Manuel Schulte
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Futterleid
oder eine Geschichte voller Gewalt, für Menschen die keine Gewalt mögen
Das Aufhebeln der Terrassentür war leise genug, so dass Haralds Puls nicht das normale Maß an Aufregung überstieg. Nach einer kurzen Verschnaufpause und dem Sicherstellen, dass niemand auf ihn aufmerksam wurde, machte er sich auf, um das Haus zu erkunden. Tief in seinem Inneren wusste er, dass es nicht in Ordnung war, dass er damit die Privatsphäre anderer verletzte. Aber seine Neugierde war stärker. War es dieses Mal ein normaler Trieb oder nur wieder einer seiner psychotischen Ticks? Es war für ihn nicht einfach, sein Handeln einzuschätzen.
Er streifte durch das Haus, öffnete Kleiderschränke, wischte mit seiner Hand über die Tischplatte und inspizierte das Bücherregal. Es war alles so schön normal. Genau so, wie er sich sein eigenes Leben gewünscht hatte. Aufgeräumt, sauber und mit beiden Füßen im Leben stehend. All diese Ziele hatte Harald verfehlt und mit einer gewissen Traurigkeit wurde ihm bewusst, wie wenig er in diese Welt passte.
Er, ein übergewichtiger, arbeitsloser Koch, gestraft mit Haarausfall und einer offiziell bestätigten Psychose. Diese bestürzende Erkenntnis zwang ihn, an den fremden Kühlschrank zu gehen und sich den darin befindlichen französischen Weichkäse mit zwei Bissen einzuverleiben.
Essen, das war seine Droge. Jedes Mal, wenn ihm etwas Angst machte, flüchtete er sich in seine Fresssucht. Es beruhigte ihn nicht nur, sondern ließ ihn auch die Welt um sich herum vergessen. Dieser Käsekloß war in diesem Moment Valium für seine Seele. Nun konnte er wieder klare Gedanken fassen und sein Projekt zum Abschluss bringen. Er hatte schon genug Zeit verschwendet.
So entleerte er seinen löchrigen Rucksack und drapierte dessen Inhalt fein säuberlich auf dem Wohnzimmertisch. Es waren alle Werkzeuge und sonstige Gerätschaften, die er in seiner Kellerwerkstatt finden konnte. Er dachte, das würde am meisten Eindruck schinden. Vorsichtig legte er Malerfolie aus, auf die er einen massiven Holzstuhl aus dem Esszimmer stellte. Bevor er auf diesem Platz nahm, legte er einen kleinen silbernen Schlüssel auf den Tisch. Die kalten Handschellen waren nun der letzte Punkt auf seiner imaginären Checkliste. Rechtes Handgelenk:
Klick!
Linkes Handgelenk:
Klick!
Nun hoffte er, nichts vergessen zu haben, denn jetzt war er an diesen Stuhl gefesselt, und das Einzige, was er noch machen konnte, war warten.
Es vergingen einige Stunden. Die Sonne versank allmählich am Horizont, und draußen machte sich eine allgemeine Unruhe breit. Die Ursache dafür waren all die hart arbeitenden Reihenhausbesitzer, die nun zu Hause ankamen. Lechzend nach einem deftigen Abendessen und der rituellen Tagesschau. Dies wird Harald den Schneiders verwehren, wenn sie daheim ankommen. Er wird ihnen etwas Essentielleres bieten: Vergeltung.
Das Türschloss knackte. Es war so weit, und Haralds Herz sprang immer höher. So sehr, dass er das pumpende Ding schon in seinem Hals spürte. Die Tür öffnete sich, und er nahm ihre gemächlichen Schritte im Hausflur wahr. Und auf einmal war es so weit.
Das Ehepaar Schneider entdeckte ihn. Diesen schwitzenden, kahlköpfigen, blassen Sack, gefesselt an ihren Esszimmerstuhl. Für ein paar Sekunden herrschte Stille. Stille, die das Paar nutzte, um ein wenig über das sich ihnen bietende Bild nachzudenken. An ihren angestrengten Gesichtern konnte Harald erkennen, wie sie versuchten sich einen Reim daraus zu machen. Vergeblich. Harald musste anfangen sich zu erklären, um die ohnehin unheimliche Situation nicht noch zu verschlimmern.
»Oh Gott … Ich weiß nicht was ich … wie ich es Ihnen erklären soll«, stammelte Harald weinerlich.
Er, Herr Schneider, gekleidet in einen dunklen Anzug, sein Aktenkoffer noch in der Hand, verzog keine Miene. Sie, Frau Schneider, Hosenanzug, das Haar perfekt frisiert, blickte ungläubig auf Harald. Und nichts passierte. Und so war, so schwer es ihm auch fiel, Harald an der Reihe, die Ereignisse voran zu treiben.
»Ich habe mich entschieden, mich Ihnen anzubieten … damit ich Ihnen Ruhe bringen kann.«
Er hatte seinen Text extra auswendig gelernt, aber durch seine Aufregung kamen nur noch zusammenhanglose Satzfetzen aus ihm heraus. Selbst er bemerkte welchen sinnlosen Nonsens er von sich gab und versuchte nun zu improvisieren.
»Okay, noch mal von vorne.« Harald atmete kurz laut durch, um Zeit zu schinden. Zeit die er benötigte, um einen sinnvollen Satz in seinem Kopf zusammenzustückeln. »Ich weiß von ihrem Schicksalsschlag, den schweren Zeiten, die sie durchmachen mussten. Entschuldigen Sie bitte: immer noch durchmachen. Ich glaube, wenn man eine Tochter verliert … so etwas vergisst man nie.« Haralds Stimme wurde zittriger. »Ich weiß von alledem, denn … denn ich bin dafür verantwortlich. Ich bin der Bastard, dieses Stück Dreck, der ihre Tochter vor zwei Jahren entführt und getö… Sie ihnen endgültig genommen hat.« Nun brach es aus ihm heraus. Er heulte so zügellos, dass er schon Schwierigkeiten hatte, überhaupt zu atmen. Sein ganzer Körper wabbelte vor Aufregung.
Herr Schneider ging einen Schritt auf Harald zu, sah ihn an und verzog angeekelt das Gesicht. Harald blieb das nicht unbemerkt.
»Sie haben Recht. Ich bin nicht mehr als ein Schwein, eine dreckige Sau. Ich bin ein Niemand, und ich habe niemanden. Das Einzige was ich habe, ist eine schmutzige Seele, und die muss gereinigt werden.« Er fasste er sich ein wenig. »Ich biete Ihnen etwas an. Ich biete Ihnen mich an. Ich bin ihnen ausgeliefert. Meine Handschellen sind fest, und der Stuhl ist massiv. Sie haben jetzt folgende Möglichkeiten: Sie gehen zum Tisch und nehmen entweder den Schlüssel und übergeben mich der Polizei, oder sie nehmen das Werkzeug, um ihre verdiente Rache zu nehmen. Lassen sie mich der Justiz zukommen, oder foltern mich zu Tode. Das ist das Geschenk, dass ich Ihnen mache.« Harald war ganz überrascht, wie geerdet er nun war.
Herr Schneider verlor nur einen kurzen Blick auf den Tisch, bevor er sich seiner Frau zuwandte. Ohne etwas zu sagen, nur mit Hilfe seiner Kopfbewegung, verstand sie, dass sie mit ihm den Raum verlassen sollte. So ließen die beiden den schniefenden Harald allein im Wohnzimmer zurück.
Er war weniger nervös als er es sich vorgestellt hatte. Die Beiden macht einen guten Eindruck auf ihn. Nett, bürgerlich. Keinerlei Interesse daran, einen Menschen zu töten, aber das war ihm vorher schon bewusst gewesen. In dieser Gegend lebten nur gesetzestreue Bürger, die sich allem widersetzten, was nicht der Norm entsprach. Und Foltern gehörte dazu. Und wenn Harald ehrlich zu sich war, so hätte er diese Aktion auch nicht gemacht, wenn er sich dessen nicht absolut bewusst gewesen wäre. Im Endeffekt hatte er sich nur gestellt – mit einer rhetorischen Zusatzoption. Blitzartig bekam er Lust auf Pizza. Normalerweise benötigte er Essen, wenn es ihm schlechtging, aber manchmal auch, wenn er stolz auf sich war. Nur so, als Belohnung. Er machte sich gerade Gedanken über den Belag, als das Paar wieder das Zimmer betrat.
Die Frau setzte sich auf die schwarze Ledercouch, gegenüber von Harald. Der Mann ging emotionslos zum Tisch, auf dem die Werkzeuge drapiert waren. So wie er die Gerätschaften inspizierte, sie sanft befingerte, jagte er Harald eine Heidenangst ein. Überlegte Herr Schneider wirklich, ihn zu foltern? Dies kam Harald vorher nicht in den Sinn. Zwar hatte er ihnen das Angebot gemacht, aber er war sich sicher, dass sie es nicht mal ansatzweise in Erwägung zogen. Nach seiner Einschätzung waren es normale Mitbürger, die moralisch genug gefestigt waren, einfach die Polizei zu rufen. Harald hätte schmerzfrei sein Gewissen beruhigt, und das Paar hätte mit der Sache abschließen können. Es wäre eine Win-Win-Situation. Als Herr Schneider auch noch das Messer in die Hand nahm, wurde Harald richtig mulmig zumute.
»Wissen Sie, ich habe alle Hebel in Bewegung gesetzt, um sie ausfindig zu machen. Da sie sich komplett den Medien verweigert haben, war es noch schwieriger. Schwieriger? Nein, beinahe unmöglich. Ich habe alles, ja wirklich alles getan, um mich Ihnen auszuliefern.« Harald wollte mit der Bekundung seines Aufwands auf Nummer sicher gehen. Sie würden Gnade walten lassen, wenn sie seine Bemühungen zu schätzen wussten.
Doch sein Gegenüber schien keine Anstalten zu machen, sein Vorhaben zu stoppen. Mit dem Messer, locker in der linken Hand, ging er auf Harald zu. Schnell riss Herr Schneider ihm das T-Shirt herunter und legte damit die bleiche Wampe frei. Während er das Messer langsam den Torso entlang gleiten ließ, stieg die Panik in Harald.
»Sie wollen mich doch verarschen. Sie wollen mir Angst machen, oder?« Daraufhin sah Harald nur noch das Messer auf ihn zurasen. Als er den ersten Schnitt spürte, startete automatisch Haralds psychologischer Selbstschutz. Weg von hier, nicht mehr an die Verletzung denken, sondern an etwas Schönes. An Essen. Und auf einmal befand er sich in der Grillsaison. Er erinnerte sich, wie er die noch blassen Grillwürstchen vorbereitete. Er hatte das gute Edelstahlmesser von Mutti, das er über die Würste zog, damit die Haut nicht durch die Hitze platzte. Akkurat im 45-Grad-Winkel schnitt er sie an. Die Pelle klaffte so sehr auseinander, als hätten sie sich schon die ganze Zeit nach der befreienden Verwundung gesehnt. Nur ein wenig konnte man den Druck erahnen, der sich durch die gespannte Haut freigab. Und wenn man genau hinsah, entdeckte man eine wunderschöne Struktur, an der Stelle, an der sich das Fleisch voneinander verabschiedete.
Die Tortur schien beendet zu sein, denn seine Gedanken befanden sich wieder im Hier und Jetzt. Harald sah das selbstzufriedene Gesicht von Herrn Schneider, das sich langsam entfernte, um das gebrauchte Messer zurück auf den Tisch zu legen. Obwohl er es zu verdrängen versuchte, war sich Harald bewusst, was gerade passiert war. Er war zwar schockiert über diesen Ausraster von Herr Schneider, aber so wirklich übel konnte er es ihm nicht nehmen. Dieser stand apathisch vor dem Tisch und starrte die Werkzeuge an.
Harald vermutete, dass ihm gerade bewusst wurde, was er da getan hatte. Dass er nur kurz die Kontrolle verloren hatte und sich dafür schämte. Und Harald? Für ihn war das in Ordnung. Es waren zwar einige schmerzhafte Schnitte, aber es hat ihn ja schließlich nicht umgebracht. Harald spürte sogar so etwas wie Mitleid. Welche Schuldgefühle Herr Schneider gerade wohl ertragen musste? Und Frau Schneider erst. Sie hat mitansehen müssen, wie ihr Mann die Fassung verlor. Die arme Frau.
Harald drehte den Kopf in ihre Richtung, um ihr einen versöhnlichen Blick zu übermitteln, aber er wurde überrascht. Weder weinte sie, noch war sie am Boden zerstört. Sie kicherte leise in ihre geballte Faust. Harald erschrak vor ihrem Blick, der gleichzeitig verhöhnend und erwartungsvoll war.
So wurde er plötzlich aus seinem Erstaunen gerissen, als Herr Schneider ihn am Unterkiefer packte. Er drückte Haralds Kopf nach hinten, damit er sich nicht mehr bewegen konnte. Ihm war klar, dass er Herr Schneiders Regungslosigkeit missinterpretiert hatte. Herr Schneider machte sich keine Gedanken um seine Tat, sondern welches Werkzeug er als Nächstes benutzen wollte. Und die Wahl fiel auf das Teppichmesser, dass sich eben in diesem Moment auf Haralds Auge zubewegte. Je näher die Klinge kam, desto verschwommener nahm er sie wahr. Und dann hatte Harald auf einmal Lust auf Eier.
Er aß sie am liebsten nur ganz kurz gekocht. Das Messer bewegte sich auf das bereits gepellte Ei zu. Mit der Spitze voran drang es durch die weiße, weiche Außenhaut. Dieses kleine Eindringen befreite bereits das warme, glibberige Innere. Und sobald die Klinge mehrere Zentimeter tief eingedrungen war, gab es kein Halten mehr. Der austretende Schleim überzog alles um sich herum, und es dauerte eine gefühlte Ewigkeit bis der schmierige Quell versiegte.
Nach getaner Arbeit ließ Herr Schneider das Teppichmesser fallen. Mit seinem letzten verbliebenen Auge starrte Harald auf das verschmierte Werkzeug vor ihm. Obwohl ihm dieser Anblick schon schwerfiel, wollte er auf keinen Fall seinen Blick aufrichten. Er wollte nicht in die Gesichter seiner Peiniger schauen, ihre Blicke nicht erwidern. Wenn er still auf den Boden starrte, dachte er, könnten sie vielleicht ihr Interesse verlieren.
Auf einmal hörte er das Einrasten eines Steckers in die Steckdose. Harald war verwirrt. War er sich doch sicher, nichts in seine Tasche gepackt zu haben, das Strom benötigte. Seine Taktik, sich tot zu stellen, hatte er kurzerhand abgebrochen, nachdem seine Neugier die Oberhand gewonnen hatte. Und da erblickte er Herrn Schneider, mit einem Lötkolben in der Hand vor ihm stehend.
»Verdammte Scheiße. Den habe ich nicht mitgebracht. Das ist unfair!«, schrie Harald beinahe schon beleidigt.
Wenige Sekunden später wurde ihm die Unsinnigkeit seiner Intervention bewusst. Ein Piepen ertönte, wohl das Zeichen, das der Kolben nun seine Betriebstemperatur erreicht hatte, und damit dann auch Herr Schneider sein Werk fortsetzen konnte. Harald spürte wie es immer wärmer an seiner Wange wurde, bis er ein wohliges Brutzeln hörte.
Dasselbe Brutzeln wie damals, als er sich ein formidables Steak gönnte. Er hatte sich extra einen neuen Grill gegönnt, der hohe Temperaturen erreichen konnte. Als das Fleisch den heißen Gitterrost berührte, entstanden kleine Bläschen, die sich in feinen Dampf auflösten. Die Flüssigkeit, die das Filet beinhaltete, wurde durch die Hitze nach außen gepresst. Um die Berührungspunkte des Metalls fing das Eiweiß im Fleisch an, zu gerinnen. Die darauffolgenden dunkelbraunen Streifen waren Markierungen für die Ewigkeit, und es herrschte ein süßlich-herber Geruch von dem verbrannten Gewebe. Das gestockte Eiweiß hatte sich mit dem Metall verbunden, woraufhin es beim Anheben kleine Fäden zog.
Die Prozedur schien vorbei zu sein, da ihn sein Kopf wieder in die Realität entließ. In diesem Moment, in dem er wieder klare Gedanken fassen konnte, versuchten seine Synapsen einen Ausweg zu finden. Sie reflektierten, dass Mitleid nicht funktionierte, also war der nächste Versuch, Herrn Schneider mit Wut in die richtigen Bahnen zu lenken.
»Verflucht nochmal, du perverser Mistkerl! Du beschissener Freak, mach mich los, und ich zeig dir mal was Schmerzen sind.« Haralds Spucke flog wie ein Feuerwerk durch die Luft. »Was du hier machst, ist total unverhältnismäßig. Deiner Tochter habe ich sowas nicht angetan. Sie musste bei Weitem nicht so leiden wie ich. Ich habe sie nur erwürgt. Es war innerhalb einer Minute vorbei. Für sie war das beinahe schmerzfrei und nicht …«
Harald bemerkte nun, wie er sich in die Bredouille redete. Er verstand, dass diese Aussage ganz und gar nicht zur Deeskalation beitrug. »Es tut mir leid. Das war nicht so gemeint. Oh mein Gott, bitte. Ich will doch nur, dass es aufhört.« Dann fiel ihm auf, das Herr Schneider gar nicht reagierte, auf nichts was er sagte. Kein Hass, keine Trauer. Er bereitete sich gemächlich auf die nächste Operation vor.
Vor Harald kniend, zog er ihm hastig seine Schuhe und Socken aus. Dies bewerkstelligte er mit so einer vorfreudigen Aufregung, wie ein Teenager, der den BH seiner Angebeteten loswerden wollte. Haralds Füße waren nackt, als sich Herr Schneider einen Zimmermannshammer nahm und inbrünstig ausholte.
Harald dachte an seine Leibspeise. Ein schönes, großes Schnitzel. Roh glänzend, kalt und ungleichmäßig. Für die Zubereitung von Schnitzel hatte Harald extra einen metallenen Fleischhammer gekauft. Und die Vorbereitung des Schnitzels machte ihm genauso viel Freude, wie der Verzehr. Das laute Klatschen, wenn der massive Kopf auf das Fleisch prallte. Die Fasern brachen, die Struktur platzte auf, und ein feiner Sprühnebel aus Fleischflüssigkeit legte sich auf dem Hammer ab. Bei besonders starken Schlägen vibrierte der harte Untergrund.
Als Harald seine Traumwelt verließ, war er genauso außer Atem wie Herr Schneider selbst. Auch Frau Schneiders unheimliche Freude hatte sich langsam in Langeweile verwandelt. War es vorbei? Hatten sie ihren Rachedurst gestillt? Harald wollte sich dennoch vergewissern und versuchte sich in Konversation. Aufgrund seines lädierten Körpers musste er sich anstrengen, deutlich zu sprechen. »Werden Sie mich jetzt ins Krankenhaus bringen?«
Herr Schneider antwortete mit einem fragenden Gesichtsausdruck. Eine Geste, die Haralds Angst wieder befeuerte und sein Adrenalin hochschießen ließ. Wollten sie wirklich einen Mord auf dem Konto haben?
»Sie wollen mich doch nicht etwa umbringen? Haben Sie auch daran gedacht, was das bedeuten würde? Nicht nur ihre Seele würde Schaden nehmen, sie hätten auch noch ein weiteres Problem. Zum Beispiel müssten sie dann irgendwie meine Leiche verschwinden lassen. Das ist unmöglich. Das können sie nicht wollen. Mich zu töten wäre ein großer Fehler.«
»Denkst du etwa, dass wir schon fertig sind?«, antwortete Herr Schneider mit einer tiefen, fast schon beruhigenden Stimme. »Jetzt kommt erst der Höhepunkt. Es wird die wohl heftigste Tortur sein, die du heute durchstehen musst. Und das Beste daran: Ich muss dafür nicht mal einen Finger rühren.«
Seinen Peiniger zum ersten Mal reden zu hören, ihn als Menschen zu sehen und nicht als Maschine wahrzunehmen, war schon unheimlich genug. Aber diese selbstzufriedene Ansage bereitete Harald schon körperliches Unwohlsein.
»Es tut mir leid, das sagen zu müssen, aber du bist ein Idiot«, fuhr Herr Schneider fort. »Wir heißen zwar Schneider und wohnen in der Stadt, in der ein Mädchen tot aufgefunden wurde, aber wir haben keine Kinder.«
Harald bekam Magenkrämpfe, als er reflektierte, was hier vor sich ging.
»Richtiger Name, richtige Stadt aber die falsche Straße. Verstehst du? Du hast die falsche Adresse erwischt. Wir sind erst vor drei Wochen hier eingezogen.« Herr Schneider musste sich beim Sprechen das Lachen verkneifen.
»Aber falls es dich tröstet, du hast uns einen Heidenspaß beschert. Wir mussten uns mal nicht den Arsch aufreißen, um unwillige Spielkameraden zu suchen. Keine Touren durch die Elendsviertel, um Obdachlose zu entführen. Also ich kann nicht genau wissen, wie es dir geht, aber für uns fühlt es sich an wie im Urlaub.«
Zum ersten Mal wagte es Harald, in Herr Schneiders Augen zu sehen. Das war das Einzige, wozu er noch imstande war. Alles was er machen konnte war, weiter seinen spöttischen Aussagen zuzuhören.
»Und wie du wohl schon heraushören konntest, wir machen das nicht zum ersten Mal. Damit wäre dann auch deine Frage beantwortet, ob wir eine Leiche verschwinden lassen können.«
Harald zerbrach innerlich, als ihm bewusst wurde, wie sinnlos seine Opferung war. Er fühlte sich missbraucht. Sein Gewissen wurde nicht reingewaschen, nein. Er befriedigte nur die perversen Auswüchse eines kranken Pärchens. All seine Schmerzen, all seine Pein wurde zu psychischem Fast Food degradiert, und das ließ seinen Überlebenswillen langsam schwinden. Die Schneiders konnten seine Gedanken an seinem Gesicht ablesen und erfreuten sich einige Minuten an diesem jämmerlichen Anblick.
Bis Herr Schneider genug hatte. »So, Großer. Es wird Zeit den Sack zuzumachen.«
Herr Schneider griff nach dem Akkubohrer und setzte die Spitze des Bohrers an Haralds Schädeldecke an.
Als das unangenehme Bohrgeräusch ertönte, dachte Harald an den letzten Sommer. Er hatte Lust auf eine erfrischende Kokosnuss. Um an das köstliche Innere zu gelangen, musste er auch mit einem Akkubohrer die harte Hülle brechen. Bei den ersten Drehungen wickelten sich die feinen Härchen um den Bohrer. Wenn das Gerät nicht so laut gewesen wäre, hätte man wohl noch das brutale Ausreißen vernehmen können. Der Anfang war schwer, da die Spitze noch keinen richtigen Ansatz an der Schale hatte. Die Bohrerspitze rutschte öfter ab, wodurch tiefe Kratzer entstanden. Als aber dann eine kleine Kerbe auf der harten Schicht zustande kam, konnte sich der Bohrer genüsslich hineinfressen. Der Widerstand verriet den Fortschritt des Bohrers. Das weiße weiche Material im Inneren war weniger widerspenstig, und sobald man mehrere Zentimeter vorgedrungen war, sprudelte einem schon die eingeschlossene Flüssigkeit entgegen. Die Hände, die das Bohrgerät festhielten, wurden vollständig damit und mit kleinen Brocken des weißen Fleisches besudelt.
Vielleicht lag es an Haralds bevorstehendem Ableben, aber er konnte kurz, in dieser Traumwelt, klare Gedanken fassen. Er konnte sich nur mit seinem Anliegen befassen, mit einer Hoffnung. Hatte er genug gelitten für seine Absolution? Dürfte er bitte hierbleiben, bei seinen Schnitzeln, seinen Pommes, seiner Schokolade, seinen Hähnchen. Darf er hier die Ewigkeit verbringen?
Seine Seele entwich.