Im Sommer meldet Hoy sich mehr oder weniger geschlossen ab. Es beginnt damit, dass die Dauercamper am Knappensee ihre Zelte aufschlagen. Der See, der vor unserer Zeit eine Grube war, ist eine halbe Fahrradstunde entfernt. Im Lauf der Jahre entsteht hier ein Mini-Hoyerswerda für den Sommer: Zeltplätze und Bungalows, so weit das Auge reicht, die Betriebsgaststätte Knappenhütte, Minigolf-Anlage, Eisstände und Koofhalle, Angelvereine und Bootsverleih, ja sogar die Betriebssportgemeinschaft Aktivist Schwarze Pumpe ist vor Ort mit der Sektion Rudern.

Die Hoyerswerdschen Camper schlagen ihre Zelte nicht irgendwo auf. Sie besetzen genau das Parzellenstück, dessen Grenzen die Familie – gefühlt seit Jahrzehnten!, mindestens aber seit letztem Jahr – durch eine Blumenrabatte liebevoll kennzeichnet.

Die Neustadt ist wenig älter als wir – aber ihre ungeschriebenen Regeln scheinen seit Menschengedenken zu existieren. Jeder weiß, was zu tun ist. Konzertierte Aktion. Hier zelten die, die immer hier zelten. Kein Fremder sollte sich einfallen lassen, Anspruch auf genau diese fünf Quadratmeter zu erheben. Sie werden in der Nacht vor der Parzellenvergabe Jahr für Jahr von der Familie besetzt. Nach Sonnenaufgang geht die Vertretung des Gesetzes mit dem Klemmbrett umher, vergibt Nummern, und Ordnung Sicherheit Disziplin sind gerettet. Der Sommer kann kommen.

Mit den ersten Sonnenstrahlen werden Campingmöbel und Fernseher an den See geschleppt, Kühlbehälter eingebuddelt und Luftmatratzen aufgeblasen. Wer kann, wird den ganzen Sommer über direkt von hier erste, zweete, dritte Welle nach Pumpe und zurück fahren.

Hinter dem Platz, wo sich Zelt an Zelt reiht, geht es steil hinab zum See. Wir wissen, dass er mal ein Tagebau war, und davor ein Dorf. Auf seinem Grund, heißt es, stehe noch der alte Kirchturm, dessen Glocke manchmal schlage. Nach der Schule treiben wir in Booten auf dem See und springen dort, wo wir seine Mitte vermuten, mit mulmigem Gefühl hinein: die Augen weit aufgerissen auf der Suche nach der Spuk-Kirche. Das Wasser aber bleibt schwarz, was nicht nur an der Tiefe liegt, sondern auch einer dünnen Schicht von Kohlestaub. Von der Brikettfabrik kommend, treibt sie auf der Oberfläche und wird allmorgendlich von den Rettungsschwimmern aus dem Badebereich auf den See geschoben.

Wer nicht campt, fährt in’ Gorten. An sämtlichen Rändern der Stadt bricht sich der Gestaltungswille der Neustädter – deren Häuser nicht wie die der Altstädter von Gärtchen umgeben sind – Bahn. Gartensparten werden gegründet. »Neue Zeit« heißt die erste, es folgen »Freizeit«, »Kuckucksruf«, »Am Betonwerk« und »An der Zentralküche«, »Sommerfreude«, »Frohe Zukunft« und »Glück auf«. Direkt hinter den Baracken des einstigen 1000-Mann-Lagers entsteht eine Ansammlung von ihnen: Parzellen, so weit das Auge reicht, ein WK-gewordener Kleingärtnertraum. Von nun an werden in Hoy nicht nur Kohle Gas und Energie in Massen produziert, sondern auch Möhren, Kohlrabi und Radieschen.

YvonneWir ham’n Bungalow gebaut, weil man ja sonst nur in diesem Arbeiterschließfach im WK acht gehockt hat. Das war eigentlich meine frühe Kindheit – da wurde gebaut. Und mein Vater war ein Super-Gärtner. Kurz nach der Wende hatte ich in Berlin versucht, Gras zu züchten, mit null Ahnung. Meine Eltern kamen zu Besuch und mein Vater: »So geht das nich. Gib mir mal bisschen Samen mit.« Dann hat er halt gezüchtet, zuhause in kleinen Töpfchen, und ausgepflanzt. Den Nachbarn haben sie erzählt, das wäre Tee. Die haben alle noch gute Ratschläge gegeben. Ich bin so Ende September in den Garten gekommen – und man hat schon von weitem gesehen: drei Meter hohe Pflanzen. Mein Gott, es war kurz nach der Wende! Es war zwar verboten, aber wenn man’n guter Gärtner is … Na ja, mein Vater hat die Pflanzen später rausgerissen, aber die sind überall nachgewachsen. Das Zeug wuchs wie Unkraut aus den Fugen von den Häusern raus. Eine Kleingartenanlage voll Gras, in Hoyerswerda!

Noch aber ist »Gras« für uns das, was zwischen den Häusern off’n Wäscheplatz wächst. Im Sommer ist dort wieder Platz für Leinen – pro Wohnung zwei Reihen! Der ewige Krach der herumwuselnden Kinder und bläkenden Eltern, die immerwährende Geschäftigkeit im Karree zieht vor die Tore der Stadt, um im Herbst zurückzukehren.

Viel später, als wir weg sind, genau wie die Häuser und die Schulen, wird sich die Stille die Stadt zurückholen und ganzjährig dort wohnen.

Noch aber sind wir Kinder, es ist Sommer, und Hoy stülpt sich von innen nach außen. Wir tauschen unser Leben in WK I bis X gegen eines in Parzelle 1 bis 1000.

RottlWir ham im Sommer nur im Garten gewohnt. Mein Vater war Dispatcher in Pumpe. Deshalb hatten wir ooch schon Telefon. Ja, und wenn die von dort angerufen ham, hat meine Mutter ’n roten Eimer rausgehangen – es gab ja keene Handys. Der Balkon war zu sehen vom Garten aus, und mein Vater hat immer mit’n Fernglas geguckt: »Oh, jetzt hängt der Eimer.« Dann isser los.

Am See oder im Garten ist alles wie immer: Wir Kinder rennen, bis es dunkel wird, durch die Wildnis. An irgendeinem Tisch bekommen wir eine Stulle. Irgendwoher bläkt es: Ich zieh dir glei’ die Hammelbeene lang, Freundchen! Abends leuchten die Lichter vom Hauptweg durch die Zeltwand, wie zuhause die Straßenlaternen vor dem Eingang. Es wird still am See. Und wir lauschen dem Plätschern des Wassers, aus dem ein begrabenes Dorf zu uns spricht.

Der Knappensee begrenzt unseren Radius zur einen Seite. In der anderen Richtung liegt Pumpe. Und dahinter die Welt. Ihr Name ist: Oppach. Zwar fahren wir auch mit unseren Eltern ins Betriebsferienheim – aber wirklich Ferien machen wir Kinder so, wie wir auch unsere Schulzeit verbringen: fröhlich und ohne Erwachsene. Zumindest fast, denn ein paar Gruppenleiter passen dann doch auf uns auf, wenn wir nach Oppach fahren. Regelmäßig in den Ferien windet sich im Morgengrauen eine endlose Schlange von Bussen aus der Stadt. Wir fahren ins Betriebsferienlager. Natürlich gestaffelt: erster, zweeter, dritter Durchgang. Bei Gesprächen erübrigt sich die Frage, ob das Gegenüber auch nach Oppach fährt. Welchen Durchgang fährst’n? reicht völlig aus.

Nicht nach Oppach fahren heißt: nicht dazugehören. Wirklich verdächtig ist, wer in ein Pionierlager fährt. Aus unerklärlichen Gründen ist im Fernsehen immer von einer Pionierrepublik die Rede. Doch obwohl wir alle mehr oder weniger fröhliche Pioniere sind, setzt kaum einer von uns jemals seinen Fuß in diese sagenumwobene Republik. So wenig wie unsere Eltern Urlaub auf der MS Völkerfreundschaft, dem vermeintlichen »Urlaubsschiff der Werktätigen«, machen. Nicht umsonst heißt es angesichts unerfüllbarer Wünsche: Wir sind hier nich off der Völkerfreundschaft. Wir sind in Oppach. Eine ganze Stunde Busfahrt entfernt.

RöhliOppach! Ich hatte überhaupt keene Ahnung, wo das lag. Das war weit, weit weg. Das war’ne Weltreise. Oppach war’n andrer Kontinent. Obwohl ich ooch mal in zwee andern Ferienlagern war, aber da musstest’de vorher paarmal in Oppach gewesen sein. Du musstest dir das verdienen, die Beförderung!

SchudiDu warst die ersten zwee Tage immer unglücklich, in jedem Ferienlager. Mit den vielen anderen Karacho-Typen … Die ersten Nächte. Einige Weicheier haben natürlich Heimweh und flennen, selbst die Jungs. Und irgendwann ist das Zuhause weit weg. Dann haste dich reingefunden, da war das wieder normales sozialistisches Lagerleben. Am Anfang ’n Appell und zum Schluss. Bisschen Lagerordnung, Disco, Wanderungen ohne Ende, Fußballturnier und dann Geländespiel, ooch Klasse. Zum Schluss die Zahnpasta off die Klinken schmieren. Jedes Jahr der gleiche Scheiß-Gag!

RöhliEinmal gab es einen Appell, da wurde vorgelesen, was einer Schlimmes nach Hause geschrieben hatte. Der Brief war abgefangen worden. Der arme Kerl wurde nach Hause geschickt, und das wurde öffentlich verkündet. Das hat sich bei mir eingebrannt.

Im Lager gibt es einen Wettbewerb um die beste Gruppe. Alles, was wir tun, wird bewertet – vom Moment an, da wir die Augen öffnen. Frühsport vor dem Bungalow, Antreten zum Essenfassen, Essen – erster, zweeter, dritter Durchgang –, Verhalten am Tisch, wer fertigt aus Naturmaterialien den schönsten Tisch-Schmuck?, Bettenmachen, Bude fegen, Volleyballturnier, Kulturwettstreit, abendlicher Zimmerdurchgang mit Waschtaschenkontrolle (Zahnbürschte muss rauskucken!) bis zur Nachtruhe, überwacht vom patrouillierenden diensthabenden Gruppenleiter. Das aber interessiert uns ungefähr so sehr wie der sozialistische Wettbewerb in Pumpe unsere Eltern. Wir sind Routiniers. Beim Geländespiel, das im Winter »Manöver Schneeflocke« heißt, laufen wir laut quatschend durch den Wald. Das militärisch wichtige Objekt, das wir aufspüren sollen, wird wie jedes Jahr hinter einem Busch liegen und aus einer Kiste mit Hansa-Keksen und Bambina-Schokolade bestehen. Auch diejenigen mit der Armbinde, auf die jemand mit Kugelschreiber »Kundschafter« geschrieben hat, quatschen mit. Was soll man auch auskundschaften zwischen Hügeln, die man schon hunderte Male hinabgerodelt ist? Nur wer verknackt worden ist, seine Schritte zu zählen, damit wir mit Marschrichtungszahl und Kompass den Weg bestimmen können, beschwert sich über unseren Krach. Jetzt ha’ich mich wieda vazählt!

Wenn es dunkel wird, verschwinden wir in unseren Hütten, aus denen nun das erbärmliche Quietschen der Metall-Doppelstockbetten zu hören ist. Einmal brechen in diesen Sound die ersten Takte der Filmmusik von »Hase und Wolf«, der russischen Trickfilm-Serie. Der Pionierleiter hat den Projektor, der vom Freiluftkino stehengeblieben ist, neu gestartet. Sekunden später fliegen die Bungalowtüren auf und hunderte kleiner Gestalten in Nachthemden und Schlafanzügen rennen quer über die Rabatten auf die große Lagerwiese. Nu pogodi! Irgendwann aber zieht Ruhe ein. Statt dem fernen Quietschen der Kohlewaggons hört man hier die Grillen zirpen, das Tuscheln aus dem Nachbarbungalow und vorn im Speisesaal die feiernden Gruppenleiter. Expeditionen starten, vom »Bungalow Erfurt« zum »Bungalow Cottbus«. Zettel werden durch Löcher, die Generationen vor uns ins Holz bohrten, geschoben, Antworten geflüstert, sich an Hinterwänden rumgedrückt.

RöhliIn eener Nacht sind’wa zu den tschechischen Mädels. Da stand wirklich eene am Fenster – wir waren vielleicht sieben Jungs – und dann hat die jedem einen Kuss gegeben. Auf den Mund!