Juliette M. Braatz
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Granny
»Niemals in der Welt hört Hass durch Hass auf.
Hass hört durch Liebe auf.«
Buddha
Damals
Sie stand zwischen zwei alten Apfelbäumen im Nachbargarten und starrte auf die gegenüberliegende Straßenseite zum Haus ihrer Eltern. Es war eines dieser weißen zweistöckigen Gebäude im Cape Cod-Stil mit Sprossenfenstern und beigefarbenem Spitzdach. Am Fallrohr an der rechten Wand hing eine Flagge der Tennessee Titans. Die einsetzende Dunkelheit spielte ihr gut in die Karten; sie war kaum zu sehen zwischen den hochgewachsenen Stauden.
Ein silberner Mercedes fuhr im Schneckentempo an ihr vorbei und nahm ihr für einen Moment die Sicht. Sie schnaufte genervt. Wenn sie es nun verpasst hatte, stand sie umsonst minutenlang hier rum. Doch der Ärger verflog sofort wieder, als sie Willy sah.
Ihr Vater war nicht sehr groß, hatte schwarze krause Locken und trug ein rotes Arbeiterhemd sowie seine blaue Lieblings-Latzhose. Willy hob gerade eine Axt vom Boden auf und marschierte damit schnellen Schrittes auf das Garagentor zu. Sie rümpfte instinktiv die Nase. An den fiesen Gestank des Todes im Inneren der Garage würde sie sich nie gewöhnen. Er ließ das Garagentor immer geöffnet, wenn er arbeitete. Vielleicht ahnte er, dass sie sich oft anschlich und ihn aus der Nähe beobachtete. Wollte er das vielleicht sogar?
Sie sah, wie er zu einem metallenen Tisch ging, der vorne etwas tiefer gelegt war, damit das Blut ablaufen konnte. Einmal hatte dort sogar ein deutscher Schäferhund gelegen. Bis dahin war ihr nie in den Sinn gekommen, dass man theoretisch jedes beliebige Tier nehmen konnte, um Spaß zu haben. Man musste wohl lediglich das Gewicht berücksichtigen. Sie stellte sich vor, wie sie ein Pferd durch die Gegend schleppte und musste kichern. Pippi
fucking
Langstrumpf.
Das Quietschen des verrosteten Tischhebels holte sie zurück ins Jetzt. Es war soweit! Ihr Pulsschlag beschleunigte sich und sie leckte sich nervös über die Lippen.
Ihr Dad hatte die perfekte Position eingestellt, nahm nun die Axt fest in beide Hände, zielte auf die vermutlich noch pochende Kehle und trennte mit einem geübten Schlag den Kopf vom Rumpf. Dieser rollte sogleich vom Tisch und landete mit einem unappetitlichen Klatschen auf dem Boden. Hellblaue leere Augen schienen sie plötzlich zu mustern. Das blonde strähnige Haar des Mädchens war besudelt mit frischem Blut. Sie war bestimmt mal eine echte Schönheit gewesen. Ob er das Mädchen dort mehr liebte als sie? Willy grunzte und ging um den Tisch herum.
Es war ziemlich warm, typisch für den Juli, doch sie fröstelte vor Anspannung und Aufregung. Sie ließ ihren Vater nicht eine Sekunde aus den Augen. Es faszinierte sie, wie gleichgültig er den Kopf betrachtete. Ein paar Mal trat er mit seinem rechten Fuß dagegen, so als würde er Fußball spielen. Dann nahm er ihn auf und warf ihn in die große blecherne Regentonne, die draußen vor der Garage stand. Er hatte keinerlei Verwendung für diesen Fleischball; ihn interessierte nur der Leib. Und für den nahm er sich sehr viel Zeit.
Willy schaltete das Grammophon ein und startete die Kettensäge. Sie griff in ihre linke Hosentasche und holte eine bronzefarbene Taschenuhr hervor, die an einer Kette hing. Kleine bunte Blümchen zierten den Deckel. Die Farben waren fast verblichen. Sie liebte diese Uhr über alles. War lange her, dass das Ding die Zeit anzeigte. Willy hatte sie ihr einmal zum Geburtstag geschenkt. Damals, als sie noch eine normale Familie waren. Sie seufzte.