Gegenüber von unserer Schule erstreckt sich endlos, über eine ganze Straßenlänge, die Polenmauer. Wenn man den Blick vom Klassenzimmer aus schweifen lässt, landet er auf einer Wand von hunderten Fenstern. Bei unseren eigenen Hochhäusern können wir auf zwei Kilometer Entfernung sofort erkennen, ob im heimischen Wohnzimmer oder bei Schulzes, zwei Eingänge weiter, das Licht brennt. Mit den Fenstern der Polenmauer aber verbinden sich kaum Namen, die wir kennen.
ClaudiaAls wir Anfang der Siebziger da eingezogen sind, gab es nur zwei Eingänge mit Deutschen. Der Rest waren Ungarn und Jugoslawen oder eben Polen, die alle in der Braunkohle gearbeitet haben, Vertragsarbeiter. Es gab ganz wenig deutsche Mitbewohner. Dann gab’s ooch eine polnische Barackenkneipe, die hieß im Volksmund »Polonia«. Und die Alis haben da gewohnt, die Algerier. Da kenne ich noch solche Geschichten: Die werfen Kühlschränke ausm Fenster. Und irgendeiner von denen hat angeblich mal einem Busfahrer die Ohren abgeschnitten.
Zu Beginn der Achtziger säumen wir im Spalier dicht an dicht gedrängt die Straßen zum WK VIII. In Hoy haben wir selten hohen Besuch. Nicht umsonst sagt man bei uns, wir leben in Randpolen – in jedem Fall abseits der Route von Staatsoberhäuptern. Jetzt aber kommt eines zu uns – aus Afrika. Der Mann, dessen Ankunft wir aufgeregt erwarten, muss wichtig sein. Für ihn wurden alle Straßen geputzt und geschmückt, ja sogar die Wohngebietsgaststätte Treff 8 renoviert. Seit kurzem wohnen ein paar seiner Landsleute in Hoy.
David1979 ging ich nachts in die siebente Klasse der Francisco Manhanga Secondary School in Maputo. Tagsüber habe ich meinem älteren Bruder beim Schweißen geholfen, für die Existenz. Dann habe ich erfahren, dass Mosambik einen Vertrag mit der DDR abgeschlossen hatte. Es wurde gesagt: Wer Interesse hat, kann sich melden. In Mosambik war Bürgerkrieg. Krieg zwischen Brüdern. Wir Jungen hatten Angst, dass jemand sagt: »Du musst zur Armee«. Jeder Junge weiß, dann hat er zwei Möglichkeiten: Kann in einer Sekunde erschossen werden, oder er muss in einer Sekunde andere erschießen. Also: Weg vom Krieg! Raus hier! Eine Ausbildung machen! Wenn wir zurückkommen, bauen wir alles, was kaputt ist, neu auf.
Europa kannten wir nicht. Ich hatte nie gehört, wo liegt denn die DDR. Wir wussten nicht, wie das Volk dort lebt. Man hat uns Filme gezeigt von der DDR: Schulen, Betriebe und so weiter. Sah alles schön aus.
Wir sind direkt nach Hoyerswerda gekommen, zehn Frauen und neunundachtzig Männer. Unsere ersten Schritte waren nicht so einfach: die deutsche Sprache, Europas Temperaturen, die Trennung von unseren Eltern, Geschwistern, Freunden. Wir bekamen ein Darlehen von vierhundert Mark für jeden Arbeiter, um Kleidung zu kaufen. Wir haben sechs Monate die deutsche Sprache gelernt, intensiv von 7.30 Uhr bis 17 Uhr. Schlosserlehre habe ich im BKW Welzow gemacht.
Ich war in der Werkstatt in Burghammer, nicht weit von Hoyerswerda. Andere Kollegen waren im Werk in Spreetal, als Schlosser oder LKW-Mechaniker, im Tagebau als Maschinist oder Baggerfahrer. In einer Brigade konnte einer aus Polen sein, zwei oder drei aus Vietnam, ein oder zwei von Mosambik und ein Meister. Das war ein internationales Kollektiv. Das hat Spaß gemacht in unserer Brigade dort. Unser Meister hat uns auch eingeladen. Die Tochter hatte Geburtstag oder seine Frau oder er selbst – dann haben wir Sonnabend eine große Feier gemacht, zusammen Spaß gehabt, und am Sonntag hat er uns in seinem Trabbi ins Wohnheim gebracht. Das gab es, aber nicht alle waren so.
Es gab eine Bank hinter unserem Wohnheim, wo man geschrieben hatte: »Nur für Deutsche«. Das war 1980, ich konnte noch nicht richtig die deutsche Sprache. Was heißt das? Dann habe ich mein Wörterbuch aufgemacht. Na ja: Sólo para alemanes.
Aber wir waren froh, zusammen mit den Weißen zu arbeiten und zu leben. Das war für uns eine große Revolution. Weil, bei uns in Mosambik hätten wir niemals zusammen mit Portugiesen … Das war streng verboten! Auf einmal kommen wir hierher, essen wir zusammen, feiern wir zusammen – das waren große Sachen für uns. Aber nach und nach hat man gemerkt, da stimmt was nicht.
In meiner Abteilung in Burghammer wir waren fünf Mosambikaner. Bei der Brigadefeier mussten wir an unserem Tisch allein sitzen. Die deutschen Kollegen haben sich auf die andere Seite gesetzt. Und es gab es einige, die konnten nicht ›David‹ sagen. »Ej du Neger, komm her!« Ich bin sowieso Neger, das hat mich am Anfang nicht gestört. Aber dann hab ich versucht, mit ihnen zu reden: »Ich heiße David.« Aber die haben weiter gesagt: »Komm her, du Kohle.«
Jetzt aber hat sich die ganze Stadt vor dem Treff 8 versammelt. Wir haben schulfrei, schwenken Papierfähnchen und skandieren »Mo-sam-bik und D-D-R, nie-mand kann uns tren-nen mehr!«. Und vielleicht glauben wir das tatsächlich in diesem Moment, da uns der hohe Gast aus der Staatslimousine heraus anlacht. Statt schlecht sitzender Anzüge wie unsere Bonzen trägt er eine Kampfmontur, statt eines Honecker-Huts ein Käppi und eine große Sonnenbrille wie ein amerikanischer Filmstar. Wieder und wieder schmettern wir einen Singsang, den wir in der Schule einstudiert haben, in den blauen Spätsommerhimmel: Kanimambo, kanimambo Frelimo. Kanimambo, kanimambo Frelimo. Kanimambo Frelimo. Aber der Filmstar verschwindet im Treff 8.
Jahre später werden wir hören, dass er mit dem Hubschrauber abgestürzt und tödlich verunglückt ist – für uns so unwirklich und exotisch wie sein Auftauchen an einem Septembernachmittag im WK VIII. Viva Presidente Samora Machela, kanimambo Frelimo.