Obwohl Isabelle (noch) keine große Hilfe ist, hat sie in Davids kleinem Team etwas bewegt. Ihre Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft sind wohltuend. Und sogar die eher strenge und sehr, sehr nüchterne Marie-Jo taut etwas auf. David ist jedenfalls aufgefallen, dass sie zu dem Mädchen – sagt man das noch? Wäre junge Frau nicht besser, wundert er sich – noch nie brüsk oder barsch war. Und Anuschka genießt es offensichtlich, eine Gesprächspartnerin zu haben, die nicht aus einer anderen Generation stammt, wie Marie-Jo oder David.
Das Wort «Museum» bekommt David nicht mehr aus seinem Kopf. Verfluchte Tess. Die beiden Jungen unterhalten sich – wenn es einen guten Moment dafür gibt – über Mode-Trends und Stars, von denen David nicht mal ansatzweise eine Ahnung hat, wer sie sind und woher und weshalb man sie kennen muss. Kanye West und die Kardashians. Ach du meine Güte, denkt er.
Was David ganz genau beobachtet: Trifft Isabelle immer pünktlich ein? Hat sie den Ratschlag wegen der Turnschuhe beherzigt? Räumt sie schön auf und putzt sie sauber? Entwickelt sie Eigeninitiative oder wartet sie immer darauf, bis Marie-Jo oder er ihr sagen, was sie tun muss? Schafft sie es, den Espresso oder den Macchiato von Mehmet bis zur Kundin zu transportieren, ohne dass der Unterteller vollschwappt?
Die Antworten: Ja. Ja. Doppel Ja (sehr!). Ja. Und ja.
David freut sich auf das Gespräch mit Pfarrer Eckert. Er hat aber dem Mädchen – der jungen Frau! – schon zu verstehen gegeben, dass er sie sehr wohl für eine Bereicherung hält. Am letzten Tag will er ihr fachliches Talent an den Musterköpfen noch testen. Und sie soll – bei einer Freundin von Anuschka, die sich dafür bereit erklärt hat – mal einen ersten Versuch mit Waschen und Färben wagen. David hat Anuschka angeboten, wenn sich die Freundin darauf einlasse, müsse sie für diesen Coiffeurbesuch nichts zahlen. Allfällige «Schäden» durch Fehler von Isabelle seien zudem durch eine Art Garantiehaftung abgedeckt: Er selbst werde alles dafür tun, dass sie am Schluss mit ihrer neuen Frisur zufrieden seinen Laden verlasse.
David ist etwas aufgeregt. Er hat um 11 Uhr Frau Trist, ledig Maegelin, eingetragen. Eddie ist bereits im Bild, David hat ihn am Mittwochabend rasch informiert. Sie haben keinen Schlachtplan entwickelt, sind sich bloß einig, dass es spannend sein wird, sie im Laden zu haben, weil sie inzwischen genau wissen, dass sie eines der Kuckuckskinder ist. Aber Eddie hat sie als Schnepfe beschrieben. Herablassend, sich ihres «blauen Blutes» à la mode bâloise sehr bewusst. Wie soll es ihm ausgerechnet bei ihr gelingen, etwas über ihre Mutter herauszufinden?
Marie-Jo, Eddie gegenüber mehr als skeptisch, hat er, als sich Frau Trist angemeldet hatte und ihm sofort klar geworden war, wer das ist, möglichst unauffällig nach einer Einschätzung dieser Kundin gebeten.
«Eine Zicke. Redet kaum etwas, wollte immer und einzig und allein vom Chef bedient werden. Als Mario ihr einmal statt Werner die Haare gewaschen hat, rümpfte sie sichtlich die Nase und machte sich nachher einen Spaß daraus, eine wirklich dumme Geschichte über einen schwulen Mann zu erzählen. Sie hat natürlich ganz genau gewusst ist, dass Mario auch schwul ist und wollte ihn provozieren.»
«Nicht zugänglich?»
«Zugänglich? Wie kommst du denn darauf, Chef? Seit wann müssen Kundinnen wie die zugänglich sein?»
David hatte sich selbst an der Nase genommen. Was für eine dumme Frage, hatte er sich gedacht.
Es hupt. Dieses schreckliche elektronische Hupen des blöden E-Töffs von Eddie, das er inzwischen sofort zuordnen kann.
«Eddie wartet», höhnt Marie-Jo. Sie hat mitgekriegt, dass die beiden auf dem besten Weg sind, «best friends» zu werden, wie sie sich ausgedrückt hat. Und es ist ein Ausdruck, den sie sonst nie verwendet. Viel deutlicher zu machen, was sie von dieser Männerfreundschaft hält, wagt sie nicht. Für David ist es deutlich genug.
«Okay, ich gehe», sagt er. Die drei Frauen werfen ihm Blicke zu, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Der von Marie-Jo ist voller Ironie, der von Isabelle voller Empathie und der von Anuschka voller Lethargie. Sie hat einen schwierigen Morgen, wie er festgestellt hat. Ist nicht gut im Strumpf, trödelt herum, obwohl das sonst nicht ihre Art ist. David vermutet, es sei «diese Zeit des Monats» – wie sein Vater es immer genannt hat. Eine Formulierung, vor deren Verwendung vor den drei Frauen in seinem Geschäft er sich hüten wird.
Eddie hält ein dünnes Bündel Briefe und zwei Magazine in der Hand. Strahlt.
«Schöner Tag heute. Bald ist April, und bald kann ich wieder im Rhein schwimmen gehen.»
«Du schwimmst im Rhein?»
«Du nicht?»
«Habe das bis jetzt erst einmal versucht. Bin kein großer Schwimmer.»
«Ich nehme dich mal mit, wenn du willst.» Eddie wirft einen Blick in den Laden. «Wie macht sich Isabelle?»
«Danke. Gut. Ist ein tolles Mädchen. Wenn man das noch sagen darf ...»
«Dass sie toll ist oder ein Mädchen?»
«Mädchen.»
«Also ich habe keine Mühe damit, David.»
«Schon klar. Sag mal, hast du nicht angedeutet, dass du sie kennst?»
«Ja. Also eigentlich ihre Mutter. War in der Kirche aktiv.»
«Katholische Kirche?»
«Ja, logo. Dumme Frage, David. Sonst wäre kaum Pfarrer Eckert mit ihr aufgetaucht.»
«Stimmt. Gibt es denn überhaupt noch eine katholische Kirche im Quartier?»
«Du meinst, weil man die Don-Bosco-Kirche unten in der Breite zu einem Kulturhaus umfunktioniert hat? Nun, es gibt noch eine katholische Gemeinde. Zum Gottesdienst geht man aber entweder in die Heiliggeistkirche oder sonst in die Clarakirche, beides bedauerlicherweise nicht mehr im Quartier.»
«Und wo ist Eckert aktiv?»
«Heiliggeist.»
David hätte noch ein paar weitere Fragen, aber er sieht, dass Marie-Jo ihm Zeichen macht. Vermutlich eine Kundin am Telefon, die ihn – und nur ihn – dringend sprechen muss. Zudem fällt ihm ein, dass er auf offener Straße Eddie nicht weiter über Isabelle ausfragen sollte. Sie könnte zuhören. Oder jeden Moment auf die Straße treten und merken, dass die beiden sich über sie unterhalten.
«Ich muss.»
«Okay. Wir reden heute Abend. Gib mir Bescheid, was du aus Frau Trist herauskriegst.»
Sie verabschieden sich. Eddie wirft noch in den beiden Briefkästen links und rechts vom Haargenau Post ein, bevor er sich wieder auf seinen Töff setzt.
Frau Trist kommt 25 Minuten später. Im allerletzten Moment. Vermutlich absichtlich, denn sie sieht tatsächlich nicht so aus, als würde es ihr Spaß bereiten, noch einen Moment zu warten und ein bisschen in den Heften und Magazinen zu blättern.
Sie ist allerdings nicht unfreundlich. Mustert David mit einem kritischen Blick. «Der junge Herr Friedrich. Freut mich, Trist. Ich habe nur Gutes von ihnen gehört.» Ihre Stimme ist tief, etwas rauchig.
«Das will ich doch hoffen, Frau Trist. Ich bin froh, dass Sie mir Vertrauen schenken.»
«Ihr Vater war ein Zauberer, Herr Friedrich. Ein sehr guter Coiffeur. Mit Abstand der beste im Quartier.»
David nimmt das nickend zur Kenntnis. Was soll er sagen? Aber er sieht auch, dass sie nicht schmeichelt. Sie ist sich in ihrem Urteil sehr sicher und gewohnt, ihrer Meinung unverblümt Ausdruck zu verleihen.
Er hat aber auch bemerkt, dass hinter ihrem Namen in der Bibel drei Sternchen prangen. Der Code seines Vaters. Das bedeutet, dass sie teure bis teuerste Pflegeprodukte zu zahlen gewillt ist. Sie hat Geld, sie zeigt es nicht, aber sie ist bereit, es auszugeben – vor allem, wenn es ihr selbst zugutekommt.
Er macht den Stuhl für sie bereit. Frau Trist hat festes, gesundes Haar, das hat er sofort bemerkt. Sie trägt eine Kurzhaarfrisur, die ihr gut steht, die aber ein bisschen außer Form geraten ist. Für ihr Alter hat sie noch erstaunlich wenig graues Haar.
«Keine Farbe, Frau Trist, oder?»
«Nein, Herr Friedrich. Ihr Vater hatte mir stets davon abgeraten, und ich gab ihm immer recht.»
Er wäscht ihr das Haar, und sie ist weder verkrampft noch widerspenstig. Das hat er sich anders vorgestellt. «Zicke» und «Schnepfe» hatte es geheißen, und das mag ja alles sein, aber für den Moment ist davon nichts zu spüren. Wenn ihn nicht alles täuscht, genießt sie es sogar. Der Wirbel am Hinterkopf ist nicht zu übersehen. Auch die angewachsenen Ohrläppchen sind ihm aufgefallen.
«Sie haben dichtes Haar, Frau Trist.»
«Muss ich von der Mutter geerbt haben. Mein Vater ist praktisch kahl.»
Er nimmt das zur Kenntnis. Sieht aber keine sich öffnende Tür, um das Gespräch weiter in diese Richtung zu lenken. Er kann ja nicht gut fragen, wie es dem Vater oder der Mutter geht, er kennt weder ihn noch sie. Immerhin wird klar, dass ihre Eltern beide noch leben.
Während des Schneidens betrachtet sie ihn immer mal wieder im Spiegel. Neugierig.
«Bereuen Sie es bereits, Berlin im Stich gelassen zu haben?»
«Nein, Frau Trist, gar nicht. Sollte ich? Es geht mir gut in Basel, ich habe mich wieder eingelebt. Fühl’ mich wieder richtig wohl hier.»
Isabelle bringt ihr einen Kaffee. Frau Trist würdigt das Mädchen kaum eines Blicks. Ihr kurzes «Danke!» richtet sie an David. Isabelle fragt, sehr höflich aber nicht unterwürfig oder devot, ob Frau Trist ein Heft oder ein Magazin wolle, während David schneidet. Trist sieht sie mit ihren hellgrünen Augen an und meint schnippisch: «Ich wüsste nicht, was mich an dieser Art Lektüre interessieren sollte.»
Isabelle nimmt es gelassen. Zuckt nur mit den Schultern und zieht sich zurück. David hat jetzt diese andere Seite der Kundin aufblitzen sehen. Und Marie-Jo wirft ihm einen Blick zu, dessen Botschaft unmissverständlich ist: «Habe ich es dir nicht gesagt?»
Schnipp. Schnipp, schnipp. Schnipp. Er versinkt in seiner Arbeit und kommt, sehr konzentriert, gut voran. Eine Frage fällt ihm ein, die harmlos klingen mag, aber vielleicht funktionieren könnte: «Wohnen Sie im Quartier, Frau Trist?»
Sie ist einen Augenblick irritiert. Dann schaut sie ihn zum ersten Mal indigniert an. «Selbstverständlich! Mein Mann und ich wohnen am Rennweg. Meine Eltern sind aber hier gleich ums Eck daheim, Dalbe-Vorstadt 32.»
Das ist nicht viel Information, und er fragt sich, ob Eddie mehr über die Maegelins an der Dalbe-Vorstadt 32 weiß. Insbesondere über die Mutter von Frau Trist. Haben diese noblen Familien nicht alle Stammbäume? Und wenn ja, wo kann man die einsehen? Im Staatsarchiv? Online? Vielleicht wäre das aufschlussreich und würde etwas mehr Licht ins Dunkel bringen. Er muss das mit Eddie am Abend klären.
Als er ihr schließlich die Haare föhnt, betrachtet sie sich sichtlich zufrieden im Spiegel.
«Ich bin froh, dass Sie Berlin untreu geworden sind, Herr Friedrich.»
«Danke, Frau Trist. Sagen wir es so: Es kommt mir im Nachhinein wie eine spannende Affäre vor, aber ich bin nun wieder zu meiner eigentlichen Liebe zurückgekehrt.»
«Ein schönes Bild, das sie da verwenden. Affären haben es so an sich, dass sie irgendwann zu Ende gehen», sagt sie, und er hört einen gewissen Unterton heraus.
Reiner Zufall? Spielt sie auf ihre eigenen Erfahrungen an oder will sie sagen, dass David ganz bestimmt ein Mann für gewisse Affären ist? Oder, das ganz große Oder: Ist es eine Bemerkung, die auf ihre Mutter gemünzt ist?