Heute
Na gut, ich gestehe: Ich bin wirklich aufgeregt. Viel mehr, als es eine Siebzehnjährige in der Nacht vor ihrer großen Party vermutlich sein sollte. Meine beste Freundin wird kommen und Ryan, der coole Typ aus der Parallelklasse. Das wird richtig cool!
Tessa Leighton hörte das Geräusch des Chryslers ihrer Mutter Heather aus der Einfahrt.
Und wie ich sie kenne, wird sie sich jetzt auf Zehenspitzen ins Haus schleichen und die letzten Geschenke in der kleinen Nische neben der Spüle verstecken, weil sie denkt, dass ich das Versteck nach all den Jahren immer noch nicht kenne. Aber ich hab es bereits entdeckt, als ich drei Jahre alt war.
Bei dem Gedanken musste sie lächeln.
Sie eilte nach unten und stolperte auf der unteren Stufe beinahe über eine Kiste mit verschiedenen Musik-CDs und Geburtstagsdekoration.
Häuser am Vortag einer Party haben immer etwas Besonderes
, dachte sie. Luftschlangen, die große Happy Birthday-Girlande über der Tür zum Wohnzimmer … noch war alles still – so, als würde das ganze Haus den Atem anhalten. Aber Tessa wusste es besser. Jemand atmete immer in diesen vier Wänden. Unter ihr. Tief im Keller.
»Tessa? Hast du Miss Marple gesehen?« Heather klang genervt. Tessa hatte in diesem Haushalt nur drei Aufgaben zu erledigen: beim Abwasch helfen, den Müll entsorgen und der gefräßigen Katze ihr Futter bringen. »Wenn dieses Vieh weiterhin alles so in sich hineinstopft, platzt es oder fliegt davon. Wie ein großer Luftballon. Ähnlich wie dieser hier, schau mal!« Sie zeigte aufgeregt auf das schwebende Gesicht von Ryan Tedder, dem Sänger von OneRepublic. Der erste von zahlreichen Typen mit diesem Vornamen, die Tessa so anhimmelte.
»Mom, ist nicht dein Ernst! Willst du meine Gäste etwa vergraulen?« Tessa verzog ihr Gesicht.
»Was denn? Ist gar nicht so lange her, dass dein ganzes Zimmer voll mit ihm war. An den Wänden und Türen, auf deinem Tisch und auf deinen Schulordnern. In jeder Ecke, in jedem Winkel. Du willst den Luftballon also nicht? Und die CDs?«
Tessa schüttelte energisch den Kopf.
Mein Gott, diese Frau lebt doch echt hinterm Mond.
Ein klagendes
Miau
drang aus der Nische neben der Spüle, und Miss Marple stolzierte mit erhobenem Kopf auf die beiden Frauen zu. Tessa musste ein Lachen unterdrücken beim Anblick ihrer Mutter, die mit großen Augen zur Nische schielte und vermutlich gerade prüfte, ob Tessa die Geschenke von hier aus sehen konnte.
»Geh doch bitte runter in den Keller und hol ein paar Dosen Katzenfutter. Bevor Madame noch elendig verhungert.«
Tessa wurde sofort flau im Magen. Zögernd drehte sie sich um. Unbewusst hielt sie sich mit der rechten Hand den Bauch, spürte ein nervöses Grummeln. Und mit jedem weiteren Schritt Richtung Kellertreppe verstärkte sich dieses unbehagliche Gefühl.
Scheiße, ich will da nicht runter! Warum weigere ich mich nicht einfach?
Ihre zittrigen Finger tasteten an der rau verputzten Wand nach dem Lichtschalter. Ein paar nackte Glühlampen, die an schwarzen Kabeln über der Treppe hingen, flammten auf, aber die Schatten dort unten waren hartnäckig und wollten kaum weichen.
Also dann!
Tessa holte tief Luft und stieg hinab, die Hände zu Fäusten geballt, als müsste sie sich einem unsichtbaren Feind entgegenstellen. Die Stufen waren schief und knarrten bei jedem Schritt, das Holz sang, erzählte eine Geschichte. Irgendwo in der Dunkelheit am Ende der Treppe raschelte etwas.
Bitte lass es eine Ratte sein!
Der Keller war niedrig, die Decke mit isolierendem Material ausgekleidet, das die Kälte und den Schall – ganz besonders den – fernhielt. Es roch nach Feuchtigkeit und schimmeligem Papier. Regale, die mit allerlei Krempel vollgestopft waren, flankierten einen schmalen Durchgang. Sie hörte Sinatra leise von jener Stadt singen, die niemals schlief; die Musik von Grannys Plattenspieler drang leise durch die schwere Schallschutztür am anderen Ende des Kellers, aber Tessa versuchte, sie so gut es ging auszublenden. Da lag ein alter Lenkdrachen, den sie und ihr Dad über den Feldern nahe am South Eagle River hatten steigen lassen – seine einst knallrote Farbe war nun ausgeblichen. Der Kratzbaum, den Miss Marple beharrlich verweigert hatte, ragte zu ihrer Rechten auf, blass wie ein Gerippe im Licht, das durch das schmale Kellerfenster voller Spinnweben fiel.
So viel nutzloser Mist. Am liebsten würde ich all das auf den Müll werfen. Wo sind nun die blöden Dosen?
Tessa sah sich um, während ihr Herz klopfte.
Ach ja, hier drüben.
Da standen die Sechserpacks von Tiki Cat! Die einzige Sorte, die ›Miss-ziemlich-verwöhnt‹ fraß. Tessa nahm so viele, wie sie tragen konnte und machte sich auf den Weg zur Kellertreppe. Sie hasste es, hier unten zu sein. Es fühlte sich jedes Mal so an, als würden unzählige Augen sie beobachten.
Das bildest du dir nur ein, Tessa, bleib ganz ruhig!
Augenblicklich hielt sie inne. Das Blech der Dosen fühlte sich seltsam warm unter ihren Fingern an, aber eine Sekunde später begriff sie, was sie
wirklich
hier unten störte.
Die Musik.
Die verdammte Musik war weg.
Jetzt bloß keinen Lärm machen!
Es kostete sie reichlich Überwindung, ihren Kopf zu drehen und den schmalen Kellerflur zurückzublicken. Nichts. Die Tür weit hinten war geschlossen. Dennoch überkam sie das seltsame Gefühl, dass etwas ganz und gar nicht stimmte.
Ein Geräusch von der Kellertreppe ließ Tessa überrascht herumfahren und sie schrie laut auf vor Schreck. Zwei Dosen fielen dabei krachend zu Boden und rollten geräuschvoll davon. Sie fluchte lautstark. Es gab hier unten nur eine Regel:
Egal, was du tust – mach es leise!
»Du Biest! Das hab ich dir zu verdanken«, sagte sie zu Miss Marple, die sie emotionslos mit grünen Katzenaugen musterte. Tessa holte tief Luft, stellte die Dosen auf der Treppe ab und machte kehrt, um die beiden anderen einzusammeln. Eine lag im Kellerflur, Nummer zwei konnte sie jedoch nicht entdecken.
Also schön, wo steckst du? Bestimmt irgendwo da am Boden.
Tessa ging in die Hocke und spähte unter eines der Regale.
Bingo. Da ist sie.
Sie streckte die rechte Hand aus, schob sie durch die Spinnweben unter dem untersten Regalboden, bis sie die Dose umfassen konnte. Sie klemmte.
War ja klar.
Tessa zog mit einem kräftigen Ruck daran, die Dose löste sich und Tessa fiel nach hinten, landete mit dem Hintern unsanft auf dem fleckigen Betonboden.
Scheiße!
Ihr Blick irrte durch den Keller. Die Glühlampen summten und warfen ein fahles gelbes Licht auf die feuchten Wände.
Die Tür am Kellerende stand offen. Tessas Magen geriet in freien Fall.
Diese Tür ist sonst nie geöffnet. Sie ist viel zu gefährlich, wenn sie ihre Medizin nicht eingenommen hat.
Und dann entdeckte Tessa sie: Den Rücken gekrümmt von ihrer Krankheit, ragte die dürre, ausgemergelte Silhouette von Granny vor der Schallschutztür auf. Sie trug ein knöchellanges Kleid mit Rüschensaum, das einmal weiß gewesen sein musste. Die ergrauten Haare waren fettig und hingen strähnig vom Kopf. Alte Hände tasteten wie die eines Blinden durch die Luft, unablässig suchend, während nackte Füße einen Schritt nach dem anderen machten. Ihr Mund stand offen, sie murmelte heisere Worte, die Tessa nicht verstand.
Oh, nein! Nein, nein, nein!
, schoss es Tessa durch den Kopf. In ihren Adern pochte das Adrenalin. All ihre Sinne waren geschärft. Sie ließ die Dose, wo sie war, und krabbelte panisch rückwärts. Ihre Fingernägel schrammten über den rauen Betonboden, einer brach ab, doch sie spürte den Schmerz kaum.
Wie ein hungriges Raubtier, das eine Fährte aufgenommen hatte, hörte sie das Schnüffeln aus Grannys eingesunkenem Gesicht. »Tesssssa«, zischte es aus dem Halbdunkel, »bist du … hier?«
Der Schrei, der Tessa entwich, als sie sah, wie die Gestalt dort im Keller plötzlich auf sie zustakste, als ob sie das Gehen verlernt hätte, dröhnte in ihren Ohren. Sie wirbelte herum und sprang mit einem großen Satz über die Dosen und hastete die Kellertreppe hinauf.
Die Katze sprang fauchend aus dem Weg und schoss in Richtung Küche davon, als Tessa die Kellertür erreichte, sie hastig hinter sich zuschlug und den Riegel vorschob. Sie zitterte am ganzen Körper, von ihrem linken Zeigefinger floss Blut.
Scheiße, das ist nicht wirklich passiert
! Doch Tessa wusste, was sie dort unten im Licht der Glühlampen gesehen hatte, ehe sie die Tür schloss. Sie war sich sicher, dass sie sich dieses Detail ganz bestimmt nicht eingebildet hatte: Eine Hand mit blassen, langen Fingern, die sich über die Stufen nach oben tastete. Zu ihr.
Granny war frei.
***
»Deinen Vater hört man schon aus dreißig Kilometern Entfernung«, murmelte ihre Mutter, während sie die letzten Lebensmittel vom Einkauf verstaute.
Adam Leighton fuhr eine schwarze Honda VT 750 mit Feuer-Tribals. Der Motor klang wie ein Gehege voller gefräßiger Löwen. Irgendwann würde die Maschine ihr gehören, hatte er ihr mal versprochen.
Sie öffnete ihm die Tür und umarmte ihn innig zur Begrüßung.
»Hoppla, langsam, Prinzessin! Was ist denn los?« Adam gab seiner Tochter einen Kuss auf die Stirn und sah sie besorgt an. »Du siehst ja furchtbar aus.«
So fühlte sie sich auch. Furchtbar. »Dad, ich weiß, du wirst mir das nicht glauben, und ich weiß auch gar nicht, wie ich dir das erklären soll, aber …« Sie schluckte. Und wenn sie sich das doch nur eingebildet hatte? »Granny …, sie ist nicht mehr in ihrem Zimmer. Sie läuft da unten frei herum!«
Adam hielt inne und runzelte die Stirn. Dann drehte er sich zu seiner Frau um. »Warum lässt du die Alte aus dem Zimmer raus?«
»Das habe ich nicht. Als ich heute Mittag unten war, lag sie wie üblich in ihrem Bett«, rechtfertigte sich Heather.
»Und du hast dich an die genaue Dosis gehalten?«
Heather verschränkte die Arme vor der Brust. »Hältst du mich für unfähig? Ich gebe ihr seit Jahren dreimal täglich die gleiche Menge Ambien, nämlich 12,5 Milligramm – morgens, mittags und abends. Damit ist sie den ganzen Tag ruhiggestellt.«
Und kann uns nichts anhaben.
Tessa erschauderte. Warum konnte sie keine Großmutter wie jedes andere normale Mädchen haben?
»Wir müssen herausfinden, wie sie das immer anstellt. Und zwar schnellstens, ehe noch etwas passiert.« Adam kramte sein Handy aus der linken Hosentasche. »Ich werde Henry demnächst bitten, sich den kompletten Keller anzusehen. Er hat die beste Polizei-Spürnase von allen, dieser alte Fuchs. Wenn er ebenfalls nichts findet, weiß ich auch nicht weiter.«
Tessa wurde kreidebleich.
»Was soll das heißen ›
wie sie das immer anstellt
‹? Soll das bedeuten, dass das schon öfter vorgekommen ist? Sie ist schon mal da unten herumgestiefelt? Und warum sagt mir das keiner?«, rief Tessa aufgeregt. Ihre Stimme überschlug sich und klang hysterisch.
»Beruhige dich, Prinzessin. Es ist doch nichts passiert.«
Tessa wehrte seine Umarmung ab.
So leicht kommen sie mir jetzt nicht davon. Scheiße, verdammt!
»Wie oft habt ihr mir erzählt, wie gefährlich sie ist und wie sehr wir uns vor ihr in Acht nehmen müssen? Dass sie immer ihre Medizin einnehmen muss, ihr keiner zu nahe kommen darf außer Mom. Und dann verheimlicht ihr mir, dass sie da unten herumwandert wie ein verfickter Zombie! Nicht nur das! Mom schickt mich allen Ernstes da runter, um Katzenfutter zu holen. Na, danke auch!«
Heather Leighton hob beschwichtigend die Hände. »Es tut mir leid, du hast recht. Wir hätten es dir sagen müssen, aber wir wollten dich nicht beunruhigen. Es kam dreimal vor, und immer stand sie nur am Fuße der Kellertreppe. Sie sprach nichts, regte sich nicht, stand einfach nur da. Daher haben wir uns nichts weiter dabei gedacht und, na ja, es verschwiegen. Tut uns leid! Dein Vater wird sich darum kümmern, in Ordnung? Und bis dahin bleibst du einfach oben. Es genügt, wenn ich runtergehe und nach ihr sehe.«
Tessa musterte ihre Mutter mit Argusaugen. »Ich hab Angst um dich, Mom! Was ist, wenn sie dich austrickst und dir was antut? Vielleicht ist sie gar nicht so krank, wie wir glauben. Warum können wir sie nicht einfach in ein Heim stecken? Da kümmern sich andere um sie. Und sie hat da Leute zum Quatschen. Ich finde, das klingt gut!«
Tessa bemerkte ein kurzes Zögern bei ihrer Mutter. »Mom?«
»Tut mir leid, das geht nicht. Du musst das nicht verstehen, Tessa. Es ist nicht so einfach, wie sich das für dich anhört. Sie ist immerhin meine Mutter.«
»Sie ist ein Monster! Bösartig, hinterlistig und total irre! Das hast du mir selbst erzählt! Sonst würde sie ja nicht im Keller wohnen, sondern hier oben bei uns.«
Adam, der sich in dieses Mutter-Tochter-Gespräch bisher nicht einmischen wollte, nahm seine Frau in den Arm und zwinkerte Tessa zu. »Komm, Prinzessin, bereiten wir das Abendessen vor. Und Miss Marple hat sicher auch längst wieder schlechte Laune, weil der Napf noch leer ist.«
***
Es war erst früher Nachmittag, doch die Party im Garten hinter dem Haus war bereits in vollem Gang. Tessa brauchte eine kleine Pause von dem ganzen Erwachsenenkram, den ihre Verwandten am Tisch zum Besten gaben, und so zog sie sich mit Mia aufs Zimmer zurück.
»Scheiße, Tessa, ich bin deine beste Freundin, aber dafür, dass du immer so hübsch aussiehst, könnte ich dich echt verprügeln.« Mia bewunderte Tessas Outfit, bestehend aus einem kurzen roséfarbenen Cocktailkleid aus Chiffon mit Plisseefalten, silbernen Pumps und passendem Silberschmuck, den sie von ihrer Mutter bereits vorab zum Geburtstag bekommen hatte. Sie sah umwerfend aus! »Wenn Ryan dich heute nicht endlich flachlegt, dann weiß ich auch nicht.«
Tessa lief rot an. »Halt die Klappe! Spinnst du? Sollen dich meine Eltern hören?«
In diesem Moment klopfte es an der Tür. Sofort fing Tessas Puls an zu rasen. »Ja? Wer ist da?« Die Frage war nur so eine Art Floskel, denn eigentlich wusste sie ganz genau, wer gleich in ihr Zimmer stolzieren würde. Ryan! Mister ›Ich-hab-die-schönsten-blaugrauen-Augen-der-Welt‹
himself
.
»Hey, Ladies! Wow, Tessa, du siehst toll aus!« Ryan hob anerkennend die rechte Augenbraue und stieß einen Pfiff aus. »Ich hab uns was mitgebracht. Sponsored by Daddy.« In seiner Hand hielt er eine angebrochene Flasche Glenfiddich 18 Years Single Malt.
»Du konntest es wohl nicht abwarten, hm?« Mia schnappte sich den Scotch, schraubte den Verschluss von der Flasche und nahm einen großen Schluck der bernsteinfarbenen Spirituose.
»Ach du Scheiße!« In Sekundenschnelle färbte sich ihr Gesicht rot und sie bekam einen Hustenanfall.
Tessa musste laut lachen. »Du siehst aus wie eine Tomate. Selbst schuld!«
Die Zimmertür wurde aufgerissen und ihre Mutter schaute sie argwöhnisch an. »Was treibt ihr denn hier? Los, ab in den Garten! Es sind deine Gäste, Tessa, vergiss das bitte nicht. Du meine Güte, Mia, dein Gesicht …«
Außer ihren Eltern, Mia und Ryan waren noch Vaters bester Freund Henry, seine Frau Anna sowie die Nachbarn der Leightons, Ralf und Susanne Barlang, anwesend. Man saß am Tisch zusammen und unterhielt sich gerade darüber, wie sinnvoll es war, einen Gärtner zu haben, der einem beim Kürzen der wuchernden Hecken und Büsche regelmäßig zur Hand ging.
Oder der jeden Donnerstag um elf Uhr vorbeikommt, um einen ausgiebig flachzulegen.
Tessa kicherte still in sich hinein. Sie hatte ihre Nachbarin mehr als einmal dabei erwischt, wie sie sich den braungebrannten Mittzwanziger ins Haus holte. Tessa hatte die beiden heimlich durchs Schlafzimmerfenster der Barlangs beobachtet.
Susi steht nicht auf Blümchensex, so viel ist sicher.
»Seid mal kurz ruhig, bitte!« Henry stand auf. Er schwankte, offensichtlich hatte er sich schon einige Drinks genehmigt. Während er mit einer Kuchengabel gegen sein Glas schlug, hatte er Probleme, sein Gleichgewicht zu halten. Der CD-Player, der auf einem der Buffettische in der Nähe stand, spielte leise
Counting Stars
von OneRepublic.
An Tessa gewandt, hielt er eine hicksende Rede darüber, wie niedlich sie als Baby gewesen war, dass sie einmal eine ganze Hand voll Käfer angeschleppt hatte und diese verschlingen wollte, er sie aber gerade noch rechtzeitig davon abhalten konnte. Dass er mit ihr im Kinderbecken des Freibads so lange geübt hatte, bis sie ohne Hilfe schwimmen konnte, und dass er ihr diese Geduld auch zur Verfügung stellen würde, wenn sie ihre ersten Fahrstunden nahm.
Tessa waren diese Anekdoten unangenehm. Sie hatte sie schon tausend Mal gehört. Sie beobachtete den Detective. Er sah aus, als grübelte er schon den ganzen Abend an einem schwerwiegenden Problem – oder als wäre der Wein, den er trank, zu sauer.
Kaum hatte sie diesen Gedanken vervollständigt, übertönte ein greller Schrei die Klänge des CD-Players. Ein zweiter folgte. Tessa sah in irritierte Gesichter.
Plötzlich sprang ihre Mutter auf, ihr Stuhl kippte nach hinten. »Entschuldigt uns bitte kurz«, stammelte sie nervös an die Gäste gerichtet. »Adam, komm mit!«
Tessa sah ihren Eltern nervös hinterher. Heather ging schnellen Schrittes über den Rasen und stürmte auf das Haus zu. Adam hatte sichtlich Mühe, ihr zu folgen.
»Wer oder was war das?« Ryan starrte neugierig in die Richtung, aus der der Lärm gekommen war. »Das klang so, als hätte jemand in eurem Haus geschrien.«
Tessa spürte die fragenden Blicke der anderen Anwesenden hartnäckig auf sich ruhen und bekam einen dicken Kloß im Hals.
Scheiße, und jetzt?
»Tessa!« Henry stand auf, stellte sich vor sie und packte sie an den Schultern. »Was ist hier los? Wer ist bei euch im Haus? Und warum ist diese Person nicht hier bei uns am Tisch?«
Tessa rang um Fassung. Tränen liefen ihr übers Gesicht. Sie war unfähig, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. »Sie ist … eingesperrt … böser Mensch … ich …“, stammelte sie.
Henry griff ihr unter die Arme und zwang sie aufzustehen. »In Ordnung, wir machen jetzt Folgendes: Ich bringe euch zum Geräteschuppen dort drüben, ihr schließt von innen ab und wartet, bis ich zurück bin. Wenn ihr jemanden hört, dessen Stimme ihr nicht kennt, oder ihr das Gefühl habt, dass etwas nicht stimmt, öffnet ihr nicht! Ist das klar? Ralf, ich gebe dir meine zweite Waffe. Du kannst damit umgehen, oder? Dann los!«
Während sie zum Schuppen liefen, flüsterte Tessa zu Mia: »Ich werde meine Eltern suchen. Bleib du hier bei den anderen, okay?«
Mia schüttelte energisch den Kopf. »Auf gar keinen Fall! Du rennst da sicher nicht rein, Tessa! Ich will nicht, dass dir etwas passiert. Henry wird sich schon …«
Tessa unterbrach ihre Freundin: »Henry hat keine Ahnung! Die hat keiner von euch!«
Und ehe Mia reagieren und ihre Freundin festhalten konnte, rannte Tessa auch schon los.
Normalerweise ging man rechts am Haus entlang. Der Weg war mit bunten Kieselsteinen gepflastert und gut beleuchtet. Links entlang lag der Weg zum Haus im Halbdunkel. Die weiße Kletterhortensie krallte sich in die Fassade und hielt sich mit ihren Haftwurzeln am Mauerwerk fest. Vereinzelt streckten Wildrosen der gewaltigen Kletterpflanze ihre Knospen entgegen.
Tessa wählte den linken Weg, um Henry nicht in die Arme zu laufen.
***
Tessa lauschte in die Stille hinein. Der Abend umhüllte sie mit seinen Schatten, verschlang sie, als sie sich Stück für Stück vorankämpfte.
Autsch
! Sie blieb mit ihrem Kleid an einigen Wildrosen hängen, deren Dornen eine Signatur auf ihrem rechten Oberschenkel hinterließen. Erneut stiegen ihr Tränen in die Augen.
Was für ein Scheißtag!
Vorsichtig befreite sie den Stoff und bemerkte die kleinen Löcher.
Mom wird ausrasten, wenn sie das sieht. Aber eigentlich ist sowieso alles ihre Schuld! Ständig muss alles nach ihrer Nase gehen. Es kotzt mich so an!
Sie fühlte sich schwer und gleichzeitig schwerelos. Wie damals im Freizeitpark, als sie das erste Mal in den sechsundsechzig Meter hohen Freefall-Tower gestiegen war.
»Du blutest, Tessa.«
Sie wurde aus ihren Gedanken gerissen und starrte auf die roten Spuren, die sich seitlich an ihrem Oberschenkel nach unten schlängelten, spürte den Schmerz unterschwellig pochen. Und dann durchfuhr sie ein Blitz, der so gewaltig war, dass ihr Herz für einen Moment stehen blieb.
Diese Stimme.
Das kann unmöglich sein.
Langsam drehte sie sich um. Ihr Puls raste, ihr Körper stand unter Strom, jeder einzelne Muskel war zum Zerreißen gespannt.
»Granny …«, presste sie heraus.
Sie standen sich reglos gegenüber, schauten einander tief in die Augen. Die Welt um sie herum versank im Nebel. Es kam Tessa alles so unwirklich vor.
»Ich muss mit dir reden.« Granny hob ihre alten, runzligen Hände hoch und ging einen Schritt auf Tessa zu.
»Bleib bloß stehen! Wehe, du kommst mir zu nahe! Ich schwöre, ich … ich …« Hilflos sah Tessa sich um und entdeckte eine kleine Gartenschaufel, die sie neulich beim Unkrautjäten liegen gelassen hatte. Lediglich drei oder vier Schritte brauchte sie zu ihr. Wenn sie springen würde …
»Tessa, so hör mir doch bitte zu. Ich will nur mit dir reden.« Granny machte einen weiteren kleinen Schritt auf sie zu. Beim Versuch zu lächeln, entblößte sie zwei Reihen gelb-schwarzer Zähne. Oder das, was von ihnen noch übrig war. So scheußlich Granny aussah, so roch sie auch aus dem Mund. Der Geruch nach Fäulnis stieg Tessa in die Nase. Angewidert wich sie zurück. Die Ranken der Kletterhortensie drückten sich in ihren Rücken. Weiter zurück ging es nicht. Sie saß in der Falle.
»Aus dir ist eine wunderschöne, junge Dame geworden. Als ich dich das letzte Mal gesehen hab, warst du noch ein kleines Mädchen. Weißt du nicht mehr? Ich hatte dir einen Teddy aus dem neuen Spielwarenladen mitgebracht. Ihm fehlte ein Auge, deswegen haben wir ihn Einauge genannt. Daran erinnerst du dich bestimmt nicht mehr.«
»Das letzte Mal? Du meinst gestern im Keller, ja?« Tessa blieb wachsam.
Ich hab keine Lust, dass mir diese Hexe die Haut vom Leib reißt und mir ihre Krallen ins Herz bohrt!
»Findet sie! Wie weit kann die Alte schon gekommen sein, verdammte Scheiße?«
Tessa hörte ihre Mutter fluchen, noch ehe diese um die Ecke bog.
»Tessa, Gott sei … Mutter?!«
Heather blieb abrupt stehen. Ihre Augen blitzten bedrohlich.
»Wenn du meiner Tochter auch nur ein Haar krümmst, töte ich dich!«, schrie sie. »Erklär mir, wie du aus dem Keller kommen konntest! Wie hast du das angestellt, hm?«
Ein unregelmäßiges Schnaufen näherte sich ihnen. Jemand kam auf sie zugerannt. Tessa beugte sich ein wenig vor und lugte um die Ecke. Henry.
»Eigentlich, Heather, bist du es, die uns einiges zu erklären hat«, begann er völlig außer Atem und warf ihr einen beigefarbenen Ordner vor die Füße.
Heather hob ihn langsam auf.
»Willst du, oder soll ich?« Henry stemmte beide Arme in die Hüften und musterte sie eindringlich.
Tessa blickte verwirrt von Henry zu ihrer Mutter und wieder zurück. Was zum Teufel ging hier vor sich?
»Verschwinde, Henry!« Heather flüsterte kaum hörbar. Sie geriet ins Wanken, Adam trat hinter sie und umfasste ihre Taille.
»Schatz, was ist los? Was ist das für ein Ordner?«
»Ich sagte, er soll verschwinden!«
Sie befreite sich mit einem kräftigen Ruck aus Adams Griff und ging auf Henry los. »Verschwinde endlich! Na los, hau schon ab!«
Ein paar Mal schlug sie mit dem Ordner nach ihm, doch er wehrte ihre Angriffe mühelos ab. »Du hattest kein Recht dazu, hier herumzuschnüffeln! Das alles geht dich einen Scheißdreck an, hörst du?«
Henry, der sich unbemerkt seiner Jacke entledigt hatte, wechselte unerwartet seine Position und stand plötzlich hinter Heather. Er nutzte das Überraschungsmoment, um sie zu Boden zu pressen. Mit seinem rechten Fuß spreizte er ihre Beine, sodass sie nachgab und in die Hocke ging. Dabei hielt er ihre Hände hinter dem Rücken fest. Mit einer geschickten Bewegung übte er mit seiner rechten Schulter Druck auf ihren Rücken aus, damit sie sich hinlegte.
»In Ordnung, dann versuche ich mal, das Puzzle zusammenzufügen. Sag mir, wenn ich mich an einer Stelle irre. Es gab vor etlichen Jahren eine Mordserie hier in der Gegend. Jemand entführte über mehrere Monate hinweg Mädchen zwischen zwölf und sechzehn Jahren und verging sich an ihnen. Mit der kleinen Francis fing alles an. Zu seinem festen Ritual gehörte es, ihnen den Kopf abzutrennen und ihre Körper in der Nähe des Flusses zu vergraben. Alle nannten ihn den Schlächter von Tennessee. Insgesamt gingen sieben Morde auf sein Konto, und nie hinterließ er Spuren. Wir hatten keinerlei Anhaltspunkte, keine Hinweise, nichts. Er war wie ein Geist. Glaub mir, mich machte dieser Typ wahnsinnig. Jede Nacht hatte ich Albträume, stellte mir vor, was er mit den Opfern alles anstellte. Ein beschissenes Gefühl, wenn man einfach nichts gegen so einen Wichser unternehmen kann. Wie wir ihn dann fassen konnten? Gar nicht. Eines Tages bekam ich einen Anruf. Es hieß, eine Frau habe ihren Mann erschossen. In Notwehr. Als er gerade dabei war, ein Mädchen in seiner Garage abzuschlachten. Sie hatte ihn also quasi auf frischer Tat ertappt. Und als er mit seiner Kettensäge auf sie zuging, zielte sie mit einer Remington auf seine Brust und erschoss ihn. Zack, erledigt. Damit hatte sie nicht nur ihr eigenes Leben gerettet, sondern auch das des Mädchens. Aber das wusstest du bereits, oder, Heather? Du konntest es deiner Mutter nie verzeihen, dass sie deinen Vater getötet hat. Den Schlächter von Tennessee. Deswegen hast du sie in den Keller gesperrt und dort unten fast verrotten lassen, nicht wahr? Weil du nicht wahrhaben kannst, dass er ein Schwein war, eine Bestie.«
Tessa stand wie angewurzelt da. Was redete Henry für einen Unsinn? Ihr Großvater war ein Serienmörder? Sie suchte im Gesicht ihrer Mutter nach Antworten, nach einer Reaktion, die sagte, dass das alles gelogen war. Doch sie sah nur Kälte in den Augen ihrer Mutter. Nichts als Kälte.
***
Als Henry seine Handschellen hervorholte, blickte Heather zu Adam auf.
»Bitte, hilf mir! Lass es nicht so enden. Denk an Tessa!«
Henry öffnete die erste Fessel und legte sie um Heathers linke Hand. »Meine Kollegen sind bereits auf dem Weg hierher. Ich habe sie informiert, direkt nachdem ich mir Zugang zum Keller verschafft hatte.«
Er wandte sich an Granny. »Es tut mir unendlich leid, dass ich meiner Ahnung nicht schon eher nachgegangen bin. Ich hab schon eine Weile gespürt, dass hier etwas faul ist. Es hat sich nur nie ergeben, dass ich mich in Ruhe umsehen konnte. Bis heute.« Sein Blick ging zurück zu Heather. »Du hast in meinen Augen die Höchststrafe verdient. Hier in Tennessee bedeutet das für dich womöglich die Todesstrafe.«
»Adam!« Heather versuchte sich aus Henrys Griff zu befreien, ihn von sich zu stoßen, indem sie sich nach links und rechts drehte, wie ein Krokodil, das zur Todesrolle ansetzte.
»Du hast mir erzählt, dass sie dich immer verprügelt hat, als du noch klein warst«, flüsterte Adam. Er sah traurig zu Boden. »Dass sie psychisch schwer erkrankt sei und deswegen diese Medizin benötigte. Du hast mich all die Jahre belogen.«
Henry hielt inne und blickte zu Adam. »Willst du mir weismachen, dass du nicht den leisesten Hauch einer Ahnung hattest? Warst du jemals dort unten und hast gesehen, was sich im hinteren Zimmer befindet?« Er zeigte mit dem linken Arm zum Haus. Dorthin, wo sich der Keller befand.
Heather, die immer noch auf dem Boden lag, nutzte seine kurze Unaufmerksamkeit und versuchte mit aller Kraft aufzuspringen. Henry taumelte rückwärts, wirkte überrascht, fing sich aber schnell wieder. Heather ballte ihre befreiten Hände zu Fäusten und schlug wild um sich. Und schließlich setzte sich Adam in Bewegung. Er kniete nieder, packte ihre Füße und hielt sie hoch, sodass sie sich kaum noch bewegen konnte.
Plötzlich ertönte ein lauter Knall. Alle Blicke gingen hastig in die Richtung, aus der er kam. Henry sah zu seiner Jacke, die etwas abseits von ihm lag, und fluchte.
»Das kann doch nicht wahr sein. Tessa! Gib mir sofort meine Waffe zurück!«
Tessas Hände zitterten. Der Schuss, den sie in die Luft abgegeben hatte, dröhnte immer noch in ihren Ohren.
»Komm schon, Prinzessin«, bat Adam. »Bevor du jemanden verletzt.«
Sie schüttelte langsam den Kopf. Ihre Gedanken überschlugen sich. Ein Film spulte sich vor ihrem inneren Auge ab, Erinnerungen, die sie einholten. Granny, wie sie mit ihr Fangen spielte. Granny, die ihr eine rosa Eiskugel gab. Und Granny, die ihr
Hush, little baby
zum Einschlafen vorsang. Eine Welle der Übelkeit überkam sie und sie übergab sich. Zweimal. Zurück blieb der bittere Geschmack der Erkenntnis. Sie spannte ihre Muskeln an, stellte sich gerade hin und hob die Waffe an. Der Lauf zielte auf grüne Augen in einem blassen Gesicht.
»Ja. Erschieß sie, Tessa! Sie ist an allem …«
Heather hielt inne. Ihre kalten Züge wichen einem entsetzten Ausdruck, als Tessa die Waffe nach rechts bewegte.
»Tessa …?«
Der zweite Schuss dieses Abends traf Heather Leighton in den Unterleib. Sie sackte in sich zusammen, hielt sich die Hände vor den Bauch. Tessa sah, wie Granny sich schwerfällig niederkniete.
»Mutter …« Heather streckte ihre Hand aus. Ihre Atmung wurde flacher und unregelmäßiger. Kinn und Nasenspitze wurden zunehmend blasser. »Es tut mir leid.« Tränen liefen ihr übers Gesicht.
Die plötzliche Wandlung ihrer Mutter verwirrte Tessa. In ihr herrschte das reinste Chaos.
»Ich habe es nicht geschafft, dich nicht zu hassen. Ich konnte aber auch nicht aufhören, dich zu lieben. Er fehlt mir immer noch sehr.«
Der Himmel flackerte bläulich auf. Aus der Ferne hörten sie Polizeisirenen, die sich näherten.
Granny küsste Heathers Hand, an der die Fessel hing. Tessa nahm ein unkontrolliertes Zucken wahr, das den Körper ihrer Mutter übermannte. »Das weiß ich, mein liebes Kind. Und ich vergebe dir.«
Auch Granny weinte nun. In ihren alten Augen zeichnete sich eine unendliche Traurigkeit ab, die tiefe Wurzeln in ihrer Seele geschlagen hatte.
»Geh in Frieden … und mit Liebe.«
***
»Es ist wirklich nicht schön hier.« Tessa saß auf einer Pritsche und lehnte sich mit geschlossenen Augen an die kalte Wand. Nur wenige Sonnenstrahlen drangen durch das vergitterte Fenster und wärmten ihr müdes Gesicht. Sie versuchte, sich ihre Anspannung nicht anmerken zu lassen. »Glaubst du, dass unser Anwalt mich hier rausholen kann?« Sie öffnete die Augen und ließ den Blick durch die Zelle streifen. Sie war mit einem Bett, einem Tisch samt Stuhl, einem Schrank, einer Waschgelegenheit sowie einer freistehenden Toilette ausgestattet. Tessa schluckte schwer. Die Kälte, die sie im Rücken spürte, kroch langsam und mit ausgefahrenen Krallen in ihren Körper und bahnte sich den Weg zu ihrem Herzen. So fühlte es sich also an, wenn man die Hoffnung verliert.
»Nein, das glaube ich nicht. Den Gedanken schiebst du auch besser beiseite! Du sitzt nicht grundlos in Untersuchungshaft. Aber er wird dafür sorgen, dass man dich nicht zum Tode verurteilt. Darauf solltest du dich konzentrieren, Tessa. Du wirst hier dein Leben lang eingesperrt sein. Alles andere spielt keine Rolle.« Granny verzog die Mundwinkel. Sie schien zu lächeln. In ihren alten, zittrigen Händen hielt sie etwas, was Tessa bekannt vorkam.
»Diese Uhr gehörte Mom, oder?« Tessa stand auf und ging zu Granny, die auf der anderen Seite der Gitterstäbe stand. Eine kleine bronzefarbene Taschenuhr mit bunten Blümchen wippte von der einen zur anderen Hand. Tessa wollte nach ihr greifen, doch Granny zog ihre Hände zurück.
»Ja, sie gehörte deiner Mutter. Und davor gehörte sie Francis.«
Ein Windhauch streifte Tessas Nacken, doch die plötzlich eintretende Gänsehaut bekam sie aus einem anderen Grund. In den Augen ihrer Großmutter leuchtete etwas auf. Und mit jeder weiteren Sekunde wurde dieses Leuchten stärker … und das Lächeln breiter. Panische Angst überfiel Tessa. Sie hatte plötzlich das Gefühl, innerlich erdrückt zu werden. Unfähig, sich zu bewegen, stand sie da und starrte in die hässlich verzerrte Fratze ihrer Großmutter.
»W-w-wer ist Francis?« Sie musste die Worte beinahe herauspressen, so sehr wurde sie von ihren Gefühlen übermannt. Tränen liefen über ihre Wangen. Ihre Knie zitterten. Sie kannte die Antwort bereits.
»Francis war unser erstes Mädchen. Ein niedliches kleines Ding. Willy wollte mich mit dem Püppchen überraschen. Er meinte, jedes Ehepaar braucht hin und wieder etwas Abwechslung. Dann würde es auch im Bett besser laufen. Und er hatte Recht. Wir trieben es seitdem täglich. Es hat uns tierisch angemacht, wenn die Püppchen verbluteten, während wir es uns gegenseitig besorgten.« Granny hielt inne und fuhr sich mit der Zunge über die blassen, rissigen Lippen. »Aber dann hat er es übertrieben. Hat die Püppchen regelrecht abgeschlachtet und mich nicht mehr mitmachen lassen. Wenn der Penner mich nicht mehr haben wollte, dann konnte er sich zum Teufel scheren!« Granny warf die Taschenuhr in Tessas Zelle. »Ich will, dass du hier drin verrottest! Du sollst sehr alt werden, mein Kind, und lange gesund bleiben … damit du viele Jahre in dieser Scheißzelle verbringst. Damit du weißt, wie es mir in all den Jahren erging, dort unten im Keller.«
Tessa stand noch immer reglos da, nachdem Granny bereits gegangen war. Sie starrte ins Leere. Es schien, als hätte sich ihre Seele schützend zurückgezogen in eine Welt, die für lange Zeit ihr Zuhause werden sollte.