Frau Kraatz hat den Text ihres Lieblingslieds fünfunddreißig Mal aufgeschrieben. Jedes Kind in unserer Klasse bekommt so ein Blatt. Darauf legen wir Transparentpapier. Mit wackliger Hand und klecksendem Füller ziehen wir die exakt geschwungenen Bögen ihrer Schönschrift nach:

Wer möchte nicht im Leben bleiben, / ​die Sonne und den Mond besehn, / ​mit Winden sich umherzutreiben / ​und an Wassern still zu stehn.

In Wahrheit stehen wir selten still – noch nicht einmal, wenn beim Fahnenappell der Befehl dazu ertönt. Nur für das Klassenfoto am ersten Schultag glückt es Frau Kraatz, dass wir für einen Moment alle in Richtung unserer versammelten Familien sehen. Am Morgen hat sich deren Strom aus den umliegenden Hauseingängen Richtung Schule ergossen. Schulanfang ist ein Festtag in Hoy, fast so wichtig wie der »Tag des Bergmanns«, der 1. Mai oder Weihnachten. Die Männer legen den guten Anzug an, die Frauen das großgeblümte Sonntagskleid mit Perlenkette. Uns Schulanfänger steckt man in kurze Hosen und frisch gebügelte Hemden oder kratzende Silastik-Kleidchen samt weißer Kniestrümpfe und Lackschuhe. Dabei verschwinden wir doch sowieso hinter den riesigen Zuckertüten, die wir kaum tragen können. Argwöhnisch begutachtet von den anderen Familien: Hat eener ’ne größere wie wir?

Es soll das einzige Mal bleiben, dass jemand uns zur Schule und zurück bringt. Unsere Stadt ist so gebaut, dass man förmlich aus jedem Hauseingang in die nächste Schule fällt. Kein Kind muss eine große Straße überqueren, sehr zum Leidwesen der Schülerlotsen mit den schneeweißen Käppis. Kein Auto, das sie stoppen müssten, um die Schulanfänger passieren zu lassen – hier fahren alle Bus, mit’n Rod oder loofen. Der allmorgendliche Strom von Kindern nimmt allerdings nie den vorgeschriebenen Weg um die Schule herum. Hunderte Füße trampeln den Maschendraht, der den Schulhof zu den Häusern hin abgrenzt, nieder. Jahr für Jahr wird der Hausmeister den Zaun in den Ferien aufrichten und flicken, Jahr für Jahr werden wir ihn wieder bezwingen. Vor Grenzen hat keinen Respekt, wer in Hoy zur Schule geht.

Nun aber schiebt uns Frau Kraatz – für den Schulanfang fein gemacht im Minikleid und mit hochtoupiertem Dutt – mit weit geöffneten Armen so weit zusammen, dass wir auf das Klassenfoto passen. Die meisten Kinder, zwischen denen wir hier stehen (während wir überprüfen, ob eins der Mädchen etwa größere Propellerschleifen an den Zöpfen hat), werden noch auf dem Abschlussbild der zehnten Klasse mit uns zu sehen sein. Dann werden wir nicht nur ihre Namen, sondern auch die ihrer Geschwister, Tanten und Onkels kennen. Wir werden wissen, von wo die Eltern nach Hoy gekommen sind, werden an den Familientischen gesessen, Geburtstage, Silvester und Urlaube zusammen gefeiert haben. Jetzt aber schiebt uns Frau Kraatz in den Klassenraum und wird uns gleich nachsprechen lassen:

Wir wollen lernen, / ​wir wollen studieren / ​das Einmaleins und das Buchstabieren. / ​Dann werden wir schlaue und fleißige Leute. / ​Wann fangen wir an? Morgen? / ​Nein, heute!

Gern würden wir heute anfangen, aber die Schulen werden erst morgen fertig gebaut sein. In unserer steigen wir anfangs über Bretter, der Beton riecht muffig feucht wie der in unseren gerade bezogenen Häusern, und auf dem Schulhof liegen zu unserer Freude vergessene Kieshaufen. Noch in der Nacht vor dem ersten Schultag haben die Lehrer Bänke und Stühle in die Räume getragen.

Auf den Schulkorridoren stapeln sich weitere Möbel, geliefert für Schulen, die noch gar nicht gebaut sind. Dummerweise wurden auch wir Kinder schon geliefert, und so quetschen sich in der ersten Schulstunde über vierzig von uns in den Raum. Wenn alle ganz still auf ihren Plätzen sitzen und vorschriftsmäßig beide Arme hinter die Stuhllehne klemmen, geht es.

Im Lauf der Jahre verschwinden die Möbel von den Gängen und die Klassen schrumpfen auf Normalgröße. Und irgendwann, wir haben bereits das Einmaleins und das Buchstabieren gelernt, ist Frau Kraatz verschwunden.

Jeden Morgen haben wir mit ihr gesungen: »Wer möchte nicht im Leben bleiben?« Sie selbst, stellt sich nun heraus. Dabei leben wir doch im ewigen Takt der Schichtbusse, der ein Ende nicht vorsieht.

Hatten wir den Tod nicht zurückgelassen, in den Dörfern? Dort gab es Friedhöfe mit verwitterten Steinen. Auf manchen standen die Namen unserer Familien. Anfangs waren unsere Eltern noch jedes Wochenende mit uns an diese Orte gefahren, die wir zunächst noch Zuhause nannten. Damals fragten wir uns auf den Schulfluren, deren Wände noch nicht bekritzelt waren, gegenseitig: Wo kommt’n ihr her? Die Antwort war noch nicht: Hoyerswerda. Damals waren wir samstags oder am letzten Schultag vor den Ferien noch direkt nach dem Unterricht in die Bautzner Straße gelaufen. Dort hatten wir auf die Busse gewartet, die uns zurück in unsere Dörfer brachten.

Schon bald aber standen wir seltener an den Haltestellen. Wir, unsere Familien, hatten zu tune – wie es bei uns statt zu tun heißt. Die Hausgemeinschaft veranstaltete am Samstag Subbotnik, bei dem wir die Rabatten harkten und abends Wurscht vom Grill aßen. Im Tierpark mussten Gräben ausgehoben werden. Die Hasenbande, mit der man neuerdings an den Bahngleisen umherstreifte, musste am Wochenende Bude bauen. Wir begannen, die Bushaltestelle zu vergessen.

Wenige Jahre später, als Frau Kraatz in ihrer kleinen Neubauküche den Gashahn aufdreht, kommen wir schon aus WK III, WK V E oder WK VIII. Und an der Bushaltestelle steigen nur noch alte Frauen aus den Bussen: unsere Großmütter, die wir immer noch »Mama« oder »Mutti« nennen. Fremd gehen sie durch die schnurgeraden Straßen. Sie verwechseln unsere Häuser, die in ihren Augen alle gleich aussehen. Weil sie inne Stadt gefahren sind, haben sie sich angescheuselt, die dünnen Haare in Wellen gelegt und mit einem fast unsichtbaren Haarnetz fixiert. In ihren riesigen Taschen tragen sie Äpfel aus dem Garten, eine Tüte Bongse aus dem Dorfkonsum und ein Kopftuch, das sie in der Stadt nicht mehr aufsetzen, aber immer mit sich führen.

Irgendwann kommen sie dann auch nicht mehr. Unsere Eltern begraben sie auf Friedhöfen, die nichts zu tun haben mit der Welt, in der wir jetzt leben. Die Geschichte beginnt mit uns.

Auch Hoyerswerda hat einen Friedhof; aber er liegt in der Altstadt. Der Weg zur Neustadt führt genau durch die Reihen der alten Grabsteine. Und irgendwann kommen Bagger und schieben sie beiseite, wie alles, das mit uns Neustadt-Bewohnern nichts zu tun hat.

Bevor die Fläche planiert und zu einem Park wird, suchen wir Kinder in der aufgerissenen Erde nach Resten von Knochen. Haben wir tatsächlich mit den Totenköpfen Fußball gespielt? Oder ist das eine jener Legenden, die sich schon bald um den Tod ranken; in unserer neuen Stadt, wo es ihn eigentlich nicht gibt?

RöhliIch werd das nie vergessen, diese Horrorgeschichten, die man sich immer erzählt hat. Die Kreuze auf den Hochhausdächern im Stadtzentrum. Da soll immer, wenn jemand aus Depression oder Verzweiflung vom Dach gesprungen is, eins draufgesetzt worden sein. Ich hab mal sieben Kreuze gezählt dort oben.

Später wird es heißen, unsere Stadt sei nicht nur die kinderreichste des Landes, sondern auch die mit den meisten Selbstmorden. Wer hier nicht in der Grube umkommt, springt vom Dach oder dreht den Gashahn auf. Wer sollte in Hoy auch einfach so sterben?

Die Alten sind in den Dörfern geblieben. Bis auf die alte Frau Beer. Schnell hat sich rumgesprochen, dass in unserem WK eine echte Rentnerin wohnt. Das stimmt, wie sich herausstellt – aber sie sieht anders aus als unsere Großmütter, die immer eine Arbeitsschürze über dem weiten Rock tragen, nie ohne Kopftuch aus dem Haus gehen und schwielige Hände haben. Frau Beer ist stets sorgsam frisiert, trägt edle Kleider und ausgesuchten Schmuck. Niemand weiß, wie und warum sie bei uns gelandet ist.

Ihre Wohnung ist so geschnitten wie alle hier und erscheint uns doch unfassbar exotisch. Dort steht nicht an der rechten Wand des Wohnzimmers die Schrankwand, davor die Couchgarnitur und links vor der Durchreiche der Esstisch mit vier Stühlen. Die alte Frau Beer – das alte wird stets mit genannt, wenn von ihr die Rede ist – ist ein Stück Vergangenheit in einer Welt, die doch nur aus Zukunft zu bestehen scheint. In dieser neuen Welt braucht man kein Altersheim. Zwar steht am Rand der Neustadt eines. Aber nur in der Altstadt gibt es Menschen jenseits der sechzig.

Also wird das Altersheim zur Geburtsklinik umfunktioniert. Die brauchen wir dringender. Hier wird alles täglich neu geboren. So wie Frau Kraatz es mit dem Füller auf weiße Blätter geschrieben und auf jeden Platz in unserer Klasse eins gelegt hatte, fünfunddreißig Mal: Wer möchte nicht im Leben bleiben?