Der Niesreflex

Es dauert fast anderthalb Stunden, bis er mit Frau Trist fertig ist. David hat sich bewusst Zeit gelassen und die nächste Kundin erst für 13 Uhr eingetragen. Er schätzt es nicht, wenn er merkt, dass jemand ungeduldig wartet und immer missmutiger in den Magazinen oder Heftchen blättert. Weil missmutiger bedeutet: immer lauter und immer nervtötender.

«Bestens, Herr Friedrich», sagt sie und fährt sich mit der Hand durch die neu geschnittenen Haare. «Tragen Sie mich doch bitte in sechs Wochen wieder ein.»

«Mache ich sehr gerne, Frau Trist.» Er begleitet sie zur Tür, ganz der Gentleman. Macht er aber mit allen. Nur die ganz Jungen finden das derart old fashioned, dass er darauf verzichtet.

Es ist ein heller, sonniger, prächtiger Märzmittag. 17 Grad warm. Die Sonne steht genau im Zenit. Und weil es so schön und so warm ist, folgt David Frau Trist hinaus auf die Straße.

«Wunderschön, oder?», meint er.

«Ja, ein Tag zum Genießen! Auf Wiedersehen, Herr Friedrich!»

In diesem Moment hören beide das Knattern eines Helikopters, das schnell lauter wird. David, der den Helikopter früher «Heliokopter» nannte – seine Mutter sprach immer von «Teppichklopfer», des markanten Geräusches wegen –, blickt spontan nach oben. Frau Trist tut es ihm gleich.

Es blendet ihn furchtbar, als er in die Sonne blickt, und er hält sich schützend die Hand vor die Augen. Frau Trist, drei, vier Meter neben ihm, niest. Überraschend laut.

Sie entschuldigt sich sofort. Vermutlich gehört es nicht zum guten Ton in den guten Familien, wenn Körpergeräusche einen gewissen Lärmpegel überschreiten.

«Passiert mir immer, wenn ich direkt in die Sonne schaue! Excusez!»

Dann zieht sie von dannen. David bleibt mit einem dumpfen Gefühl zurück. Das hat er nicht gut gemacht, findet er. Viel zu defensiv, viel zu zaghaft. Mindestens einen oder besser zwei Würmer hätte er ihr schon aus der Nase ziehen sollen.

Anuschka und Isabelle kommen ihm entgegen, als er wieder zurück in den Laden will.

«Wohin des Wegs?», fragt er.

«Wir holen uns nur schnell eine warme Suppe bei Soup», sagt Anuschka. «Willst du auch etwas, Chef?»

Er überlegt kurz. Hunger hätte er schon. Und am Nachmittag ist die Bibel ganz schön voll, da hat er keine Gelegenheit mehr, selbst etwas zu besorgen. Im Kühlschrank müsste noch ein bisschen Hummus übrig sein, und irgendwo finden sich bestimmt noch die Ritz-Cracker, die er so liebt. Aber eine Suppe? Vielleicht gar keine schlechte Idee.

«Bringt mir bitte auch etwas. Am liebsten eine mit ein bisschen Pfiff.»

«Mit Pfiff?», fragt Isabelle, leicht irritiert. «Was heißt das?»

«Irgend so etwas in der Art wie diese thailändische Suppe mit den Crevetten drin? Tom Kha Gai oder so?»

«Okay», sagt Anuschka. «Wir schauen.»

Eine Krähe fliegt von einem Hausdach zum anderen und krächzt.

Seine Krähe? Fragt sich David und schaut dem Vogel nach. Die beiden jungen Frauen ebenfalls. Isabelle niest einmal, recht laut.

Marie-Jo ist mit Frau Wegmüller beschäftigt. Die kommt immer über Mittag, weil sie nur dann könne. Sagt sie. Weil es ihr abends eben nicht passe.

David geht in sein Büro. Das Schränkchen mit den Skalps hält er jetzt immer verschlossen. Er hat die Locken noch nicht weggeworfen, nimmt es sich aber jedes Mal vor, wenn er daran denkt. Was soll er diese leicht unheimliche Sammlung noch aufbewahren? Das Geheimnis dahinter ist gelüftet. Wenigstens zum Teil. Aus den Haarbüscheln wird sich jedenfalls keine weitere Erkenntnis ergeben, da ist er sich sicher.

Er setzt sich. Gute zwanzig Minuten Pause bis zur nächsten Kundin. Wenn die beiden Mädchen – er nennt sie für sich so – schnell genug zurück sind, reicht es ihm für seine Suppe. Sonst muss halt später die Mikrowelle zum Einsatz kommen.

Ob jetzt der richtige Moment gekommen ist, diesem Holzkopf von der Versicherung Bescheid zu sagen? Hofmann, dieser Vogel! Käme ihm jetzt gerade recht. Er ist immer noch sauer auf sich, weil er Frau Trist so sang- und klanglos hat ziehen lassen. Das wäre doch eine gute Gelegenheit, etwas Dampf abzulassen.

Obwohl er im Büro selten Musik hört, schaltet er das kleine Radiogerät an, dass er aus Berlin mitgebracht hat. DAB-Radio. Er hat Radio Basilisk eingestellt. Zu einem guten Coiffeur gehört auch, dass er gut informiert ist. Wegen des Smalltalks.

Er hört gerade noch den Rest der Nachrichten. Wieder unerwartet hohe Kosten bei einem Neubauprojekt der Uni. Massive Mehrausgaben werden erwartet. Zudem: Die Regierung ist der Meinung, dass Liegenschaften, selbst wenn sie von ihren Besitzern über Jahre nicht genutzt werden und halb verfallen sind, nicht enteignet werden können. Das Wetter: weiterhin sonnig bis am Wochenende, bei Temperaturen bis 20 Grad. Und das Ende März.

Der Moderator – dieser Hansdampf in allen Gassen, dem nun auch noch ein Kleintheater gehört, wie man hat lesen können – meldet sich nach der Wetterprognose zu Wort: «Ist es nicht toll, unser Wetter? Kaum eine Wolke am Himmel und schon wieder richtig warm. Passend dazu ein Klassiker von Manfred Mann’s Earth Band: Blinded by the Light!»

David weiß, dass das Lied eigentlich aus der Feder von Bruce Springsteen stammt. Egal, denkt er. Jedenfalls kein Grund, den Sender anzurufen und eine Korrektur zu verlangen.

Er summt mit, weil er den Song kennt und mag. Es ist einer jener Texte, in denen sich Springsteen richtiggehend verloren hat. Wilde Alliterationen und Wortspielereien, die David, obwohl er meint, gut Englisch zu können, gar nicht alle versteht.

Und dann dieser ruhige Teil mit der Passage: «Mama always told me not to look into the eyes of the sun / But mama, that's where the fun is ...»

Und dann dauert es keine drei Sekunden. David merkt, er war wirklich «blinded by the light» – vom Licht geblendet. Denn er hat nicht gut hingesehen. Hat nicht eins und eins zusammengezählt. Dabei hat er die Lösung – oder mindestens einen wichtigen Teil davon – vor Augen gehabt.

«Never look into the eyes of the sun!» – auch wenn das offensichtlich am meisten Spaß macht.

Er googelt. Und er gibt dazu nur zwei Wörter ein: «Niesen» und «Sonne». Das Ergebnis: «Photischer Niesreflex». Die erste Erklärung dazu: «Es ist nur eine Minderheit – etwa ein Viertel aller Menschen – die davon betroffen ist. Ob man dazugehört, ist offenbar sehr stark genetisch bedingt.»

Genetisch bedingt! Und wird nur vom Vater übertragen. Er kann es kaum erwarten, bis Anuschka und Isabelle mit den Suppen zurück sind. Er muss ganz sicher sein!