28. Kapitel
Hamburg, Mittwoch, 31. März 1897
Luise war vollkommen abgehetzt, als sie in den frühen Morgenstunden nach Hause kam. Sie hatte um diese Uhrzeit keine Kutsche gefunden – kein Wunder, denn es war nach drei Uhr am Morgen gewesen, als sie auf die Straße getreten war. Also hatte sie den ganzen Weg von Hamzas Zimmer zur Villa laufen müssen und dadurch Gelegenheit, ihre Gedanken einigermaßen ordnen zu können.
Sie hatten fast den gesamten Dienstag miteinander verbracht, weil Luise sich hatte ablenken wollen. Schließlich lag ihr der Scheidungstermin doch arg im Magen, und da Hamza ohnehin allein war, war es naheliegend, die Zeit gemeinsam zu überbrücken. Sie hatten in seinem Zimmer gesessen und sich stundenlang miteinander unterhalten, hatten gelacht und dann auch wieder ernstere Themen angeschnitten. Luise hatte das Beisammensein genossen, und sie glaubte, dass es Hamza ebenso ergangen war. Sie hatten zusammen gegessen und den Wein geöffnet, den Anna in den Korb für Hamza gelegt hatte. Und irgendwann hatten sie sich schließlich auf das Bett gelegt,
eng aneinander gekuschelt, und waren so vertraut miteinander, als wären sie nie getrennt gewesen. Als es bereits dunkel wurde, hatte Luise aufstehen wollen, doch Hamza hatte sie gebeten, noch zu bleiben. Er hatte ihr anvertraut, wie einsam er sich fühlte, und nur um ihm Trost zu spenden, hatte sie sich zu ihm hinübergebeugt und ihm einen Kuss gegeben. Zärtlich hatte er ihn erwidert und mit seinen Fingern ihre Wange gestreichelt, wie er es früher immer getan hatte, als sie einander noch als Liebende verbunden gewesen waren. Luise hatte es genossen und ihrerseits Hamza zärtlich berührt. Von diesem Moment an spürten beide, dass es kein Zurück mehr gab. Stundenlang hatten sie sich geliebt, und als Luise gegen Mitternacht aufstehen und sich anziehen wollte, hatte Hamza ihre Hand genommen und sie zurück ins Bett geholt. Als sie schließlich wieder erwachte, war es bereits drei Uhr früh.
Luise vermied es, durch den Haupteingang ins Haus zu gehen, musste dann aber feststellen, dass der Schlüssel für den Hintereingang, der sonst immer dort unter dem dritten Blumentopf auf der rechten Seite gelegen hatte, sich nicht mehr an seiner Stelle befand. Luise blickte die Fassade der Villa hinauf. Vor ihrem Zimmerfenster stand noch immer der alte knorrige Baum, der heute noch kräftiger war als früher. Oft war sie daran hinaufgeklettert, wenn sie unbemerkt ins Haus gelangen wollte, weil ihre Mutter nicht sehen sollte, dass sie sich wieder einmal schmutzig gemacht hatte.
Luise tat einen Schritt rückwärts, um zu sehen, ob ihre Zimmerfenster noch geöffnet und mit dem Haken festgemacht waren, so wie sie sie gestern Morgen hinterlassen hatte, und war erleichtert, dass sich offenbar niemand die Mühe gemacht hatte, sie tagsüber zu schließen. Sie blickte an sich herab. Das Kleid, das sie trug, war nicht gerade zum Klettern geeignet. Aber sie hatte nun einmal keine Wahl, irgendwie würde es schon gehen.
Entschlossen setzte sie ihren Fuß auf den untersten Ast, griff nach oben und zog sich zum nächsten hinauf. Tatsächlich ging es erstaunlich gut. Rasch stieg sie weiter hinauf, dann, ganz plötzlich, geriet der Saum ihres Kleides zwischen den Schuh und den Ast, sodass sie abrutschte und schmerzhaft an der Rinde des Baums entlangschrammte. Ihr lag ein Fluch auf der Zunge, den sie unterdrückte, dann kletterte sie weiter, nun sorgsam darauf bedacht, nicht noch einen Fehltritt zu tun.
Luise kletterte weiter hinauf und erreichte schließlich den breiten Ast direkt vor ihrem Fenster. Sie versuchte, sich weiter oben festzuhalten, doch der Abstand war einfach zu groß, um auch nur die Blätter fassen zu können. Kurz zögerte Luise, ob sie es wirklich wagen sollte. Andererseits war die einzige Alternative, das Personal wach zu läuten und ihm in ihrem Zustand, der nun wirklich mehr als eindeutig war, unter die Augen zu treten. Nein, dann würde sie sich eben trauen müssen. Lieber brach sie sich den Hals, als sich dieser Peinlichkeit auszusetzen.
Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen und balancierte immer weiter. Hoffentlich konnte der Ast ihr Gewicht auch tragen. Ganz langsam kam sie voran, ging dann in die Hocke, tastete nach der Fensterhalterung und kroch schließlich auf die äußere Fensterbank. Eilig fasste sie nach, um Halt zu finden. Es schepperte ein wenig, als sie auf dem Fußboden auftraf, und sie erstarrte vor Angst, dass jemand im Haus sie gehört haben könnte. Ihr schlug das Herz bis zum Hals, als sie tatsächlich Schritte auf dem Flur vernahm. So wie sie war, machte sie einen Satz ins Bett und zog die Decke bis zum Kinn hoch. Sie hörte, wie die Tür geöffnet wurde und jemand einen Schritt in ihr Zimmer tat. Dann knarrte der Boden, als entfernte derjenige sich wieder. Vorsichtig öffnete Luise ein Auge und sah gerade noch, wie ihr Vater die Tür wieder schloss. Sie atmete erleichtert auf. Das war gerade noch mal gut gegangen.
Der Tag der Scheidung war gekommen, und damit auch der Tag, an dem Luise das erste Mal seit Monaten auf Hans traf. Von ihrem nächtlichen Ausflug war sie erschöpft, von den Stunden davor jedoch überglücklich. Hamza und sie hatten wieder zueinander gefunden, und egal, was heute geschah, Luise war selig. Und doch wollte sie unbedingt alles tun, um zu retten, was zu retten war.
Bis gestern hatte das Kontor keine Nachricht erhalten, dass Hans an jemanden verkauft hätte. Wenn nun heute die Scheidung ausgesprochen wurde, bevor er genau das tat, würde der Vertrag seine Wirkung entfalten und die Anteile würden auf Robert zurückübertragen. Luise betete, dass dies der Fall sein möge.
Dr. Kramer fuhr um genau fünf Minuten vor halb neun mit seiner Kutsche vor, um seine Mandantin abzuholen. Georg und Robert würden sich direkt ins Kontor begeben, wohin Luise gleich nach dem Termin nachkommen wollte. Dass sie Luise zum Gericht begleiteten, hatte Dr. Kramer für keine gute Idee gehalten und den Hansens dringend davon abgeraten. Robert vermutete, dass der Rechtsanwalt Streitereien fürchtete, was, wenn Hans es allzu sehr auf die Spitze trieb, auch nicht von der Hand zu weisen war. Vor allem aber war diese Scheidung ein ganz persönlicher Termin für Luise, und was auch immer dort besprochen wurde, fanden Georg und Robert, ging sie beide schlicht nichts an.
»Wenn ich Sie bitten darf, Frau Petersen, so sprechen Sie nur dann, wenn Sie gefragt werden, ganz gleich, wozu Ihr Ehemann Sie zu provozieren versucht«, instruierte sie Dr. Kramer.
»Wieso?«, fragte Luise ein wenig beunruhigt. »Was denken Sie denn, was er vorbringen wird?«
»Nun, ich weiß es nicht. Doch meiner Erfahrung nach versuchen die Menschen, ihr Gegenüber oftmals damit aus der Reserve zu locken, dass sie an deren wunden Punkt rühren.«
»Und wo, denken Sie, liegt dieser wunde Punkt bei mir?«
»Ist das nicht offensichtlich?«, fragte er freundlich lächelnd.
Luise sah ihn erwartungsvoll an. Sie wusste wirklich nicht, worauf er hinauswollte.
»Nun, ich kenne Sie nicht besonders gut. Doch naheliegend wäre gewiss Ihre Tochter.«
»Meine Tochter? Wie sollte er versuchen, mich damit aus der Reserve zu locken?«
»Ich kann nur mutmaßen: Beispielsweise, dass bekannt ist, dass Sie zu viel gearbeitet haben, als Ihre Tochter noch ganz klein war. Oder die Frage, weshalb Sie Ihr Kind nicht an der Hand hielten, als die Unruhen vor der Kirche ausbrachen.« Er behielt sein freundliches Lächeln bei. »Eben Dinge, die jeder Grundlage entbehren, dafür aber umso mehr ins Herz treffen.«
Luise schluckte schwer.
»Sehen Sie, was ich meine? Ich habe Sie mit zwei einfachen Beispielen dazu gebracht, blass zu werden. Und ich bin Ihr Anwalt und auf Ihrer Seite.«
Luise atmete tief durch. »Ich verstehe, Dr. Kramer. Danke, dass Sie mich darauf vorbereitet haben.«
»Ich mag solche Termine nicht, wissen Sie? Ich mag nicht, wenn es so endet. Es gab eine klare Absprache und Vereinbarung. Nun so zu agieren, wie Herr Petersen es tut, entspricht nicht meiner Vorstellung von einem ehrbaren Menschen.«
»Ja, meiner auch nicht.«
Die Kutsche hielt, und sie stiegen vor dem Gerichtsgebäude aus. Dr. Kramer sah auf die Uhr. Noch zehn Minuten bis zum Termin. »Gehen wir«, meinte er und reichte ihr den Arm. Luise hakte sich bei ihm unter, und zusammen betraten sie das Gebäude.
Der Rechtsanwalt führte sie durch mehrere völlig gleich aussehende Gänge, bis er vor einer Tür stehen blieb. »Hier ist es. Sind Sie bereit?«
»Ja, Dr. Kramer. Das bin ich.«
»Gut.« Dr. Kramer klopfte, und als er aus dem Innern die Aufforderung zum Eintreten hörte, öffnete er die Tür. Der Raum erinnerte Luise eher an ein großzügiges Büro als an einen Gerichtssaal. Irgendwie hatte sie ihn sich prunkvoller vorgestellt.
»Guten Morgen«, grüßte sie den Mann in der schwarzen Robe, der sich soeben erhoben hatte, auf sie zukam und ihr die Hand entgegenstreckte. »Guten Morgen, Frau Petersen. Ich bin Dr. Constantin Altbach und werde heute als Richter Ihre Sache verhandeln.«
»Sehr angenehm.«
Dr. Kramer und der Richter begrüßten sich, als es schon wieder klopfte und kurz darauf Hans und sein Anwalt eintraten. Luise spürte, dass ihr das Herz bis zum Hals schlug. Wie verhielt man sich in einer solchen Situation? Sie hörte fast die Stimme ihrer Großmutter: Immer die Contenance bewahren, Luise.
Also lächelte sie, trat auf Hans zu und reichte ihm die Hand. »Guten Morgen, Hans.« Dann sah sie seinen Rechtsanwalt an und streckte auch ihm die Hand entgegen. »Luise Petersen.«
»Dr. Alexander Roselius.«
Luise lächelte auch ihn an, wartete dann, bis ihr Rechtsanwalt die Gegenpartei begrüßt hatte, und sah dann erwartungsvoll zum Richter, damit dieser ihr sagte, was zu tun war.
»Bitte, die Herrschaften, nehmen wir doch Platz.« Dr. Altbach deutete nach rechts und links, wo Stühle mit Tischen davorstanden und nun Dr. Kramer und Luise auf der einen und Hans und Dr. Roselius auf der anderen Seite Platz nahmen.
»Es geht um den Antrag auf Ehescheidung, der vorliegt«, erklärte der Richter. »Hier also die Frage, ob die Parteien die Möglichkeit einer Beilegung in Erwägung ziehen würden?«
Sowohl Kramer als auch Roselius beäugten sich.
»Nein, meine Mandantin wünscht die Auflösung der Ehe«, sagte schließlich Dr. Kramer.
»Mein Mandant ebenfalls«, erklärte darauf Dr. Roselius, was Luise kurz überraschte. Sie war von etwas anderem ausgegangen.
»Nun gut. Das ist bedauerlich, aber tatsächlich sind wir ja deshalb hier, nicht wahr?«, merkte der Richter an.
»Wie ich den Unterlagen entnehme, haben beide Parteien eine weitere etwaige Versorgung durch den Ehepartner ausgeschlossen, ist das richtig?«
Beide Rechtsanwälte bejahten.
Luise warf ihrem Rechtsanwalt einen Blick zu. Bedeutete das, dass Hans die Anteile nun doch gar nicht wollte und die ganze Aufregung umsonst gewesen war? Oder was war mit der Versorgung gemeint?
Am liebsten hätte sie nachgehakt, doch dann erinnerte sie sich an die Anweisung ihres Rechtsanwalts, nur dann zu sprechen, wenn sie gefragt wurde. Allein die Tatsache, dass ihr auf diese Weise das Wort verboten wurde, hätte sie im Alltag aus der Haut fahren lassen. Doch nicht hier. Sie nahm nur am Rande wahr, dass der Richter immer wieder Fragen stellte, die von den Anwälten beantwortet wurden. Doch was genau gesagt wurde, zog an ihr vorbei. Sie sollte den Mund halten, also tat sie genau das. Vielleicht konnte sie dann die Angelegenheit rascher hinter sich bringen.
»Dafür, dass Sie geschieden werden möchten, herrscht aber erstaunliche Einigkeit in allen Punkten«, bemerkte Dr. Altbach nun. »Möchten die Parteien noch irgendetwas anmerken?«
Keiner sagte etwas.
»Nun gut. Dann ergeht im Namen des Volkes folgendes Urteil: Die Ehe der Parteien wird geschieden. Die Kosten werden gegeneinander aufgehoben. Beschlossen und verkündet am 31. März 1897 vor dem Amtsgericht Hamburg. Die Sitzung ist hiermit geschlossen.«
Luise sah ihren Rechtsanwalt überrascht an. »Das war’s schon?«, fragte sie.
»Ja, Sie sind jetzt eine geschiedene Frau, Frau Petersen.«
»Ach herrje, das habe ich ja eben völlig zu erwähnen vergessen, ich möchte gern wieder Hansen heißen.«
»Das ist eine standesamtliche Angelegenheit, die nur der Schriftform bedarf«, sagte Dr. Altbach. »Ihr Anwalt wird Sie dahingehend beraten. Der Aufwand ist gering.« Der Richter erhob sich. »Dann noch einen guten Tag, die Herrschaften.«
Luise stand ebenfalls auf und zögerte kurz. Dann ging sie zu Hans und reichte ihm die Hand. »Auf Wiedersehen, Hans. Ich wünsche dir alles Gute.«
Eben hatte er noch freundlich dreingeblickt, doch nun verzog er das Gesicht zu einem hämischen Grinsen. »Du glaubst wirklich, du wärst damit durchgekommen, was?«
»Wie bitte?« Luise sah ihn verwundert an.
»Du hättest genügend Gelegenheiten gehabt, mir eine Nachricht zukommen zu lassen und dich für deine unnachgiebige Art bei mir zu entschuldigen. Doch das hast du ja nicht für nötig gehalten. Tja, Luise Hansen, dieses Mal hast du nicht gewonnen.« Er bleckte die Zähne.
»Würdest du mir bitte erklären, wovon du eigentlich sprichst?«
»Die Anteile. Die schönen, kostbaren Kontoranteile«, sagte er dann, und Luise spürte, wie sich ein Knoten in ihrer Brust immer enger zuzog.
Sie sah ihn nur an, unfähig, etwas zu erwidern.
»Ja, du dachtest wohl, ich warte erst mal ab, wie es heute läuft, nicht wahr? Aber so dumm bin ich nicht, Luise. Natürlich bin ich nicht so schlau wie du, das ist ja niemand.« Seine Worte troffen nur so vor Spott.
»Wann bist du nur so geworden, Hans?« Sie schüttelte den Kopf.
Dr. Altbach war noch stehen geblieben und verfolgte nun die Auseinandersetzung.
»Kommen Sie, Frau Hansen«, sagte Dr. Kramer und betonte den Namen. »Das hier hat doch keinen Sinn.«
»Ja, nehmen Sie sie bloß mit. Sie soll ja nicht zu spät kommen. Heute Mittag um Punkt zwölf Uhr wird der neue Eigentümer von fünfunddreißig Prozent der Anteile am Kontor Hansen bei euch vorstellig werden. Das sollte ich dir noch ausrichten. Besser, du bist zugegen, Luise.«
Sie hätte ihm am liebsten ins Gesicht geschlagen. Doch sie sah nur ihren Rechtsanwalt an, nickte noch einmal dem Richter zu und verließ dann ohne ein weiteres Wort den Raum. Sie wahrte die Fassung, bis sie die Kutsche des Rechtsanwalts erreichten und losfuhren. Dann konnte sie die Tränen nicht länger zurückhalten.
»Also ist alles verloren, wofür ich so hart gearbeitet habe, und wir können nichts dagegen tun.«
Dr. Kramer sagte nichts. Zu sehr plagte ihn das schlechte Gewissen, dass eine Schwachstelle in einem von ihm entworfenen Vertrag das Schicksal des größten Kontors in der Stadt besiegelt hatte. Es war ein reines Elend.
Luise, Robert und Georg standen in Luises Büro und warteten beklommen, wer wohl um zwölf Uhr durch die Tür treten würde. Es war drei Minuten vor zwölf, als es klopfte und Fräulein Schreiber eintrat.
»Dort draußen ist ein Bote, Frau Hansen, der eine Nachricht an Sie zu überbringen hat.«
»Ein Bote?« Luise sah erst ihren Vater und dann ihren Onkel an.
»Da liebt wohl jemand dramatische Auftritte«, stieß Robert angespannt hervor. Sowohl Luise als auch Georg wussten, dass er von niemand anderem als Elisabeth sprach.
»Er soll reinkommen«, forderte Luise Fräulein Schreiber nun auf, die darauf zur Seite trat und einem Burschen Eintritt gewährte, der einen guten Tag wünschte und dann wie angewurzelt stehen blieb. Sein Blick fiel auf die Wanduhr, deren Zeiger sich soeben ein Stück weiterbewegt hatte und nun auf genau einer Minute vor zwölf stand.
»Ich bin Luise Hansen. Du hast eine Nachricht für mich?«, sprach Luise ihn nun an. Er nickte, rührte sich jedoch nicht von der Stelle.
»Und gibst du sie mir auch?«, fragte sie nun.
Wieder nickte er, stand aber wie angewurzelt da und starrte nur weiter auf die Uhr. In diesem Moment sprang der Zeiger um, worauf er hastig zwei Schritte nach vorn machte und Luise einen Briefumschlag übergab. »Genau zwölf Uhr. Einen guten Tag noch.« Damit verschwand er ebenso schnell wieder aus dem Büro, wie er gekommen war.
Luise schüttelte verwundert den Kopf, ging dann zum Schreibtisch, nahm den Brieföffner zur Hand und riss das Kuvert auf. Sie erkannte die Schrift, obwohl es Jahre her war, dass sie sie zuletzt gesehen hatte. Luise ging zur Fensterbank und lehnte sich an.
»Von wem ist der Brief?«, fragte Robert, doch Luise hob nur die Hand und bot sich Ruhe aus, um ihn zu lesen.
Meine liebe Luise!
Da ich den Auftrag erteilt habe, Dir den Brief um Punkt zwölf Uhr zu übergeben, und ich hoffe, dass Du ihn sogleich geöffnet hast, setze ich in diesem Moment, da Du die Zeilen hier liest, den letzten Champagnerkelch meines Lebens an die Lippen und trinke den Inhalt in einem Zug aus. Ich wähle damit einen Weg, wie ihn vor mir schon Königinnen und Kaiserinnen
gewählt haben, wenn sie wussten, dass ihre Zeit gekommen war.
Ich ahne Deinen Gedanken, denn Du bist ein guter Mensch. Der Impuls, etwas zu unternehmen, bahnt sich gerade einen Weg in Dein Bewusstsein. Doch glaube mir bitte, schon jetzt, da Du an dieser Stelle des Briefes angelangt bist, werden mir die Sinne schwinden und nur noch wenige Augenblicke bleiben, dann hört mein Herz für immer auf zu schlagen. Du kannst also bereits gar nichts mehr tun. Und trotzdem erfreue ich mich an dem Gedanken, dass Du versucht hättest, mich zu retten, denn es gibt mir ein Gefühl, nicht in vollkommener Belanglosigkeit diese Welt zu verlassen.
Du wirst Dich fragen, warum ich diesen Weg wähle oder besser gesagt, bereits gewählt habe. Ich möchte Dich darüber nicht im Unklaren lassen. Ich bin krank, Luise, sehr krank sogar. Im Innern meines Körpers wächst etwas sehr schnell heran, das mir schon bald die Möglichkeit nehmen würde, ein Leben zu führen, wie es meinen Ansprüchen genügt. Wir sind uns wohl darüber einig, dass ich nicht zu den Frauen gehöre, die es akzeptieren könnten, blass, ungeschminkt und mit zerzausten, ergrauten Haaren in einem Krankenbett zu liegen und die Körperfunktionen nicht mehr unter Kontrolle zu haben. Oh nein – einen derart jämmerlichen Zustand würde ich mir verbitten.
Aus diesem Grund habe ich mir auch die Zeit genommen, über mein Leben
nachzudenken und darüber, was ich immer gewollt habe und wo ich nun letztendlich stehe. Und so schockierend es für Dich und auch Deinen Vater und Deinen Onkel, denen Du gewiss gleich diesen Brief zeigen wirst oder ihnen gar gerade vorliest, sein mag, so kann ich doch aus tiefster Seele sagen, dass ich genau das Leben führte, was ich immer führen wollte. Einzig die Bewunderung dafür wird mir nicht in dem Maß zuteil, wie ich es für wünschenswert halten würde. Doch es ist mir stets gelungen, dies durch die Ausübung meiner Macht nur allzu leicht zu kompensieren.
Jedoch sah ich in letzter Zeit immer ein Bild vor mir, das mich an frühere Zeiten erinnerte und mich tatsächlich sentimental werden ließ. Es war das Bild Deiner Familie, die damals auch noch die meine war, wenn wir am Sonntagstisch zusammensaßen, festlich gekleidet, das gute Porzellangedeck auf den Tischen und ihr Kinder wohlerzogen und aufrecht da sitzend. Ja, dieses Bild rührte mich. Und da wurde mir klar, dass ich die Perfektion, die ich zeitlebens angestrebt habe, genau damals hatte. Doch musste ich erst weitere Wege gehen, um auch erkennen zu können, dass sie nicht die richtigen waren.
Bevor ich nun beginne, melancholisch zu werden und Dich zu langweilen, möchte ich neben einem letzten Gruß zum Kern dieses Briefes kommen. Wenn Hans sich korrekt ausgedrückt hat, so hat er Dir ausgerichtet, dass um zwölf Uhr heute Mittag der neue Eigentümer
Eurer Kontoranteile in Deinem Büro stehen wird. Und wenn er es Dir nicht so gesagt haben sollte, so sei doch versichert, dass ich es ihm so und nicht anders aufgetragen habe. Denn es stimmt, dass der Eigentümer dort steht – da Du es bist, Luise, der die Anteile gehören. Nenn es die sentimentalen letzten Momente einer Mutter, die mich dazu bewogen haben, Dir das zurückzugeben, was Dir rechtmäßig gehört. Oder nimm als Motiv die Arroganz einer Frau, die nicht akzeptieren kann, dass Frauen wie wir, mit Ehrgeiz und Mut ausgestattet, dafür bestraft werden, nicht in einem männlichen Körper geboren zu sein. Glaube mir, wenn ich Dir sage, es ist ein bisschen von beidem. Denn ob Du es nun hören willst oder auch nicht: Du bist mir in deinem Wesen sehr viel ähnlicher, als Du es wahrhaben willst, denn der Ehrgeiz, der uns antreibt, ist ungebrochen. Und ich verwehre mich dagegen, zuzulassen, dass Dir von einem verweichlichten Kerl genommen wird, was Du Dir erkämpft hast, weil unsere Gesellschaft noch nicht so weit ist, wie sie sein sollte.
Dir werden bereits morgen die hinterlegten und notariell beglaubigten Unterlagen zugestellt werden, die Dich als die rechtmäßige Eigentümerin der Kontoranteile ausweisen. Des Weiteren wird in Kürze mein Testament verlesen werden, in dem ich Dich und Martha zu gleichen Teilen mit einem beträchtlichen Barvermögen bedenke. Wenn Du das Geld nicht willst, dann verschenke es oder verstreue es in der Elbe. Ganz wie es Dir beliebt.
Ich habe auch Richard und Frederike bedacht, ebenfalls zu gleichen, wenn auch weit geringeren Teilen als Dich und Deine Schwester. Doch die Beträge werden ausreichen, damit Richard sich etwas Eigenes aufbauen kann, jedoch nicht opulent genug sein, um sich darauf auszuruhen. Was Frederike damit macht, steht ihr vollkommen frei.
Die Firma Frederiksen ist bereits im Verkauf befindlich. Das Vermögen, das hieraus erzielt wird, wird später nochmals zu den vorgenannten Anteilen an Euch Kinder ausgegeben werden.
Nun schließe ich, denn es ist alles gesagt. Alles, bis auf eines, was Du von mir wahrscheinlich immer hast hören wollen, was ich jedoch nie über die Lippen bekam:
Luise Hansen, Du bist mein ganzer Stolz. Du hast es allen gezeigt, Männern wie Frauen, Gönnern wie Neidern, Freunden wie Feinden. Du wolltest es gar nicht, doch Du hast sie alle Bewunderung und Furcht gelehrt, und darauf erhebe ich mein Champagnerglas und lasse Dich hochleben. Und – ich liebe Dich!
Deine Mutter
Elisabeth
Luise ließ den Brief sinken, atmete stockend und schluchzte auf. Sie taumelte und drohte den Halt zu verlieren. Robert stürzte zu ihr und fing sie auf. Sie sah ihn aus tränennassen Augen an.
»Mein Gott, Luise! Was ist denn nur?«
Sie gab ihrem Vater den Brief und schleppte sich dann zur Couch, auf die sie sich fallen ließ.
Georg ging zu seinem Bruder, und dann lasen sie gemeinsam die Zeilen, die Luise so sehr aus der Fassung gebracht hatten. Ihre Mutter war tot, und sie hatten kein einziges Mal mehr miteinander gesprochen. Sie war tot, und sie hatte Luise mit ihren letzten Gedanken so berührt wie nie zuvor in ihrem ganzen Leben. Elisabeth hatte sie geliebt, doch gezeigt hatte sie es ihr nie. Bis zuletzt.