PfeffiDie ham uns alle beneidet, meinen Bruder und mich: Wo zieht ihr hin? Nach Hoyerswerda? Oooh, da möchten’ma ooch hin. Da gibt’s ja nich’ma Schornsteine auf den Häusern!
Anfang der Siebziger stehen wir Kinder das erste Mal vor den neuen Häusern, die unsere Eltern bereits bezogen haben. An den Eingangstüren glänzen Klingelschilder voller Namen. Unzählige sind es bei den Hochhäusern, scheint uns. Wie Besucher stehen wir davor. Alles hier ist neu. Da, wo wir herkommen, sind neue Sachen – so wie die gute Stube, die nur sonntags und nie im Alltag benutzt wird – für inne Stadt, für gut. Deshalb hat man uns angescheuselt. Mit unseren guten Sachen stehen wir vor den Häusern, die schon bald nicht mehr für gut sein werden.
Denn es wird sich herausstellen, dass man in Hoy genauso ausgeleierte Trenningshosen trägt wie auf unserem Dorf in der Heede. Der gute Mantel, das orntliche Hemde und die weißen Strumpfhosen sind die Uniform, die die Hoyerswerdschen am Sonntagnachmittag anlegen, wenn sie in Familienformation – sehen und gesehen werden! – eene Runde durchs WK drehen. Und auch hier geht man inne Stadt, wie wir schon bald wissen werden.
Inne Stadt wird für uns immer die Altstadt von Hoy – wie Hoyerswerda irgendwann von allen genannt wird – meinen. Nie aber unsere Neubauten auf der anderen Seite des Flusses, in denen wir nun staunend ein ums andere Mal den Wasserhahn aufdrehen und die Klospülung ziehen. Bis wir uns daran gewöhnt haben, dass wir off Klo nicht mehr über den Hof müssen und dass warmes Wasser aus der Wand kommt. Das Messing der Klingelschilder ist bald schon stumpf, und ihre Oberfläche zerkratzt.
Die neue Stadt ist also nicht mehr für gut, und inne Stadt geht man in die Altstadt. Sie hat enge Gassen und Kopfsteinpflaster. In kleinen Bäcker- und Fleischerläden stehen Verkäuferinnen hinter hohen Tresen. Auf ihren toupierten Ponys thronen weiße Spitzenborten. Jede Ware holen sie einzeln aus dem Regal hinter sich – so, wie wir es vom Konsum auf unseren Heimatdörfern kennen.
In der Neustadt geht man in die Koofhalle – ein neues Wort! In jedem WK gibt es eine. Die Waren werden nicht mehr einzeln von einer Frau Drogan über die Theke gereicht. Nein, man spaziert entlang von Regalen voller Dinge, nach denen man nur zu greifen braucht! So sieht sie also aus, die neue Zeit.
Die Neustadt füllt sich erst nach und nach mit Kindern. Anfangs haben unsere Eltern uns in den Dörfern oder kleinen Orten zurückgelassen, aus deren Enge sie aufgebrochen waren. Nun laufen sie aber trotzdem täglich an spielenden Kindern vorbei, denn im gleichen Tempo wie die WKs gebaut werden, entstehen in der Neustadt Kunstwerke. Stetig werden es mehr Skulpturen, Reliefs und Wandbilder, und oft tanzen darauf Kinder im Reigen oder sitzen auf dem Schoß ihrer Mutter. Sie sind wie die Raketen, aus denen Kosmonauten winken, auf den Mosaiken: ein Versprechen.
RöhliIch war bei meinen Großeltern. Das war zu der Zeit normal. Wo ich drei Jahre alt war, ham meine Eltern die erste Wohnung in Hoyerswerda gekriegt. Das war auch nich ideal, weil, dann kam ich inne Wochenkrippe und war nur am Wochenende zu Hause.
YvonneDie Woche über war ich bei meiner Oma. Das war die »Mama«, und meine Mutter war die »Anna«. Ich kann mich sogar noch erinnern, als ich drei Jahre war und von dort wegmusste. Dass ich geheult hab. Weg von meiner Mama, zur Anna!
HausiMeine Oma war die »Mama«. Meine Mutter war die »Mutti«. Aber die war halt viel unterwegs und arbeiten – dann war ich bei der Frau Kuhlee unter uns. Und dadurch, dass deren Kinder immer »Mami« gesagt haben, war das irgendwann für mich und meine Schwester die Mami – und das war’se bis zum Schluss. Also ich hatte drei Mütter: Mami, Mama und Mutti.
Irgendwann holen unsere Eltern uns alle nach. Und sobald wir angekommen sind, lernen wir: Hier gilt ein allumfassendes, gemeinsames Sorgerecht. Das Hochhaus ist jetzt unser Dorf. Zehn Stockwerke, drei Eingänge, davor ein Trafohäuschen mit Spielplatz und Äonen von Wäschestangen. Die Reihen der Wäscheleinen sind seit Generationen und auf ewig eingeteilt. Hunderte Augenpaare wachen darüber Tag und Nacht aus den Fenstern. In einer Stadt voller Schichtarbeiter ist immer jemand heeme.
RöhliDie Wäschestangen … Was’de aus denen alles gemacht hast! Es gab natürlich ewigen Streit, weil: Keener konnte dort seine Wäsche aufhängen! Die Wohngebiete waren ja voll mit Kindern. Es klingelte immer jemand: »Kommste runter?«
YvonneAlle sind da gemeinsam hingezogen. Die Kinder waren alle ungefähr im gleichen Alter. Und auch im Haus – jeder kannte jeden. Ich hab in jeder Badewanne mal gebadet.
Allzu häufig sehen wir unsere Eltern nicht, denn sie arbeiten den ganzen Tag. Aber das Gute ist: In Hoy kann niemand verloren gehen. Gelegentlichen Fluchtversuchen begegnet die Hausgemeinschaft, indem sie gemeinsam WK für WK systematisch durchkämmt. Die Ausreißer werden triumphal in den Schoß des Kollektivs zurückgeführt. Wenn ein Kind am Abend nicht gefunden ist, verkünden grüne Toniwagen über scheppernde Lautsprecher die Botschaft. Daraufhin durchstreifen die Lichter der Taschenlampen die Wildnis, die sich vor jedem WK ausbreitet. Vom Fenster in der neunten Etage sieht es aus, als wären hunderte Glühwürmchen freigelassen worden. Die gesammelte Kraft spürt jeden Delinquenten auf. Von hier gibt es kein Entrinnen.
In den Häusern herrschen die Mütter – zumindest jene, die gerade nicht off Orbeet sind. Sie bevölkern auch das Elternaktiv, Hausgemeinschafts- und Betriebsgewerkschaftsleitungen, Plankommissionen, Festausschüsse und Wohngebietskomitees. Väter sind Winterkämpfer und Kampfgruppenkommandeure, vor allem aber: nicht anwesend. Ihr Lebensraum außerhalb des Betriebs ist die Garage. Am Rande jedes WKs haben sie sich zu Garagengemeinschaften zusammengeschlossen. Andere Städte haben Stadtmauern, bei uns begrenzen Garagenkomplexe die Stadt in alle Richtungen. Sie sind Bollwerke gegen den Autodieb, den Klassenfeind, die Frau. Ein Mann auf dem Klappfahrrad – wichtigstes Utensil! – ist unzweifelhaft unterwegs zur Garage, um das Auto zu besuchen.
RöhliDas Auto war für gut. Dafür war das Benzin zu teuer und das Auto zu wertvoll, als dass man Ausflüge macht und das nur für’n Spaß benutzt!
In den Garagen werden sie ausgehandelt: die legendären Tauschringe, die unsere Stadt überziehen wie ein unsichtbares Geflecht. Von der Zündkerze bis zur Wohnung gibt es hier alles. Was die Väter in der Garage tun, üben wir im Hausflur.
RöhliTraditionsgemäß wurde auf der Treppe gekaupelt, da hat man das Zeug ausgepackt – egal, ob Leute hoch- oder runterwollten. Mosaikhefte gegen Eisenautos. Das waren keene Matchbox, das waren Eisenautos! Eenmal hab ich zwölf Kaugummibilder gegen eins getauscht. Das hatte zwar keene Räder mehr, aber es war wirklich ’n Eisenauto. Und es kamen immer so Gerüchte auf: Es gibt jemanden in WK acht, der hat »Mosaik« Nummer fünf! Oh!
Wichtig beim Kaupeln: Nicht erwischen lassen von der Kittelschürze! Mit ihr haben unsere Mütter nicht unbedingt das bessere Statussymbol abbekommen. Aber sie müssen nicht jahrelang darauf warten, sondern können es jederzeit im CENTRUM-Warenhaus koofen. Man muss es nicht hegen und pflegen, und es ist egal, wer das schönste hat. Für derlei Kokolores fehlt den Müttern die Zeit. Früh schmieren sie Berge von Stullen, setzen Mützen auf, knoten Schals um Kinderhälse, verteilen Küsse und eene hinter die Löffel. Dann pesen sie zum Schichtbus, dritte Welle. Nachmittags inne Koofhalle, Küche, Wäsche, Hausaufgaben. Ausziehn, Waschen, Bette. Abends müssen die Erwachsenen lernen, wie das geht mit Kohle Gas und Energie. Auf den Wohnzimmertischen erscheinen Berge von Büchern, hinter denen unsere Eltern verschwinden.
ClaudiaMan hat die Eltern nich so viel gesehen. Meine Mutter ist früh ausm Haus gegangen, dann bin ich offgestanden. Abends wurde vielleicht mal zusammen eingekauft. Abendbrot essen – und dann hat meine Mutter gearbeitet. Meine Eltern sind beide sehr intelligent, aber kamen aus ganz kleinen Verhältnissen. Und hatten eben die Chance, etwas zu werden. Deshalb waren sie der DDR extrem dankbar. Meine Mutter hat sich mit viel Fleiß wirklich hochgearbeitet. Am Ende war sie in der Brikettfabrik Direktor für Ökonomie. Sie hatte immer das Gefühl, sie muss doppelt so viel arbeiten wie ein Mann. Und die hatte nie viel Zeit. Das war eher so: Dreimal Sex gehabt – drei Kinder. Aber es wurde ooch nich gejammert, dass man die Kinder hatte. Wir waren halt da. Ich würde ooch nich sagen, dass wir gestört haben. Aber man musste sich schon manchmal einreden, dass’se eenen lieb haben.
YvonneMeine Mutter hat immer gesagt: »Wenn’s die Pille schon gegeben hätte, hätt’ich keene Kinder gekriegt.« Die kommen aus dem Weltkrieg. Das war’ne Angstgeneration, die waren froh, wenn’se sich durchgewurschtelt haben.
SchudiDieses behütete Helikopter-Ding von heute war es mit Sicherheit nicht. Es war ein sehr viel weitläufigeres Behütet-Sein, mit vielen unterschiedlichen Menschen. Kinderkrippenerzieherinnen und Kindergärtnerinnen. Der Spielplatz. Die Nachbarn. Der Block, der Wohnkomplex, der Schulweg. Keine Sorge der Eltern, dass man über die Straße gehen muss. Sehr viel Vertrauen aller Erwachsenen in die Dinge, die da kommen – und in die Kinder. Ich bin schon zum Kindergarten alleine gegangen.
Das Vertrauen in die Welt beginnt mit der Kittelschürze. Die Uniform der Mütter ist dezent in sich gemustert, mit Karos oder Rosen, ärmellos und aus Dederon, das sich elektrisch auflädt und im Sommer knisternd am Körper klebt. Was egal ist, denn in Kittelschürze ist man unter sich. Das Wichtigste an der Kittelschürze sind die Taschen. Darin befindet sich alles, was der Mensch braucht: zerknüllte Taschentücher, Bleistiftstummel, halb vollgekritzelte Zettelchen, Konsummarken, verklebte Bongse und angelutschte Lollis, Wäscheklammern, Sicherheitsnadeln, Kleingeld. Was auch immer herumliegt, wandert in die unergründlichen Tiefen der Kittelschürzentasche. In Wahrheit ist sie es, und nicht die Hausgemeinschaftsleitung, die unsere Gemeinschaft vor Unordnung und Chaos bewahrt. Zudem kann die Kittelschürzenträgerin jederzeit schnell in die Koofhalle springen. In ihrer Tasche findet sie mit Sicherheit ein paar Markstücke und ein winziges, aber endlos dehnbares Silastik-Mininetz. Mit dem trägt sie geschwind fünf Kilo Kartoffeln nach Hause.
Eine Kittelschürze ist alle Kittelschürzen. Hat man etwas ausgefressen, geht man besser jeder aus dem Weg. Hat man ein aufgeschlagenes Knie oder eine Rotznase, kann man sich an jede wenden. Was meist nicht nötig ist, steht doch der Wäscheplatz unter permanenter Kittelschürzenüberwachung von der Fensterfront. Nähert sich eine Schürze persönlich, ist Gefahr im Verzug.
Normalerweise werden Kinder, sobald sie laufen können, der Obhut älterer Geschwister oder Nachbarskinder übergeben. Die Aufsichtsfunktion der Erziehungsberechtigten beschränkt sich auf ein markiges Runta da!, wenn man aufs Trafohäuschen klettert, oder ein freundschaftliches Ich wer’ dir Beene machen! Nie kämen sie auf die Idee, sich zu uns in den Sandkasten zu hocken. Ihr Ich mach glei’ mit, Freundchen ist rein rhetorisch. Ein schlechtes Gewissen, weil sie nicht da sind, kennen unsere Mütter nicht. Wenn sie wegmüssen, hängen sie die Schürze in den weißen Einbauschrank, der sich in allen Wohnungen gleich neben der Tür befindet, und fertig. Sie sind abwesend und doch da. Im Flurschrank riecht es nach unseren Müttern. Stets finden wir darin Taschentücher, Trost und Sicherheit.