin gekommen war.

Was der am Prenzlberg für eine Kultfigur geworden sei. Wie dessen Geschäft doch cool sei. Und dann diese Tess. Eine ganz heiße Frau. Laber, laber, laber. Eddie hatte versucht, die Unterhaltung wieder in vernünftige Bahnen zu lenken. Vernünftig war für ihn alles außer David Friedrich. Was ihm zwischenzeitlich gelungen war. Doch wie es der Teufel so will, erzählte irgendeine am Tisch von ihren Ferien in Irland, und die andere, die offenbar schon in Berlin David Friedrich besucht hatte, begann von einer gewissen Shioban – «aussprechen tut man das Schiwan», fügte sie so nebenbei an – zu erzählen, der Freundin von David: «Was für eine lebensfrohe, positive Person. Und so herzlich und humorvoll.» Da habe David aber Glück gehabt, so eine zu finden. Laber, laber, laber.

Die vier Bier verlangten ihren Tribut. Kurz nachdem Eddie bei Jacqueline sondiert hatte, ob sie mit ihm noch in eine Bar gleich ums Eck kommen wolle, hatte er plötzlich dringend gemusst. Doch er hatte sich beeilt. Wirklich. Aber als er wieder an den Vierertisch getreten war – nur kurz abgelenkt von Jean-Claude, dem Apotheker –, war Jacqueline weg gewesen. Vom Winde verweht.

Falsch. Wie sich rasch herausgestellt hatte. Nix Wind. Von David abgeschleppt.

Er hatte gekocht. Hatte kurz erwogen, rauszustürmen und die beiden zu suchen. Doch wie kindisch und dumm hätte das denn gewirkt auf die ungefähr 18 anderen aus der Klasse, die immer noch dort in der Beiz waren?

Und dann hatte die doofe Melanie, die ihm immer schon höchst unsympathisch gewesen war – er ihr aber leider nicht –, ihn mit ihren Kuhaugen angehimmelt und mit der flachen Hand ostentativ auf den leeren Stuhl neben ihr geklopft – dort wo Jacqueline eben noch gesessen hatte – und so verführerisch, wie ihr das möglich war, gesäuselt: «Komm, Eddie, setz dich doch ein bisschen zu mir!»

Porca miseria!

Was war diese Klassenzusammenkunft doch für ein Reinfall gewesen.

Es klingelt schon wieder. Eddie zögert. Es ist David, schon klar. Es ist nun kurz vor 17 Uhr, und er würde gerne die Berichterstattung zur Bundesliga ansehen. Er erwägt, sich noch einmal abwesend zu geben. Oder gerade unabkömmlich. Auf der anderen Seite sticht ihn jetzt doch der Hafer. Was will David? Muss relativ wichtig sein, wenn er es innerhalb von zwei Stunden zwei Mal probiert.

«Hallo?»

«Eddie!»

«David!»

«Hast du kurz Zeit?»

«Kommt darauf an.»

«Worauf?»

«Ob es spannend ist.»

«Ist es.»

«Also sag, worum geht es?»

«Es ist spannend, aber ich würde dir lieber unter vier Augen erzählen, worum es geht.»

Nun ja, denkt sich Eddie, wenn er diese Bedingung macht, scheint es sich ja tatsächlich um eine besondere Angelegenheit zu handeln. «Okay. Muss es heute noch sein?»

«Hast du denn heute noch Zeit?»

«Hmmm. Eigentlich ja. Wo wollen wir uns treffen?»

«Komm zu mir. Du weißt ja als Quartierpöstler bestimmt, wo ich wohne. Musst nichts mitbringen. Ich bestell’ uns eine Pizza, wenn du Lust hast.»

«Okay. Warum nicht. In einer Stunde?»

«Ja, gut. Bis bald.»

Der Friseur hat aufgelegt, und Eddie fragt sich, ob er jetzt gerade einen riesigen Fehler gemacht hat.