Eddie und er hatten diskutiert. Sogar ziemlich heftig. Eddie war der Meinung gewesen, er habe weiß Gott genügend beigetragen, um nun auch bei der Auflösung dabei zu sein. David hatte ihm gesagt, sie seien nicht Sherlock Holmes und Dr. Watson. Oder Poirot und Hastings. Wobei er bewusst offengelassen hatte, wer von ihnen beiden nun Sherlock sei beziehungsweise Poirot. (Die Wahrheit ist wohl, dass beide gleichermaßen ihren Teil zur Lösung beigetragen haben.)
Davids stichhaltigstes Argument ist gewesen, dass er nur sich selbst bei Müller angemeldet hat. Und dass es deshalb wohl eine abschreckende Wirkung hätte, wenn dieser gleich mit zwei Männern konfrontiert würde. Sie liefen Gefahr, dass er ihnen die Tür vor der Nase zuschlüge. Eddie schmollt ein bisschen, gibt aber nach.
Also ist es David, der am Mittwoch, dem 7. April, bei Paul Müller klingelt. Wo und wie Müller wohnt, wissen Eddie und er schon seit über einer Woche. Sie haben sich die Adresse via Google Maps angesehen. Ein Reihenhäuschen gegen das Bruderholz hin. Also schick.
Binningen ist ein Vorort von Basel. In jeder anderen Stadt der Welt wären all diese Vororte – man nennt sie liebevoll ironisch «den Speckgürtel» – eingemeindet worden, und Basel würde gegen 400'000 Einwohnerinnen und Einwohner zählen statt nur rund die Hälfte. Aber weil sich die Stadt Basel und die Landschaft 1833 in einem blutigen Zwist voneinander getrennt haben, muss sich das Zentrum an seine engen, historisch bedingten Grenzen halten, kann nicht expandieren, und all diese Vorortsgemeinden linksrheinisch gehören somit zum Kanton Baselland (oder zu Frankreich).
Was ihnen nicht zum Nachteil gereicht. Sie haben tiefere Steuern, mehr Autonomie und trotzdem die Stadt mit all ihren Zentrumsleistungen unmittelbar vor der Tür. Quasi das Gelbe vom Ei.
Das schmucke, weiß getünchte Häuschen von Paul Müller ist straßenseitig von einer Gartenmauer umfasst. Nicht so hoch, dass sie abweisend wirkt, aber auch nicht so niedrig, dass sie ihren Zweck nicht erfüllen würde.
Die Lautsprecheranlage neben der Klingel sagt nach einer langen Minute zu David etwas metallisch scheppernd: «Herr Friedrich?» – David bejaht. – «Kommen Sie rein.»
Paul Müller ist immer noch ein stattlicher Mann. Fast 1,90 groß. Gepflegt, markante Gesichtszüge. Er geht leicht gebeugt, und seine Schritte sind ein wenig kürzer, als sie es wohl vor 30 oder 40 Jahren gewesen sind. Aber sein Händedruck ist noch fest, und sein Blick ist fokussiert und scharf. Das beige Hemd ist makellos gebügelt, die Hosen sitzen perfekt, die Hausschuhe sind aus feinem Leder.
Das Haus ist geschmackvoll eingerichtet. Wenn auch mit dem Charme der späten 1990er-Jahre und nicht mehr ganz modern. Müller bittet David in ein großes, schönes Wohnzimmer, dessen Panoramafenster in den Garten hinaus gehen. Er offeriert ihm etwas zu trinken. David, nervös, wünscht sich nur ein Glas Wasser. Ohne. Also am liebsten Hahnenwasser.
Müller setzt sich in den Ohrensessel, der ganz offensichtlich sein bevorzugter Platz ist. Er lässt David die Wahl zwischen einer Art Corbusier-Stuhl und einem dunkelgrünen Recliner. David wählt den Corbusier.
Er hat sich vorgenommen, einen sanften Einstieg zu wählen. Zuerst eine Atmosphäre zu schaffen, die es ihm nachher erlauben soll, die Fakten auf den Tisch zu legen. Er weiß, dass er keinen festen Beweis dafür hat, solange nicht auch Paul Müller seine DNA analysieren lässt. Deshalb ist es unerlässlich, ihn zuerst nur auf Isabelle anzusprechen. Wobei sich der alte Herr am Telefon ja schon mehr oder weniger zur Vaterschaft bekannt hat.
Sie reden erstaunlich kurz um den heißen Brei herum.
Ja, sagt Müller, er habe sich mit über 65 Jahren an einem Quartierfest in der Breite noch einmal verliebt. Er habe mit Caroline Schmidlin eine Beziehung gehabt, und daraus sei ein Kind entstanden. «Wissen Sie, Herr Friedrich, ich hatte eine sehr spezielle Jugend. Meine Mutter hat mich in den 40er-Jahren allein großgezogen. Also fast allein, meine Großeltern haben ihr geholfen. Einen Vater gab es nicht. Sie hat das auf sich genommen, hat nicht abgetrieben. Sonst wäre ich heute nicht hier. Und weil mir das Leben in dieser Art geschenkt wurde – durch die Entscheidung einer Frau, meiner Mutter –, stand für mich außer Frage, was ich Caroline raten würde. Ich sagte ihr, sie solle das Kind austragen. Das sei mein Wunsch. Und ich versprach ihr, mich um die Kleine zu kümmern. Dafür zu sorgen, dass sie eine gute Kindheit und eine gute Jugend hat, ohne finanzielle Sorgen. Wissen Sie, ich wollte mich nicht vor der Ehe drücken. Es wäre meine zweite gewesen. Meine erste Frau starb 1995 an Krebs. Aber wäre es im Sinn der Kleinen gewesen, einen Vater zu haben, der ihr Großvater, wenn nicht ihr Urgroßvater sein könnte?» Er lässt das Gespräch ruhen.
David weiß: Er kann darauf etwas sagen oder nicht. Er kann es als rhetorische Frage im Raum stehen lassen oder seine Meinung einbringen. Es würde weder am Geschehenen etwas ändern, noch ist zu erwarten, dass Paul Müller ihn bei einer «falschen» Antwort hochkant rauswirft.
«Ich denke», fährt Müller schließlich fort, «es ist gut so, wie es herausgekommen ist. Außer, dass ich nicht erwartet hatte, dass Caroline aufgibt. Dass sie davonrennt. Aber Isabelle ist glücklicherweise gefestigt. Sie ist gut aufgehoben, und dieser Eckert, der Pfarrer, meint es gut mit ihr. Ich habe durchaus meine Augen und Ohren dort im Quartier und verfolge Isabelles Weg aufmerksam.»
«Dann wussten Sie auch bereits, dass sie bei mir im Laden hat schnuppern wollen?»
«Ja, natürlich, das war mit Eckert abgesprochen.»
«Was Sie aber nicht wissen, vermute ich wenigstens, Herr Müller, dass mein Vater – und damit jetzt ich – vier weitere ihrer Töchter in der Kundschaft hatte beziehungsweise habe ...»
Der Alte schaut ihn fassungslos an. Runzelt die Stirn. Lacht zuerst einmal laut. Dann nimmt er einen Schluck Weißwein, denn er hatte schon ein halbleeres Glas neben sich stehen gehabt, als David ankam.
«Wie kommen Sie darauf?»
Und David fragt sich, wie der andere das meint. Heißt diese Frage «Sie spinnen», oder will Müller wirklich wissen, wie er das herausgefunden hat? Der Tonfall ist neutral. Es ist nicht eindeutig zu erkennen, was er meint.
«Mein Vater ist darauf gekommen. Er hat gewisse körperliche Merkmale entdeckt und angefangen, Haarproben zu sammeln. Ein paar Wochen später hat er ein Labor gebeten, diese Proben auf ihre DNA zu überprüfen. Das Ergebnis ist zu 99,9 Prozent sicher.»
Müller fixiert ihn. Schaut aus dem Fenster, wo gerade ein paar Wolken die Sonne verdecken. Er sagt nichts.
David macht weiter: «Und dann bin ich, eher durch Zufall, bei Isabelle stutzig geworden. Die grünen Augen. Die angewachsenen Ohrläppchen ... Das Labor hat einen weiteren Test gemacht. Und das Ergebnis, ist wiederum eindeutig. Isabelles Vater ist auch der Vater meiner vier Kundinnen.»
Müller lächelt kurz. Ironisch. Süffisant. Wie will man es nennen? «Darf ich Sie fragen, Herr Friedrich, wer die vier Kundinnen sind?»
«Frau Kost, ledig Bruckmann. Frau Trist, ledig Maegelin. Frau Herzog, ledig Trist. Und Frau Träsch, ledig Fahy.»
«Wie lange haben Sie Zeit, Herr Friedrich?» Er räuspert sich.
«Ich hätte eine Kundin um 17 Uhr. Aber ich kann absagen.»
«Dann sagen Sie ab. Ich will Ihnen erzählen, wie es kommt, dass ich der Vater dieser Frauen geworden bin. Mit Franziska Fahy, der Mutter von Elisabeth Träsch-Fahy, hat es angefangen. Isabelle, das verrate ich Ihnen jetzt schon, ist eine ganz andere Geschichte. In ihre Mutter hatte ich mich verliebt. Idiotischerweise nahm ich an, dass ich mit beinahe 70 Jahren keine Kinder mehr zeugen könnte. Und ebenso dumm war, dass Caroline nicht verhütet hat. Wohl auch davon ausgehend, dass nichts mehr passieren würde. Doch es ist passiert. Und ich bin stolz auf Isabelle, aber bei den anderen vier Frauen, die Sie erwähnt haben, steckt eine ganz andere Geschichte dahinter, Herr Friedrich. Glauben Sie mir. Eine ganz andere Geschichte.»
Und so kommt es, dass Paul Müller ihm erzählt, wie er als Bub davon geträumt hatte, ans Gymnasium gehen zu können, um später Architekt oder Ingenieur zu werden. Wie das scheiterte, weil es an Geld fehlte. Wie die Mutter angedeutet hatte, es würde an gar nichts fehlen, wenn der Vater bloß zu ihm – und ihr! – gestanden hätte.
Sein Lebensweg danach. Die Lehre in der Garage. Sein Aufstieg dank Alfons Gruber und dann die Sache mit Franziska. Seine Rachegedanken.
«Wie Sie unschwer erkennen, Herr Friedrich», resümiert Müller über eine Stunde später – das zweite Glas Weißwein ist fast leer –, «hat bei mir Rache nicht zu Toten, sondern zu Lebenden geführt. Hierzu waren neben gutem Auftreten und Charme nur gewisse Manipulationen an dem zu dieser Zeit gängigen Verhütungsmittel, dem Präservativ, nötig. Die Antibaby-Pille war ja gerade erst dabei, zu ihrem Siegeszug anzusetzen. Mit der Zeit habe ich meine Methode verfeinert und immer mehr darauf geachtet, dass die jungen Frauen einen passenden Freund oder Verlobten in petto hatten.»
«Ich nehme an, Herr Müller, neben den vier Kundinnen meines Vaters, von denen ich nun weiß, dass es ihre Töchter sind, gibt es noch mehr?»
«Ja. Es gibt noch weitere Kinder von mir. Eine Zahl nenne ich nicht. Ich bin mir in ein oder zwei Fällen nicht sicher. Wissen Sie, wenn ihr Vater nicht so ein verdammt guter Coiffeur ausgerechnet in der Dalbe geworden wäre, hätte das nie jemand gemerkt. Aber gleichzeitig hat es natürlich System. Diese Familien verkehren untereinander. Man tauscht sich aus, und wenn die eine Dame findet, der Werner Friedrich sei also schon die Top-Adresse, dann dauert es nicht lange, bis auch Frau Merian, Frau Iselin und all die anderen dies bestätigt haben wollen.»
«Die Frage ist, was jetzt geschehen soll?»
«Was soll denn geschehen, Herr Friedrich? Erstens sind Sie kein Polizist. Wie wollen Sie an meine DNA herankommen? Zweitens vermute ich, dass es illegal ist, was Ihr Vater getan hat. Sie können nicht einfach hingehen und ohne Einwilligung der betroffenen Person einen DNA-Test durchführen lassen. Drittens würde ich selbstverständlich alles abstreiten, was ich Ihnen gerade eben erzählt habe. Oder haben Sie unser Gespräch etwa heimlich aufgenommen?»
«Nein, das habe ich nicht. Und ja, ich weiß, dass mein Vater etwas gemacht hat, was er gar nicht hätte tun dürfen.»
«Wie ist ihr Vater eigentlich gestorben?»
«Er wurde auf dem Zebrastreifen vor dem Uni-Spital angefahren und stürzte so unglücklich, dass man ihm nicht mehr helfen konnte. Übrigens genau an dem Tag, an dem er die Laboranalysen abholen wollte.»
«Ach, also hat Ihnen jemand im Universitätsspital geholfen?»
David realisiert sofort, dass er zu viel gesagt hat. Nun ist es an ihm zu schweigen.
Müller schmunzelt. «Weiß man denn, wer der Fahrer oder die Fahrerin des Unfallwagens war?»
Eine Frage, die sich David auch schon gestellt hatte. Aber die Polizei hatte ihm die Auskunft verweigert. Nur wenn der Fahrer oder die Fahrerin aus Gewissensgründen sich bei ihm melden wolle, würde er es erfahren, hatte der zuständige Beamte der Staatsanwaltschaft ihm gesagt. Aber aus Gründen des Personenschutzes sei es ihnen nicht erlaubt, den Namen herauszugeben.
«Nein», sagt David.
«Hmm. Und wenn es kein Unfall war? Wenn jemand verhindern wollte, dass ihr Vater etwas aufdeckt, das unbedingt unter dem Deckel gehalten werden musste?»
David stutzt. Auf die Idee ist er nie gekommen. Auch Eddie nicht. Ist das eine Möglichkeit? Theoretisch vielleicht. Aber die Proben waren zu jenem Zeitpunkt schon bei Karlovic. Wenn, dann hätte man Werner Friedrich totfahren müssen, bevor er sie beim Professor hatte abgeben können.
«Lassen wir das, Herr Friedrich. War nur so ein Gedanke. Aber was ich ihnen versichern kann: Es hilft niemandem mehr, nach 60 oder mehr Jahren zu erfahren, dass da ein Kuckuckskind geboren wurde. Was soll es meinen Töchtern bringen, wenn sich jetzt herausstellt, dass ich in Tat und Wahrheit ihr Vater bin? Was heißt es für die Mütter, wenn sie zugeben müssen, während so langer Zeit gelogen zu haben? Und was für die angeblichen Väter, wenn sie nach all diesen Jahren erkennen müssen, das Kind eines anderen großgezogen zu haben? Ich kann es Ihnen sagen: Es hilft niemandem nichts.»
«Erbrechtlich?»
«Sie sind gut. Ich habe zwar ordentlich Geld verdient, Herr Friedrich. Aber all meine Kinder sind Teil von Familien, die weiß Gott genug Vermögen haben. Vermögen, das meines um ein Mehrfaches übersteigt.»
«Außer Isabelle.»
«Außer Isabelle, und sie ist in meinem Testament auch als meine alleinige Erbin eingesetzt. Punkt.»
«Haben Sie erwogen, sich ihr gegenüber jetzt noch als Vater erkennen zu geben?»
«Ja, habe ich. Aber werde ich nicht tun. Das hätte ich – wenn überhaupt – früher machen sollen. Es wäre für das Mädchen verwirrend und unfair, es jetzt noch zu erfahren.»
«Das ist eine Ausrede, Herr Müller, wenn ich das sagen darf. Denken Sie nicht, dass sie unendlich viele Fragen an ihren Vater hätte und es feige und unfair findet, von diesem im Stich gelassen worden zu sein?»
Zum ersten Mal wird Müller sauer. David sieht das. Der Blick das 84-Jährigen wird hart. Er beißt auf die Zähne. Hat aber in seinem Leben offensichtlich gelernt, auf zehn zu zählen oder auf hundert, wenn er wütend wird. Denn er lässt den ersten Zorn nicht nach außen dringen. «Feige? Das hat man mir in meinem Leben noch nicht oft gesagt!»
«Es tut mir leid, Herr Müller. Aber ich sehe es so. Man hört immer wieder, wie viele adoptierte Kinder unbedingt wissen wollen, wer ihre richtigen Eltern sind. Das ist ein großer Wunsch. Ich kann mir denken, dass Isabelle ihn auch hat – oder haben wird.»