7. Kapitel
Hamburg, Freitag, 22. Januar 1897
»Aber wie kann ich Frau Petersen denn erreichen?«, hörte Georg jemanden Fräulein Schreiber fragen, als er an diesem Freitagmorgen das Kontor betrat und gerade die Treppe zum ersten Stock heraufkam.
Georg nahm die letzte Stufe und ging auf den Schreibtisch der Sekretärin zu.
»Herr Dr. Kramer, welch angenehme Überraschung«, sagte Georg, der den Rechtsanwalt der Familie schon von hinten erkannte.
Der Jurist drehte sich um. »Herr Hansen, guten Morgen«, grüßte er und streckte die Rechte aus, die Georg ergriff.
»Möchten Sie zu mir?«
»Nein, Herr Hansen. Offen gesagt, möchte ich zu Ihrer Nichte, Frau Petersen. Doch Ihre Sekretärin hat mir soeben mitgeteilt, dass sie gar nicht da ist.«
»Nein. Sie ist außer Landes«, bestätigte Georg. »Kann ich Ihnen vielleicht helfen?«
Der Rechtsanwalt schien zu überlegen. »Ich fürchte nicht, da ich an die Schweigepflicht gebunden bin«, erklärte Leonhard Kramer schließlich. »Andererseits laufen gewisse Fristen, und wenn die verstreichen, würde es Sie ebenfalls betreffen.«
»Kommen Sie doch erst einmal in mein Büro. Kann ich Ihnen einen Kaffee anbieten?«
»Ja, gern. Mit Milch und Zucker«, erwiderte der Anwalt, worauf Georg Fräulein Schreiber ein Zeichen gab. Die Sekretärin nickte und stand sofort auf, um den Kaffee zu holen.
»Bitte.« Georg deutete auf seine Bürotür, ging dann einige Schritte voraus und öffnete dem Besucher, der auch gleich eintrat. Statt auf den Schreibtisch wies Georg auf die beiden sich gegenüberstehenden Sofas. »Nehmen wir doch dort Platz«, bot er an. »Darf ich Ihnen den Mantel abnehmen, Herr Dr. Kramer?«
Der Rechtsanwalt zog ihn aus und reichte ihn Georg. »Danke.« Dann nahm er auf dem rechten Sofa Platz und wartete, bis Georg diesen und seinen eigenen Mantel aufgehängt hatte und schließlich zu ihm herüberkam und sich ebenfalls setzte.
»Haben Sie schon gehört?«, begann Georg das Gespräch. »Die Arbeiter dürfen das Hafengelände nicht mehr betreten. Wollen wir doch mal sehen, ob sie jetzt zur Vernunft kommen.«
»Ja, ich hörte davon. Ich hoffe, dass die Maßnahmen Wirkung zeigen.«
»Es wird auch wirklich Zeit.«
»Offen gesagt, hatte ich es bisher so verstanden, dass die Familie Hansen gegen eine gewaltsame Niederschlagung der Streiks war.«
»Ja, das war auch so.« Georg nahm eine gerade Sitzhaltung an. »Doch seit dieses Pack daran beteiligt war, meine Großnichte zu ermorden, sehe ich die Sache ein bisschen anders.« Die Wut, die aus Georg sprach, war deutlich herauszuhören.
Der Rechtsanwalt ging nicht auf die Bemerkung ein. In diesem Moment klopfte es, und Fräulein Schreiber betrat mit einem Tablett in Händen den Raum. Sie kam herüber und stellte alles auf dem Tischchen, das zwischen den Sofas stand, ab.
»Bitte sehr, die Herren.«
»Vielen Dank, Fräulein Schreiber«, sagte Georg und nickte ihr zu. Dann verließ sie wieder den Raum.
»Nun, Herr Dr. Kramer, wie kann ich Ihnen helfen?«
»Wie gesagt, ich unterliege der Schweigepflicht. Daher befinde ich mich in einer schwierigen Situation.«
»Wenn Sie mir einen Anhaltspunkt geben, könnte ich Ihnen sagen, ob ich ohnehin darüber Bescheid weiß.«
»Es geht um die Ehe Ihrer Nichte«, erklärte der Anwalt.
»Die diese aufzulösen beabsichtigt, wie ich weiß«, gab Georg zurück.
Dem Rechtsanwalt war eine gewisse Erleichterung anzumerken.
»Gut, Sie sind also im Bilde. Das erleichtert die Angelegenheit sehr.«
»Meine Nichte und ich haben Seite an Seite hier im Kontor gearbeitet, und ich vertraue ihr vorbehaltlos. Und ich denke behaupten zu können, dass Luise mir ebenfalls vertraut. Ich weiß, wie es zur Trennung von Hans Petersen kam und was sie bewogen hat, die Scheidung zu fordern.« Georg überlegte kurz. »Und ich bin ebenfalls darüber informiert, welche Verträge seinerzeit vor der Heirat geschlossen wurden und dass nunmehr die Rückabwicklung dieser Vereinbarung zu erfolgen hat.«
»Gut. Sehr gut«, befand der Jurist. »Das ist tatsächlich der Kern der Schwierigkeiten, die sich auftun, und worüber ich dringend mit Frau Petersen sprechen muss.«
»Ich fürchte, dann müssen Sie dies schriftlich tun. Denn ich weiß nicht, wann und ob sie überhaupt wieder zurückkommt.«
»Das ist es ja, Herr Hansen. Das geht nicht. Es laufen Fristen.«
»Welche Fristen?«
»Nun, ich habe den Auftrag von Frau Petersen erhalten, die Scheidung durchzuführen und auch alles andere in die Wege zu leiten. Jedoch wehrt sich Herr Petersen gegen dieses Verfahren.«
»Wie bitte?«
»Ganz recht. Er möchte nicht von Ihrer Nichte geschieden werden und stellt sich auch ganz entschieden gegen eine Rückübertragung der Kontoranteile an Ihren Bruder.« Erst jetzt schien dem Rechtsanwalt Robert in den Sinn zu kommen. »Sagen Sie bitte, Ihr Herr Bruder ist wohl auch nicht zugegen, nein?«
»Nein, ich bedaure. Er leitet das Kontor in Wien.«
»Ich verstehe.« Dr. Kramer nahm einen Schluck Kaffee und stellte die Tasse dann wieder auf den Tisch.
»In jedem Fall müssen wir jedoch schon in Kürze reagieren, da das Gericht die Scheidungsklage ansonsten abweisen würde.«
»Das darf natürlich nicht geschehen«, erwiderte Georg. »Was können wir tun, Herr Dr. Kramer?«
»Nun, ich könnte einen Schriftsatz vorbereiten und die Behauptungen der Gegenseite zurückweisen. Doch letztendlich verschafft uns das nur ein wenig Zeit. Um es ganz deutlich zu machen: Das Gericht wird die Klage auf Ehescheidung abweisen, wenn Ihre Nichte nicht selbst vor Gericht erscheint.«
»Ich verstehe«, sagte Georg. »Doch allein die Rückreise wird mindestens einen Monat dauern, selbst wenn ich ihr sofort telegrafiere und sie überzeuge, zurückzukommen.« Er schüttelte den Kopf. »Doch genau daran glaube ich nicht.« Er sah den Rechtsanwalt an. »Sie wissen ja, welch schrecklichen Verlust meine Nichte erlitten hat. Luise ist gewiss kein Mensch, der allzu schnell aufgibt oder sich aus einer Verantwortung stiehlt. Dass sie einfach auf dieses Schiff gegangen ist und Hamburg und dem Kontor den Rücken zugekehrt hat, zeugt von ihrer tiefen Verzweiflung. Ich glaube nicht, dass sie die Kraft für eine weitere Reise, geschweige denn für einen Gerichtstermin haben wird.«
»Ich will ganz offen sein, Herr Hansen. Wenn Ihre Nichte sich dem Scheidungsverfahren nicht stellt und es abgewiesen wird, hat Hans Petersen das Recht, seinen Platz in diesem Kontor einzunehmen. Ihm gehören die Anteile, nicht Ihrer Nichte, und er könnte auf die Vorlage sämtlicher Kontorpapiere bestehen. Ja, er könnte sogar im Namen des Kontors Hansen Geschäfte machen.«
»Aber Hans hatte nie das Geringste mit dem Kontor zu tun«, widersprach Georg. »Sie wissen doch selbst, dass diese Verträge nur aus dem einen Grund geschlossen wurden: weil Luise als Frau keine Geschäfte tätigen darf.«
»Ja, deshalb sind wir ja seinerzeit auf die Lösung mit den Verträgen im Falle einer Scheidung gekommen. Nur sind wir nicht davon ausgegangen, dass die Gegenseite sich gegen dieses Verfahren sperren würde.«
»Hat Hans denn nicht mehr das geringste Ehrgefühl im Leib?«, empörte sich Georg.
Der Rechtsanwalt zuckte die Schultern. »Sie wären überrascht, wie tief die Würde eines Menschen sinken kann, wenn es um Geld geht.«
»Aber das hat er doch gar nicht nötig. Sein Onkel, dessen Alleinerbe Hans ist und in dessen Firma er arbeitet, besitzt eine ganz Reihe von Kaffeehäusern, die allesamt guten Umsatz bringen. Sie werden doch davon gehört haben?«
»Selbstverständlich kenne ich die Familie Petersen und die finanziellen Verhältnisse. Doch offenbar ist das dem Ehemann Ihrer Nichte nicht genug.«
Georg ballte die Hand zur Faust. »Wenn Sie das Verfahren hinauszögern und wir Luise zur Verhandlung rechtzeitig herbeischaffen, wird man Hans dann zur Scheidung zwingen können?«
»Nun, dass die Schuldfrage geklärt und allgemeinhin bekannt ist, dürfte unstreitig sein, da diese Ida Kleinschmidt gar zu öffentlich über das Geschehen berichtet hat, wie mir zu Ohren kam. Hier sehe ich keine Schwierigkeiten, da sie sich mehr als deutlich dahingehend geäußert hat, die nächste Frau Petersen werden zu wollen.«
»Dann verstehe ich noch weniger, weshalb die Angelegenheit nicht auf diesem Wege geklärt werden kann.«
»Nun, ganz einfach: Das Gericht ist stets bestrebt, dass eine Versöhnung der Parteien stattfindet. Und Herr Petersen hat sich ausdrücklich dazu bereit erklärt.«
»Das kann ich mir vorstellen«, grummelte Georg. »Dieser Mistkerl sollte das besser keinem Hansen ins Gesicht sagen, wenn er kein blaues Auge riskieren will.« Kurz erinnerte er sich, dass er selbst Vera auf die gleiche Weise hintergangen hatte, und sie hatte ihm verziehen und ihm damit sein Leben zurückgegeben. Doch er schob den Gedanken schnell beiseite.
»Wie dem auch sei«, befand der Rechtsanwalt. »Ich habe mir alle Unterlagen noch einmal vorgenommen und die Sache ist eindeutig. Sollte die Scheidung scheitern, bleibt alles, wie es ist. Nur kann eben niemand sagen, was Herr Petersen im Hinblick auf das Hansen-Kontor plant. Vorher war es eine andere Situation. Da hat meine Mandantin die Geschäftsführung des Kontors innegehabt und es geleitet, wenngleich im Grunde nur im Namen ihres Mannes. Wenn nun diese Führung nicht mehr durch meine Mandantin ausgeübt wird, kann ich nur spekulieren, wie Herr Petersen sich verhalten wird.«
»Luise muss also unbedingt nach Hause kommen?«
»Ja, ich halte es für unabdingbar.«
»Wie lange haben wir Zeit?«
»Nun, ich werde zunächst um eine Fristverlängerung bitten, da meine Mandantin sich derzeit aus geschäftlichen Gründen außer Landes befindet. Ich werde nicht auf die wahren Gründe eingehen, da sich dies zu unseren Lasten auswirken könnte.«
»Sie meinen, das Gericht hätte für diese Ausnahmesituation kein Verständnis?«
»Nun, natürlich könnte es eine Strategie sein, sie als trauernde Mutter darzustellen, die den Erinnerungen an den Ort, an dem sie mit ihrer Tochter gelebt hat, entfliehen wollte. Denn das halte ich persönlich für den Grund ihrer Abreise.«
»Das ist richtig«, bestätigte Georg.
»Doch ich würde davon abraten«, erklärte der Jurist weiter. »Das Gericht wird einwenden, dass Herr Petersen ebenso seine Tochter verloren hat und auf die gleiche Weise trauert, ohne jedoch seinen Verpflichtungen hier entflohen zu sein.«
»Ziemlich herzlos«, stellte Georg fest.
»Hier geht es um die Rechtslage, nicht um Emotionen«, entgegnete Dr. Kramer. »Wenn wir es so darstellen, dass der einzige Grund, weshalb Ihre Nichte nach Kamerun gefahren ist, ein geschäftlicher ist, haben wir bessere Karten.«
»Dann machen Sie es so«, befand Georg.
»Dafür muss aber gewährleistet sein, dass sie auch zurückkommt.«
Georg nickte. »Ich verstehe. Doch was soll ich tun? Ich kann sie schließlich nicht zwingen.«
»Ich denke, wenn Sie Ihrer Nichte die Rechtslage erklären, wird sie einlenken.«
»Sie kann einen ziemlichen Dickkopf haben«, erwiderte Georg. Da fiel ihm ein, dass Robert ihm mitgeteilt hatte, am Sonntag aufbrechen zu wollen, um mit dem nächsten Schiff zu Luise nach Kamerun zu reisen. »Aber vielleicht gibt es eine andere Möglichkeit als einen Brief.« Er sah den Rechtsanwalt an. »Also, Herr Dr. Kramer, wie viel Zeit haben wir?«
»Eine Reise nach Kamerun beziehungsweise von dort zurück dauert einen Monat. Ihre Nichte ist erst vor Kurzem dort eingetroffen, um die Geschäfte zu betreiben. Ich kann also plausibel argumentieren, dass meiner Mandantin die Gelegenheit gegeben werden muss, in Kamerun alles zu erledigen, was gewiss einen Monat in Anspruch nehmen darf. Mit ein paar weiteren Erklärungen und wenn ich meine Arbeitsüberlastung zusätzlich ins Feld führe, die es mir unmöglich macht, sogleich auf alles zu reagieren, können wir vermutlich zehn Wochen herausholen. Doch mehr wird nicht möglich sein.«
»Zehn Wochen. Sie muss also gegen Ende März wieder hier sein?«
»Gern auch früher. Doch das wäre wirklich der späteste Zeitpunkt.«
»Gut.« Georg stand auf. »Dann sollten wir uns jetzt verabschieden, da ich dringend meinen Bruder in Wien erreichen muss.«
Der Rechtsanwalt erhob sich ebenfalls und reichte Georg die Hand. »Ich wünsche Ihnen viel Erfolg, Herr Hansen. In unser aller Interesse.« Sie schüttelten sich die Hand, dann ging Georg und holte den Mantel des Anwalts. Dr. Kramer legte ihn sich über den Arm und sah Georg noch einmal eindringlich an. »Ich hoffe sehr, dass Ihre Nichte rechtzeitig wieder hier ist. Ich habe seinerzeit die Verträge ausgearbeitet und nun versucht die Gegenseite, sie auszuhebeln. So etwas nehme ich persönlich«, erklärte Dr. Kramer.
»Und ich nehme persönlich, dass dieser Kerl sich an der harten Arbeit, die seine Frau geleistet hat, zu bereichern versucht«, gab Georg zurück.
»Auf Wiedersehen, Herr Hansen. Bitte halten Sie mich auf dem Laufenden.«
»Das werde ich, Herr Dr. Kramer. Sie haben mein Wort.«
Damit verließ der Rechtsanwalt Georgs Büro.
Einen Moment blieb Georg noch an der Tür stehen, unschlüssig, was er als Nächstes tun sollte. Verdammt noch mal! Alles wäre viel leichter, wenn das Telefonnetz schon so weit ausgebaut wäre, dass es eine Direktverbindung nach Wien gäbe. Dann eilte er zu Fräulein Schreiber hinüber.
»Ich brauche die nächste Zugverbindung nach Wien. Die schnellste, egal, was es kostet.«
»Ja, Herr Hansen, ich kümmere mich gleich darum.«
»Danke, Fräulein Schreiber«, sagte Georg und hastete zurück in sein Büro. Dort setzte er sich an seinen Schreibtisch, griff den Telefonhörer und rief in der Villa Hansen an. Es klingelte einige Male, dann nahm die Haushälterin das Gespräch an.
»Hier Villa Hansen.«
»Ich bin es, Anna. Ich möchte gern meine Frau sprechen.«
»Guten Tag, gnädiger Herr. Ihre Frau ist im Wohnzimmer. Ich bitte um einen kurzen Moment Geduld.«
»Beeil dich, Anna! Es ist wichtig.«
»Jawohl, gnädiger Herr.« Er hörte rasche Schritte, dann kam kurz darauf Vera ans Telefon. »Ja, hallo? Georg?«
»Vera, hör mir bitte zu. Ich muss sofort nach Wien reisen. Robert fährt am Sonntag nach Kamerun ab, und ich muss vorher unbedingt mit ihm sprechen.«
»Was? Weshalb das denn?«
»Ich habe jetzt keine Zeit, dir alles zu erklären, Vera. Lass Anna sofort einen Koffer mit den wichtigsten Sachen packen. Hugo wird ihn abholen.«
»Aber kannst du nicht einen Angestellten damit beauftragen?«
»Nein, Vera. Und ich werde das nicht diskutieren. Es geht um unser aller Existenz.«
Kurz stockte Vera, dann sagte sie: »Ich werde Anna anweisen, sich zu beeilen.«
»Danke, Vera. Ich schicke Hugo gleich los.« Georg legte den Hörer auf und blätterte dann eilig die Unterlagen auf seinem Schreibtisch durch. Das musste warten. Er ging zum Safe hinüber und nahm genügend Bargeld an sich, um nicht nur die Zugfahrkarten, sondern auch ein Hotelzimmer bezahlen zu können. Andererseits wäre es auch gewiss möglich, bei Robert und Therese unterzukommen oder bei Florentinus, mit dem er sich während seiner Zeit in Wien angefreundet hatte. Doch er wollte sicherheitshalber genug Geld mit sich führen. Man konnte ja nie wissen.
Er eilte die Stufen nach unten und trat vor das Kontor, wo Hugo, sein Kutscher, auf ihn wartete. Dem war anzusehen, dass er nicht damit gerechnet hatte, seinen Chef so rasch wiederzusehen.
»Hugo«, sprach Georg ihn an. »Du musst sofort zur Villa fahren und einen Koffer holen, der dort bereitsteht. Beeil dich!«
»Jawohl, Herr Hansen. Wird erledigt.« Sofort nahm der Kutscher die Zügel auf und trieb das Pferd an. Georg machte kehrt, ging zurück ins Gebäude und dann in die Lagerhalle, wo er nach Peter Friedrichs, dem Vorarbeiter, Ausschau hielt. Die Mitarbeiter, die ihn sahen, grüßten freundlich.
»Ich suche Peter Friedrichs«, sagte er zu Knut Müller, einem jungen Mann, der erst seit dem letzten Jahr im Kontor Hansen beschäftigt war.
»Der ist hinten bei den Gitterboxen, Herr Hansen«, erklärte Müller und wies mit dem Arm in die Richtung.
»Danke.« Georg machte sich auf den Weg, grüßte die Angestellten, die ihm entgegenkamen, und entdeckte schließlich Friedrichs bei den Gitterboxen der Firma Nehlsen, dem größten Kunden des Kontors.
»Herr Friedrichs, hätten Sie einen Moment?«, bat Georg, worauf der Vorarbeiter aufsah.
»Natürlich, Herr Hansen.« Er nahm die Listen, die er soeben kontrolliert hatte, in die linke Hand und ging auf seinen Chef zu. Die beiden reichten sich die Rechte.
»Ich muss dringend nach Wien zu meinem Bruder Robert«, kündigte Georg an. »Deshalb möchte ich Sie bitten, ein Auge auf alles zu haben. Ich weiß, das geht über Ihre Aufgaben hinaus, doch mir gehen langsam die Menschen aus, denen ich vertraue.«
»Auf mich können Sie zählen, Herr Hansen. Das wissen Sie doch.«
»Ja, ich weiß. Je nachdem, wie die Züge fahren, werde ich in wenigen Tagen zurück sein. Doch wenn irgendetwas sein sollte, verlasse ich mich darauf, dass Sie die Sache regeln.«
»Jawohl Herr Hansen. Das werde ich.«
»Danke.« Wieder schüttelten sie sich die Hände, dann machte Georg kehrt und ging in den ersten Stock in sein Büro zurück. Nur etwa zehn Minuten später klopfte es, und nach seiner Aufforderung trat Fräulein Schreiber ein, kam sofort zu seinem Schreibtisch herüber und reichte ihm einen Umschlag.
»Ich habe einen Zug für Sie gebucht, doch Sie haben nur noch eine Stunde, bis er abfährt.«
Georg blickte auf seine Uhr, es war Viertel nach neun. »Hoffentlich ist Hugo rechtzeitig zurück.« Kurz überlegte er, stellte dann aber fest, dass der Kutscher es unmöglich schaffen könnte, zur Villa Hansen und wieder zurück ins Kontor zu fahren und ihn dann noch rechtzeitig zum Bahnhof zu bringen.
»Fräulein Schreiber, wären Sie wohl so nett, bei mir zu Hause anzurufen? Hugo ist auf dem Weg dorthin, um meinen Koffer zu holen. Er soll damit bitte nicht hierher zurückkommen, sondern auf direktem Weg zum Bahnhof fahren. Ich warte vor dem Haupteingang auf ihn.«
»Ja, Herr Hansen. Natürlich. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«
»Nein, Fräulein Schreiber, haben Sie vielen Dank. Ich werde so rasch wie möglich nach Hamburg zurückkehren. Sollte sich während meiner Abwesenheit etwas Unvorhergesehenes ereignen, so wenden Sie sich an Peter Friedrichs. Er hat mir zugesagt, sich nötigenfalls um alles zu kümmern.«
»Ja, Herr Hansen.«
Georg überlegte kurz, ob er noch etwas in die Wege zu leiten hätte, doch für den Moment fiel ihm nichts mehr ein. »Ich werde jetzt aufbrechen«, sagte er schließlich, verstaute das Geld, das er aus dem Safe genommen hatte, in seiner Brieftasche und steckte auch die Fahrscheine dazu. Dann verabschiedete er sich von Fräulein Schreiber und brach auf. Vor dem Kontor wandte er sich nach links und ging zu der Haltestelle, wo sich die Kutscher sammelten. Er wies den ersten in der Reihe an, ihn zum Bahnhof zu fahren, stieg ein und schloss kurz die Augen, als der Kutscher losfuhr. Georg war nicht der Mensch, der gut damit umzugehen wusste, wenn sich die Ereignisse überschlugen. Er fühlte sich wohler, wenn die Tage einem gleichmäßigen Rhythmus folgten und die Aufgaben, die vor ihm lagen, geplant werden konnten. Doch hier und heute war rasches Handeln gefragt. Und er konnte nur hoffen, seinen Bruder noch rechtzeitig zu erreichen, damit dieser in Kamerun mit Luise reden und sie hoffentlich dazu bewegen würde, nach Hause zu kommen. Denn selbst wenn Hans gar nichts Geschäftsschädigendes mit dem Kontor vorhatte, so wollte Georg diesen Kerl doch keinesfalls in der Firma sehen, nicht einen einzigen Tag.
Als die Kutsche vor dem Bahnhof zum Stehen kam, bezahlte Georg, stieg aus und positionierte sich gut sichtbar direkt vor dem Haupteingang. Er sah auf seine Taschenuhr, es war kurz vor zehn. Georg reckte den Hals, hielt nach Hugo Ausschau. Dieser war jedoch weit und breit nicht zu sehen. Nach einer Weile sah er wieder auf die Uhr. Kurz nach zehn, er musste sich beeilen, um zum Zug zu kommen. Noch einmal blickte er in alle Richtungen, machte dann kehrt und ging schnellen Schrittes zum Gleis. Der Zug stand schon zur Abfahrt bereit. Er holte seinen Fahrschein hervor: Abteil 3, 1. Klasse. Er musste noch ein Stück weiter nach vorn gehen, um das richtige Abteil zu erreichen. Wieder drehte er sich um, ob Hugo womöglich doch noch rechtzeitig eintraf. Dann eilte er weiter und wäre fast mit einem Schaffner zusammengestoßen.
»Verzeihung, der Herr«, sagte der Schaffner.
»Es war mein Fehler. Entschuldigung«, gab Georg zurück.
»In welchem Abteil sitzen der Herr?«,
»1. Klasse, Abteil 3«, antwortete Georg.
»Bitte.« Der Schaffner deutete auf die nächstgelegene Tür. »Sie können hier einsteigen und sich dann nach links wenden. Dann erreichen Sie Ihr Abteil.«
»Danke.« Georg sah noch ein letztes Mal in Richtung Treppe. Dann stieg er in den Zug. Er fand sein Abteil sofort.
»Alles einsteigen und die Türen schließen!«, schallte es nun von draußen herein.
Georg setzte sich auf den Platz am Fenster und sah hinaus. In diesem Augenblick sah er Hugo, der atemlos mit einem Koffer in der Hand an dem Zug entlanghetzte und versuchte, einen Blick in die Fenster zu werfen. Georg sah am Fenster hinauf. Verdammt noch mal! Es gab keine Möglichkeit, es zu öffnen. Eilig sprang er von seinem Sitz auf und lief in Richtung Tür, die jedoch bereits geschlossen war, und versuchte sie zu öffnen. Der Schaffner stand noch immer auf dem Bahnhof und wurde nun durch das heftige Klopfen auf Georg aufmerksam. Rasch öffnete er die Tür.
»Meine Güte, was für eine Hetzerei!«, schnaufte Hugo und reichte Georg am Schaffner vorbei den Koffer.
»Danke, Hugo!« Georg war erleichtert. In diesem Moment ertönte ein Pfiff, und der Schaffner bedeutete Georg, ihn ebenfalls einsteigen zu lassen. Georg wollte Hugo noch etwas zum Abschied zurufen, doch der stand gebeugt mit den Händen auf den Knien, den Blick zu Boden gerichtet und rang nach Atem.
»Vielen Dank für Ihre Hilfe«, sagte Georg, zog einige Münzen hervor und gab sie dem Schaffner, der sich bedankte. Dann ging Georg mit dem Koffer in sein Abteil und nahm seinen Platz ein. Er war erleichtert, dass es doch noch geklappt hatte. Aber Hugo hatte schon recht: Was für eine Hetzerei!