Alida Gersonde
–
Zerfall
Als ihn der Wecker unsanft aus dem Schlaf reißt, macht sich sofort wieder dieser leichte Kopfschmerz bemerkbar. Tom reibt mit den Fingern an seinen Schläfen und knurrt mürrisch.
Ich muss unbedingt mehr schlafen. Und vielleicht den Billigfusel weglassen.
»Wie spät ist es?«, murmelt eine Frauenstimme verschlafen.
»Es ist 6:30 Uhr. Bleib ruhig noch ein bisschen liegen. Ich gehe duschen und mache mich dann auf den Weg zur Arbeit, ja? Wir sehen uns heute Abend, ich liebe dich.« Tom beugt sich hinüber und küsst die Frau auf die Stirn. Ihre Augen sind noch immer geschlossen und sie grummelt leise: »Ich dich auch.«
Er sieht sie eine Weile an, ist versucht, ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht zu streichen, aber zieht die Hand wieder zurück. Dann steht er auf und geht ins Bad.
Miriam öffnet die Augen und sieht ihm hinterher. Seit einigen Wochen überkommt sie jeden Tag das Gefühl, als würde ihr Herz in einem Schraubstock immer weiter und weiter zusammengepresst werden. Tränen steigen auf, aber sie unterdrückt sie. Stattdessen greift sie nach seinem Kopfkissen und vergräbt ihr Gesicht darin.
Am Abend zuvor war es wieder später geworden als üblich, obwohl er versprochen hatte, pünktlich zum Essen nach Hause zu kommen. Erneut hatte sie ihm sein Lieblingsessen gekocht, sich etwas Hübsches angezogen und war voller Hoffnung gewesen, endlich wieder mehr Zeit mit ihm verbringen zu können. Er kam zwei Stunden zu spät, entschuldigte sich mit einem inzwischen routiniert wirkenden Kuss auf die Wange und mit Blumen.
Was für ein Klischee
, dachte sie und kniff ihre Lippen fest zusammen.
»Es tut mir so leid, aber ich hatte Probleme mit dem Auto und kam nicht sofort weg. Sei nicht böse, ja? Gut siehst du aus. Ist noch etwas vom Essen da?« Dann schob er sie zur Seite, nahm sich einen Teller und wärmte sein Abendessen auf. Später öffnete er eine Flasche des billigen Whiskeys, schenkte sich ein halbes Glas ein und stürzte den Inhalt mit einem großen Schluck hinunter.
Als sie versuchte, ein Gespräch anzufangen, wimmelte er sie mit der Begründung ab, er hätte einen langen Tag hinter sich, wolle einfach nur noch essen, in Ruhe ein Gläschen trinken und dabei zum Abschalten ein wenig fernsehen. Aber sie könne ruhig schon ins Bett gehen.
Also räumte Miriam schweigend den Tisch ab, spülte ihr Geschirr und nahm sich wie jeden Abend eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank.
»Wir sehen uns dann gleich, ja?«, fragte sie leise und wollte ihm einen Kuss geben.
»Ja, natürlich! Nun lass mich aber essen, bitte.«
Tom wich ihr aus, und sie schlich leise die Treppe hinauf ins Schlafzimmer, um sich dort wieder einmal alleine ins Bett zu legen und zu warten. Es sollte Stunden dauern, bis er kam und sich sofort wortlos zum Schlafen auf seine Seite legte. Kurz danach hörte sie sein Schnarchen, drehte sich um, packte ihr Kissen und schrie lautlos und verzweifelt hinein. Dann nahm sie sein Bild von ihrem Nachttisch und presste es an ihre Brust. Und weinte. Still und heimlich, bis sie irgendwann einschlief.
Tom bemerkt nichts, als er nach der Dusche das Bad verlässt und sich anzieht. Miriam sitzt auf der Bettkante und kämmt ihre Haare.
»Also dann, ich bin weg. Bis später, Miri.«
Sie zwingt sich zu einem Lächeln. »Vergiss bitte nicht, das Rezept für die Tabletten abzuholen«, sagt sie, und Tom nickt.
Er geht die Treppen hinunter in die Küche und holt sich einen Smoothie aus dem Kühlschrank. Greift im Flur nach seiner Jacke und dem Schlüssel und verlässt das Haus. Beim Auto angekommen, dauert es einen kleinen Moment, bis er mit dem Schlüssel das Schloss gefunden und die Tür geöffnet hat. »Verdammter Kater, ich muss wirklich damit aufhören«, brummt er genervt.
Die Schmerzen in seinem Kopf werden stärker. Tom setzt sich ins Auto, knallt die Tür ein wenig zu energisch zu und steckt den Schlüssel ins Zündschloss. Er dreht das Radio auf und kramt im Handschuhfach nach seinen Schmerztabletten. Irgendwo mussten die Scheißdinger doch sein. Dabei fallen einige Sachen aus dem Fach. Fluchend beugt er sich vor, um sie aufzuheben. Ein paar Quittungen, Einkaufszettel und … ein Bild. Miriam und er am Tag ihrer Hochzeit.
Wie glücklich wir aussehen! Wie unglaublich hübsch sie ist!
Er lehnt sich zurück und starrt auf das Bild.
Bis dass der Tod euch scheidet.
Erinnerungen zucken durch seinen Kopf. Vorsichtig streicht er mit der Fingerkuppe über Miriams Gesicht. Dann holt er tief Luft, legt das Bild zurück und schließt die Klappe mit einem kräftigen Ruck. Er greift zum Handy und tippt eine
WhatsApp
-Nachricht:
Wir sehen uns um 15 Uhr bei der Eiche. Bis dann.
Er legt die Hände auf das Lenkrad, umklammert es fest und starrt vor sich auf die Straße. Einen Moment lang schließt er die Augen, seufzt schwer und atmet noch ein paar Mal ein und aus. Dann startet er den Wagen und fährt los.
Carolins Lippen umspielt ein Lächeln, als ihr Handy vibriert und ihr eine Nachricht anzeigt. Sie blickt in den Spiegel und nickt zufrieden. Das würde heute wieder ein besonders schöner Tag werden. Hoffentlich vergeht die Zeit schnell bis zum Nachmittag. Sie rubbelt ihre frisch gewaschenen Haare trocken und schiebt sich die Zahnbürste in den Mund, während sie zu ihrem Kleiderschrank geht.
Vor etwa sechs Monaten lernte sie Tom in der Tankstelle, an der sie regelmäßig aushalf, kennen. Säule fünf, eine Schachtel Luckys und zwei Red Bull. Carolin erinnerte sich deswegen so genau, weil er in Eile war. Er machte einen gestressten Eindruck und fluchte leise, als ein Energy-Drink herunterfiel und unter das Regal mit den Chips rollte. Sie kicherte, eilte hinter dem Tresen hervor und schob das Gestell zur Seite. Tom lächelte verlegen, während er sich nach unten beugte und nach der Dose griff. »Danke! Und sorry, ich wollte Sie nicht aufhalten!«, sagte er leise mit einem Blick auf die kleine Schlange, die sich an der Kasse gebildet hatte.
Carolin winkte ab. »Kein Ding. Ich helfe, wo ich kann.«
Sie zwinkerte ihm neckisch zu, strich sich durch die langen blonden Haare und ging dann wieder zurück an ihren Platz an der Kasse.
Tom sah ihr nach. Ein paar Sekunden zu lang klebten seine Blicke auf ihrem Hintern, der sich klein und fest in der eigentlich viel zu engen Jeans abzeichnete. Ein schmaler Streifen gebräunter Haut lugte zwischen dem weißen Polohemd und dem Bund der Hose hervor. Als er bezahlte, schielte er verstohlen auf das Namensschild an ihrem Shirt: Carolin. Er überlegte kurz, bedankte sich nochmals, und beim Herausgehen rief er: »Übrigens, ich bin Tom. Der ungeschickte Tom!« Er bemerkte ihr amüsiertes Grinsen und ging lächelnd zu seinem Wagen.
Das war ihre erste Begegnung gewesen. Carolin schmunzelt immer noch, wenn sie daran denkt. Anscheinend hatte er vom ersten Moment an einen Narren an ihr gefressen, denn er ließ sich nun immer öfter blicken. Aus anfangs netten, kurzen Gesprächen wurden vorsichtige Flirts und eines Tages fragte sie ihn einfach, ob er nicht Lust hätte, nach ihrer Schicht einen Kaffee trinken zu gehen. Zwar hatte sie kurz das Gefühl, als würde er zögern, aber dann lächelte er sie an und nickte: »Sehr gerne! Aber ich glaube, ich habe eine bessere Idee. Magst du Picknick? Ich kenne da einen wirklich tollen und ruhigen Platz. Weit weg von all dem Straßenlärm. Interesse?«
»Natürlich! Das ist eine tolle Idee! Aber du musst dich doch wohl nicht vor deiner Frau oder Freundin verstecken und entführst mich deswegen dorthin?« Einen Ring hatte sie an seiner Hand nicht entdecken können.
Sie lachte und boxte ihn leicht in die Seite.
»Natürlich nicht«, antwortete Tom leise. Er sah sie nicht direkt an und wirkte verlegen.
Wenn sie doch nur gewusst hätte, wie recht sie damit hatte. Und so kam es, dass Tom und Carolin anfingen, sich regelmäßig zu treffen. Sie genoss diese Tage, seine Aufmerksamkeit und die Nähe, die er ihr schenkte. Sie verliebte sich in die Neckereien, die kuscheligen und auch vor Lust prickelnden Stunden, die sie gemeinsam verbrachten. Natürlich war es seltsam und manchmal nervig, dass er nie wirklich viel Zeit hatte und immer ein bisschen nervös wirkte, aber Carolin schob das einfach auf seine Art – schließlich hatte sie ihn ja genau so kennengelernt. Dass er nicht jeden Tag Zeit hatte, um sich mit ihr zu treffen, kam ihr nur am Anfang eigenartig vor. Er erklärte das mit seiner Arbeit und vielen Überstunden, er bräuchte dann einfach auch mal Zeit für sich. Klang einleuchtend. Sie akzeptierte das und freute sich umso mehr auf die gemeinsamen Stunden.
An diesem Tag, nachdem Tom das Haus verlassen hat, sitzt Miriam in der Küche, rührt abwesend in ihrem Kaffee und versucht das Chaos in ihrem Verstand zu sortieren. Sie sieht sich um, und immer neue Gedanken schießen durch ihren Kopf. Dann steht sie auf und macht einen Rundgang durch das Haus. Eigentlich haben sie doch alles. So viel Arbeit, so viel Geld und auch Liebe steckt in ihrem Eigenheim. Jedes Zimmer ist genau nach ihren Wünschen eingerichtet, jede Fläche zeugt von ihrer Einigkeit. Ihr Lieblingsraum ist das liebevoll – halb modern, halb vintage – eingerichtete Wohnzimmer. Sie streicht über die Regale und das riesige Sofa. Ihre Blicke tasten all die Bilder an der Wand ab. Dann öffnet sie die Hausbar und lässt ihren Blick über den Inhalt schweifen, überlegt kurz und greift blind zu.
Tom und sein Faible für hochprozentige Sachen,
denkt sie und mustert die Flasche in ihrer Hand. Miriams Weg führt sie weiter ins Bad. Sie kramt in einem weißen Rattan-Körbchen herum, findet, was sie sucht und steckt es in die Tasche ihrer Strickjacke. Sie stützt sich am Waschbecken ab und starrt in ihr Spiegelbild. In den vergangenen Monaten scheint sie um Jahre gealtert zu sein. Kleine, aber tiefe Falten prägen ihre Augen- und Mundwinkel. Trotzdem ist sie noch immer attraktiv, zumindest behaupten das Tom und ihre besten Freunde. Aber was sollen sie auch anderes sagen?
Als sie ins Obergeschoss geht, werden ihre Schritte langsamer und schleppender, bis sie schließlich vor einer Zimmertür stehen bleibt. Miriam merkt, wie sich Tränen in ihren Augen sammeln und ihre Sicht verschwimmen lassen. Ihr Hals fühlt sich an, als würde etwas darin feststecken und ihr die Luft zum Atmen nehmen. Leise fängt sie an zu schluchzen und blinzelt durch den Tränenschleier auf das kleine, pinke Tonschildchen an der Tür.
Prinzessin Laura
steht in verschnörkelten Lettern darauf.
Etwa zur gleichen Zeit beeilt sich Tom, seine Arbeit für den heutigen Tag fertig zu bekommen, denn er will sich auf keinen Fall verspäten. Immer wieder sieht er auf die Uhr und wird von Minute zu Minute unruhiger. Aber er hatte sich entschieden … es musste endgültig erledigt werden. Noch knapp vierzig Minuten, dann wird es soweit sein, und er fährt mit seinem Auto Richtung Treffpunkt. Er seufzt und seine Miene verfinstert sich.
Carolin entscheidet sich für ihre Lieblingsjeans und ein enganliegendes Oberteil, welches ihre festen Brüste mehr als nur betont. Zufrieden dreht sie sich vor dem Spiegel um die eigene Achse und legt ihre Hand auf den flachen Bauch. Sie lächelt und spürt, wie es wieder einmal in ihr zu kribbeln beginnt, weil sie Tom wiedersieht. Noch eine halbe Stunde, bis sie losfährt. Also schnell noch ein wenig aufhübschen, den Lippenstift, den er so an ihr mag, auflegen und das teure Parfum auftragen, welches Tom ihr zum Geburtstag geschenkt hat. Noch einmal überprüft sie ihre Frisur, schnappt sich die Flasche seines Lieblingsbieres, die sie extra besorgt hat und steckt sie zusammen mit dem frisch gebackenen Brot, dem Orangensaft, den Trauben, dem Schinken und dem Käse in den Picknickkorb. Besteck und Geschirr hat sie bereits vorher verstaut. Dann greift sie nach ihrem Autoschlüssel und ihrer Handtasche, deren Inhalt sie kurz checkt, um sich endlich auf den Weg zu machen.
Miriam spürt, wie ihre Beine nachzugeben drohen. Sie hält sich am Türrahmen fest und versucht ruhiger zu atmen. Ihr Herz scheint aus ihrer Brust springen zu wollen. Sie hat dieses Zimmer nicht mehr betreten, seit … seit diesem schrecklichen Unfall. Der Tag, an dem ihr das Schicksal das Liebste auf der Welt genommen hat. Ein sonniger, bunter Herbsttag vor Halloween, der so schön angefangen und so schrecklich geendet hat. Noch immer – und jeden Tag aufs Neue – hört sie Lauras Stimme, das vergnügte Lachen aus dem Garten. Lächelt beim Gedanken an dieses kleine, gerade fünf Jahre alte Mädchen, das auf dem Rasen mit ihrem Lieblingsball spielt und dabei Kinderlieder singt, während Miriam und Tom die morgige Party vorbereiten. Sie kümmert sich um das Essen, und er besorgt unterdessen die Getränke. Erneut und voller Schmerz erinnert sie sich an das laute Hupen, die quietschenden Reifen und das Schreien der Nachbarn. Erinnert sich an den Blick aus dem Küchenfenster in den mit Maschendraht umzäunten Garten mit der offenstehenden Tür. Sieht Lauras Ball von der blutverschmierten Fahrbahn langsam zum Seitenstreifen rollen …
»Da bist du ja!« Freudestrahlend stürmt Carolin auf Tom zu und schließt ihn in die Arme, um ihn leidenschaftlich zu küssen.
Er erwidert den Kuss, wirkt aber sehr nervös und lächelt sie auch nicht wie sonst an.
Sie denkt sich nichts dabei, nimmt ihn bei der Hand und führt ihn zu der karierten Decke, auf der die Leckereien liegen, die sie besorgt hat. Sie greift nach einem Käsewürfel und schiebt ihn Tom in den Mund.
»Caro, bitte, können wir miteinander reden? Ich muss dir was sagen. Es ist wirklich wichtig, und ich kann nicht mehr damit warten!«
Carolin sieht ihn erschrocken an, diesen Tonfall ist sie von ihm nicht gewohnt. Sie lässt sich auf die Decke fallen und klopft mit der Hand neben sich. »Setz dich, was ist denn los? Ist etwas passiert? So kenne ich dich gar nicht.«
Sie sieht ihn an und spürt, dass dieses Gespräch kein schönes werden würde.
Miriam schließt die Augen, zählt innerlich bis zehn und öffnet langsam die Tür. Sofort weht ihr Lauras Geruch, der Duft ihrer kleinen Prinzessin, entgegen. Sie spürt, wie ihre Augen sich erneut mit Tränen füllen und setzt dann, wie in Zeitlupe, einen Schritt vor den anderen in das einst so belebte, von Freude erfüllte Zimmer. Zwingt sich, ihre Augen zu öffnen und lässt sie suchend und verzweifelt in jeden Winkel des Raumes wandern. Sie geht auf das Bett zu, welches mit einer in verschiedenen Pinktönen gemusterten Tagesdecke überzogen ist. Greift nach dem Plüschhasen, mit dem Laura jeden Abend eingeschlafen ist und den sie fast immer überall mit hingeschleppt hat. »Er ist mein Schutzengel«, hat sie immer gesagt und dabei über das ganze Gesicht gestrahlt. Miriam mustert den Hasen, streicht ihm kurz über das flauschige Fell und wirft ihn dann gegen die Wand. Wieso hat Laura ihn ausgerechnet an diesem Tag nicht dabeigehabt, ihren Schutzengel?
Sie setzt sich auf das Bett und greift nach einem Bild, welches auf Lauras Nachttisch steht. Und wieder laufen Tränen ihr Gesicht herunter, als sie Laura, Tom und sich selbst im Meer tobend sieht. Sie drückt es einen Moment an sich und stellt es dann zurück. Sie drückt auf die Play-Taste des CD-Spielers und es erklingen jene Lieder, die Laura immer so gerne gesungen hat. Miriam summt sie mit und öffnet die Flasche Whiskey, die sie aus der Bar genommen hat. Nach einem kurzen Würgereiz schluckt sie tapfer und spürt, wie sich die Wärme erst in ihrem Hals und dann ihrem Bauch ausbreitet. Sie dreht den Ton lauter und nimmt einen weiteren Schluck. Dabei kramt sie in ihrer Jackentasche und holt das kleine Mitbringsel aus dem Badezimmer hervor.
»Hör zu, ich wollte es dir schon die ganze Zeit sagen, aber ich konnte nicht, denn ich wusste nicht wie … Hör mir einfach zu, ja? Es ist nämlich so: Ich bin verheiratet. Und das schon seit einer ganzen Weile, und meine Frau weiß nichts von dem hier. Ich konnte es ihr und kann es ihr einfach nicht sagen. Es würde sie umbringen!« Tom sieht vor sich auf den Boden und meidet den Blickkontakt mit Carolin.
Kurze Stille.
Dann springt sie auf und sagt erst ruhig, aber mit schließlich immer lauter werdender Stimme: »Ist das dein Ernst? Tom … ist das dein verdammter Scheißernst? Hör auf damit! Du verarschst mich doch, das kann nicht stimmen! Sieh mich gefälligst an, wenn ich mit dir rede!«
Sie reißt und zerrt an seiner Jacke, zieht ihn auf die Füße, bis er vor ihr steht, Trommelt mit ihren Fäusten auf seine Brust ein und kreischt vor Wut.
Tom versucht sie zu beruhigen, aber er weiß nicht wie. Der Kloß in seinem Hals wird immer größer, nimmt ihm fast die Luft, als er sieht wie Carolin in Tränen ausbricht und sich auf ihre Knie fallen lässt, die Hände vors Gesicht geschlagen.
»Du musst mir glauben, ich wollte es dir sagen, schon so oft, aber ich konnte nicht. Du warst so glücklich und ich ja auch … und ich dachte, ich bekomme das irgendwie hin. Aber ich schaffe es nicht, ich kann einfach nicht mehr. Das alles, es muss aufhören. Es geht einfach nicht, bitte versteh mich, Caro. Ich kann meine Frau nicht verlassen, sie würde es nicht überleben, sicher nicht! Nicht nach all dem …«
Carolin sieht ihn an, der Kajal und die Wimperntusche sind verschmiert, zeichnen dunkle Bahnen ihre Wangen entlang. Ihre Mundwinkel zucken noch immer vom Weinkrampf. Ihr Blick spricht Bände, ihre Augen funkeln zornig und verletzt. Sie beginnt, die Sachen in den Korb zu packen und sagt dann mit leiser und brüchiger Stimme: »Hau ab! Verschwinde aus meinem Leben, und lass dich nie mehr blicken, hörst du? Ich will dich niemals wiedersehen. Du weißt nicht, was du mir damit gerade angetan hast.«
Tom ringt nach Worten, aber findet nicht die richtigen. Er sieht sie nur traurig an, und seine Schultern hängen erschöpft herunter. Egal, was er jetzt sagen würde, es würde alles nur noch schlimmer machen.
»Caro, bitte … zu einem anderen Zeitpunkt, da wäre es … « Tom zögert kurz, dann legt er eine Hand auf ihre Schulter.
Carolin versteift sich unter der Berührung, die ihr jetzt im höchsten Maße zuwider ist und einen Schalter in ihr umlegt. Unbändige Wut und Enttäuschung kriechen in ihr hoch, berauben sie ihres Verstandes. Sie greift mit zitternder Hand nach dem Brotmesser, mit dem sie kurz vorher noch das Brot in Scheiben geschnitten hatte. Sie umklammert fest den Griff und dreht sich um.
»Halt deine verdammte Scheißschnauze! Es wird keinen verdammten Scheißzeitpunkt mehr geben! Ich bin schwanger!« Angetrieben von übermächtigem Zorn rammt sie Tom das Messer in den Bauch. Immer wieder stößt sie es in sein Fleisch, als könne sie den Traum von einem gemeinsamen Leben so zerfetzen und aus ihrem Bewusstsein löschen. Warmes Blut durchtränkt seine Kleidung, läuft über Carolins Hand und das Messer, färbt den Boden rot.
Er verkrampft und versucht es ihr zu entreißen, aber sie scheint mit jedem Stoß mehr Kraft zu entwickeln. Tom ächzt und schreit vor Schmerzen, presst seine Hände auf die Wunden und sackt mit schreckgeweiteten Augen auf die Knie.
Carolin beugt sich hinunter und sticht weiter zu.
Er starrt sie ungläubig an, seine Lippen formen flehende Worte, aber er bringt sie nicht hervor.
Als Carolin das blutverschmierte Messer aus seinem Bauch zieht und einen Schritt zurücktritt, fällt er vornüber und bleibt reglos am Boden liegen.
Tom schlägt auf dem Boden auf und er weiß, dass es gleich vorbei sein wird. Seine letzten Gedanken gehören seiner Familie. Er denkt an ihre kleine Prinzessin. Er hat sie so sehr geliebt. Ihr Tod brach ihm und Miri das Herz, und er weiß, dass seine Frau denkt, er würde nicht um seine Tochter trauern. Natürlich tut er das! Es zerreißt jeden Tag seine Seele, wenn er an ihre wundervolle Tochter denkt.
Aber tief in seinem Herzen trauert er um seine beiden Mädchen. Miriam hat sich nach dem Tod sehr verändert, und er hat die Kraft nicht aufbringen können, den Verlust gemeinsam mit ihr zu ertragen. Er fühlt sich an dem Tod seiner Tochter mitschuldig und auch daran, dass er seiner Frau keinen Trost spenden kann. Er ist schwach und findet aufgrund seiner eigenen Verzweiflung den Weg zu ihrem Herzen nicht.
Stattdessen flüchtet er sich in den Alkohol und ein Abenteuer … ein Abenteuer, welches er jetzt mit seinem Leben bezahlt.
Während seiner letzten Atemzüge denkt er daran, dass er vielleicht mit Laura wieder im Garten spielen wird. Und … vielleicht ist Miriam ohne ihn besser dran.
Ich liebe euch beide
, denkt er und die Welt verschwindet.
Miriam lächelt und singt. Sie stellt sich vor, wie sie Laura fest im Arm hält und sie zusammen all diese eigentlich albernen Lieder singen. Sie kann noch immer das Haar ihrer Prinzessin riechen. Noch immer sieht sie diese großen blauen, stets vergnügten Augen vor sich. In ihren Gedanken beantwortet sie immer wieder die niemals enden wollenden, aus kindlicher Neugier entstandenen Fragen ihrer kleinen Laura.
Ich vermisse dich so sehr, mein Engel. Ich vermisse dich so schrecklich!
Ein erneuter, tiefer Schluck aus der Flasche. Miriam spürt, wie der Alkohol langsam beginnt, ihre Sinne zu benebeln. Sie lacht, dreht den Ton noch lauter und öffnet dann die Verpackung mit den Benzodiazepinen, die ihr der Arzt zur Unterstützung und Hilfe bei der Trauerverarbeitung verschrieben hat.
Diazepam
steht auf dem Etikett. Eine Tablette nach der anderen drückt sie aus dem Blister in ihre Handfläche und lächelt.
Laura, mein Stern, ich habe dir gesagt, dass ich dich niemals alleine lasse, weißt du noch? Mama lässt dich nicht alleine, bald sind wir wieder zusammen. Meine Prinzessin. Ich bin bald bei dir!
Dann schließt sie die Augen, schiebt sich in kurzen Abständen die Tabletten in den Mund und spült sie jeweils mit einem weiteren Schluck des ihr so verhassten Billigwhiskeys runter, den Tom in letzter Zeit immer abends trinkt.
»Ihm ist doch sowieso alles egal. Er hat nie wirklich um dich getrauert, hat sich immer mehr in seine verfluchte Arbeit verkrochen und war immer seltener zuhause. Er hat dich nicht so geliebt, wie ich es tat und immer noch tue … «, murmelt sie.
Miriams Geist wird benommener, der Alkohol lässt ihre Stimme undeutlich werden. Sie versucht weiterhin, die Kinderlieder mitzusingen, aber verliert mehr und mehr den Takt und die Worte. Wankend steht sie auf und geht ein paar Schritte, um den Plüschhasen aufzuheben, den sie vorher so wütend weggeworfen hat. Sie streichelt ihn, als sie zurück zum Bett geht und sich darauf ausstreckt. Ganz fest drückt sie ihn an sich und schließt ihre Augen.
»Es ist nicht deine Schuld, ich hätte besser aufpassen sollen. Du kannst nichts dafür, ich wollte nur jemandem die Schuld geben, es tut mir so leid, Tom. Komm mit mir, ich nehme dich mit. Lass uns zu Laura gehen, ja? Sie wartet schon auf uns. Schau, kannst du sie auch sehen? Da hinten … schau … ich … «
Minuten vergehen, in denen Miriam bereits nach ihrer kleinen Tochter sucht, gedanklich nach ihr tastet. Im Hintergrund erklingt die immer mehr leiernde Musik, welche inzwischen so weit weg zu sein scheint.
Der anfänglich schnelle Schlag ihres Herzens wird langsamer. Immer ruhiger senkt und hebt sich ihre Brust. Schließlich gleitet ihr der Hase aus den Händen.
Ich komme, Laura.
Dann hört sie auf zu atmen.