Wir leben in der Zukunft, immerzu. Auf dem Spielplatz klettern wir auf Raketen aus grob verschweißtem Stahlrohr und von Wandmosaiken lacht Juri Gagarin. Er ist mit uns in die Stadt gezogen.
RöhliAls ich klein war, in den sechziger Jahren, gab es in Hoyerswerda ein Automatenrestaurant. Das war die Zukunft, das war Utopie! Wenn man da Geld reingesteckt hat, ging die Klappe auf, und dann konnte man sich was rausnehmen. Aber weil ganz Hoyerswerda dort war – es gab ja nüscht weiter –, war immer alles leer. Da stand dann eben so’ne einzelne Flasche dahinter oder ein einziges belegtes Brötchen. Es war alles eklig – aber meistens war sowieso alles alle. Deshalb ham die das, noch bevor ich richtig denken konnte, wieder abgeschafft.
HausiIch hab noch Zeichnungen von mir aus der ersten Klasse: »Wie stelle ich mir das Leben im Jahr 2000 vor?« Da sind alle Autos geflogen.
PfeffiIch hab immer utopische Landschaften gezeichnet und Städte erfunden. Mit vielen Hochhäusern! Dann war mal’n Wettbewerb ausgeschrieben um die Gestaltung der Magistrale. Und da hab ich mich als Schüler beteiligt, obwohl das eigentlich für Erwachsene war. Alles Mögliche hatte ich mir ausgedacht: kleene Kioske und Springbrunnen und so was alles. Weil, da war ja nich viel.
RöhliIch habe sogar mit meinem Vater im Zoo das Löwengehege mit aufgebaut. Ich weiß noch, dass ich ihn gefragt hab, warum wir am Samstag arbeiten gehen. »Das ist NAW.« Nationales Aufbauwerk, das hat sich bei mir festgesetzt. Da hat er die Fundamente mitbetoniert. Und ich immer dabei. So hat man das miterlebt, wie Hoyerswerda Stück für Stück aufgebaut wurde.
GabiWir sind eingezogen, zweiter Eingang von links – und am anderen Ende vom Haus stand noch der Kran, da wurde noch gebaut.
Das Jahr 2000 ist weit, aber schon bald wird Hoy eine richtige Stadt sein. So eine, wie wir sie immer auf den Bildern und Modellen sehen. Nicht alt und verwinkelt wie die Gassen und Häuschen der Altstadt, die zunehmend verfällt. Die neue Stadt – wenn sie denn erst erblüht ist – wird einen Kern urbaner Geschäftigkeit haben: Er heißt das Stadtzentrum. Der dafür vorgesehene Platz befindet sich genau in der Mitte der Neustadt. Dort wird es ein Kulturhaus geben mit einer großen Bühne, vor der wir in tiefen, weich gepolsterten Sesseln sitzen. Wir werden durch eine Ladenstraße spazieren, und unsere guten Kleider werden sich in den Schaufenstern spiegeln. Im Café werden wir Eis essen, und im Park, der sich durch die ganze Stadt zieht, auf der Wiese liegen. Einfach so. Es wird bei uns aussehen wie in den Städten, die wir aus dem Fernsehen kennen oder in die wir einmal im Jahr zum Einkoofen fahren: Dresden und Berlin. Auf den Straßen Menschen, die woanders hinwollen als in die Koofhalle oder zum Schichtbus.
Doch statt des Kulturhauses und Cafés wird im Stadtzentrum ein Hochhaus gebaut. Auf seinem Dach verkünden große Leuchtbuchstaben, worum es einzig und allein geht: Kohle Energie Gas. Davor erstreckt sich eine riesige Brache, die wir Wüste Sahara nennen. Wenn der Wind geht, wirbeln Staub und Sand durch die Luft. Nach jedem Regen verwandelt sich die Fläche in einen großen See, in dem wir baden und Piraten sind. Oder in eine wallende Matschepampe. Wir waten darin und bewerfen uns mit Schlammbomben. Für Erwachsene ist sie nur mit Gummistiefeln, die man stets dabeihaben sollte, zu durchqueren.
Nur dreimal im Jahr – zum 1. Mai, dem Tag des Bergmanns im Sommer und zum Republikgeburtstag im Herbst – herrscht Leben, wo einmal das Herz unserer Stadt schlagen soll. Genau die Stelle, die für das Kulturhaus vorgesehen ist, erwacht auf magische Art aus dem Schlaf: Der Rummel ist da. Im nächtlichen Schwarz der Neustadt suggerieren rhythmisch zuckende Leuchtreklamen großstädtische Vergnügungen. Die Sirenen der Fahrgeschäfte und die Schlagermusik der Buden dringen bis in den entferntesten Winkel jedes WKs. Sie sind die Einzigen, die das Gesetz brechen dürfen, das hier jeder kennt: Schichtarbeiter brauchen Ruhe! Für zwei Wochen ist Hoy schlaflos. Eine Art Broadway pulsiert an der Magistrale, der Hauptstraße der Neustadt, über die unbeirrt die Schichtbusse rollen. Wir drehen auf den Feuerwehren und Motorrädern der Kinderkarussells endlose Runden, sehen von der obersten Gondel des Riesenrads die ganze Welt bis WK IX und kommen dreckverkrustet nach Hause, weil der Sand der Brache auf dem zuckerwatteverschmierten Gesicht eine schleifpapierartige Schicht erzeugt. Nach ein paar Tagen aber rollt das großstädtische Flair in einem Zug von bunten Wagen Richtung Norden aus der Stadt. Ordnung Sicherheit Disziplin sind wiederhergestellt, und für die nächsten Monate wird wieder nur das Pfeifen der Sandstürme aus dem Stadtzentrum zu hören sein.
Ein Jahr wird vergehen, und wieder wird 1. Mai und Rummel sein. Wieder werden wir nicht an Schaufenstern flanieren. Die Zukunft rückt immer weiter in die Ferne – obwohl sie doch näher kommen müsste. Und unsere Eltern hören irgendwann auf, auf sie zu warten. Sie haben Besseres zu tun.
SchudiWK acht, Fünfgeschosser. Neulich haben wir mit meinen Eltern festgestellt, dass wir tatsächlich von allen zehn Wohnungen herbeten können, wer 1968 der Erstbezug war. Mit Kindern, wer da wann geboren ist, fehlerfrei durchexerziert. Wenn alle zur gleichen Zeit, innerhalb von wenigen Monaten, in so ein Haus einziehen – das ist ein gemeinsames Sich-Einrichten. Die waren alle een Alter, die waren mit’nander befreundet. Riesenpartys bei uns zuhause, jeder Geburtstag, alle ham geroocht, die ganze Bude … und die Kinder immer mittendrin. Dann wurde eine Hütte in Tschechien gemietet, und die ganze Hausgemeinschaft ist dahin gefahren. Was da für’ne Stimmung war, wie Klassenausflug! Die Erwachsenen noch alberner als die Kinder. So mit Feuermachen, Riesenschlafzimmer inner Baude … Das weiß man alles noch, mit ’ner Menge Details. Wer als Erster ’nen russischen Farbfernseher Raduga hatte: Familie Grasemann.
RöhliMan kannte sich notgedrungen, weil die Wände so dünn waren. Man wusste, dass bei Schulzes gegenüber die Frau immer rumbläkt: »Looothar!« Unter uns war Familie Fenn, sehr exotisch. Weil, die Frau ging nich arbeiten. Wenn ich nach Hause kam, hab ich bei Frau Fenn geklingelt, und sie hat mir’s Essen warm gemacht.
GabiDadurch, dass alle Kinder im gleichen Alter waren, hatten wir einfach ’ne Menge Spielfreunde. Die Kinderzimmer waren ja alle an der gleichen Stelle, nach hinten raus, weil die Wohnungen alle den gleichen Schnitt hatten. Und wir hatten so selbstgebaute Telefone, mit Angelschnüren. Zumindest konnte man sich verständigen, und du wusstest: Ah, jetzt guckt oben eener raus. Also sind wir ooch ans Fenster, und dann wurde gequatscht. Musste man natürlich offpassen, dass man nich erwischt wird!
YvonneBei uns haben die Müllers im Haus gewohnt, und er war Leiter von der Stadtbibliothek. Deshalb gab’s ’ne kleine Bibliothek im Gemeinschaftskeller. Da konntest’e Bücher ausleihen. Und dann hatten’se bei uns ’ne alte Tür hingestellt als Tischtennisplatte. Deshalb hab ich später beim Tischtennis immer gewonnen, obwohl meine Technik unmöglich war. Aber meine Bälle gingen immer noch rauf – weil ich auf’ner Tür gelernt hab, die kleiner war als’ne normale Platte. Manchmal wurde aus der Tischtennisplatte ’n großer Tisch gemacht, da gab’s dann Hausgemeinschaftspartys. Und es gab große Hausordnung, zweimal im Jahr wurden gemeinsam die Grünanlagen gezupft.
Hausordnung ist heilig. Die Kleene Hausordnung wechselt zwischen den Nachbarn einer Etage. Manche haben kunstvolle Schilder gebastelt, die nach Erledigung an die nachbarliche Türklinke gehängt werden. Wer Kleene Hausordnung hat, muss die Treppe bis zur nächstunteren Etage wischen. Vor allem muss er möglichst laut mit Kehrichtschippe und Eemer im Hausflur hantieren, damit es alle im Haus mitkriegen. Die Große Hausordnung erfordert den Einsatz der gesammelten hausgemeinschaftlichen Schlagkraft. An zwei Samstagen im Jahr erscheinen Punkt sieben die Männer des Hauses in Latzhosen vor dem Eingang und werfen die Maschinen an. Es wird Erde bewegt, geschaufelt, gespachtelt und gebohrt. Vor den Häusern weichen die Sandberge kleinen Vorgärten, die die Hausgemeinschaft mehr oder weniger liebevoll pflegt. Die Frauen müssen alle Fenster im Hausflur putzen, Kinder möglichst wenig Schaden anrichten beim Unkrautjäten und Gehwegfegen. Wir hassen es und wissen gleichzeitig: Der Hausordnung entgeht man nicht. Erst jenseits ihrer geharkten Rabatten beginnt das Reich der Freiheit, gleich hinter dem Haus. Dort herrschen die Kinder von Hoy.
KarstenDu bist vor die Tür gegangen und hast sofort Freunde getroffen. In den Weißen Bergen rumgestromert. Das war der Aushub von den Baugruben für die Häuser im Stadtzentrum, den’se aufgeschichtet hatten. Da sind wir im Winter sogar Ski runtergefahren. Oder hinten raus, Schwarze Elster, das war alles noch Wildnis, da stand nüscht zu dem Zeitpunkt. Von der Mutter die Stricknadeln geklaut und Pfeilspitzen draus gemacht. Versucht, Rebhühner zu jagen, alles so’n Quatsch …
RottlAm Bahnhof Neustadt bei der Umgehungsstraße, die nie fertig gebaut wurde, war so’n kleenes Wäldchen. Da hab ich meine erste Zigarette geroocht. Und die Berge, in den Bergen! Da ham wir Buden gebaut, mit Baumaterial vom Stadtzentrum – Wahnsinn! Bunkermäßig ausgebaut, mit Couch da drinne. Dann ging das los, die ersten Küsse … Ich hatte nie das Gefühl, dass ich inner Stadt zuhause bin – für mich war das weites Land.
SchudiUnsere Lieblingsplätze waren die Garagen. Diese gigantischen im WK neun – die waren dreistöckig! Wo mein Vater erzählt hatte, dass der Verantwortliche das ganze Baumaterial verhökert hatte und im Gefängnis verschwand. Deswegen dauerte das so lange mit der Baustelle. Und das war spannend, zwischen diesen Betonbewehrungsstäben rumzurennen. Dann kam immer mal’n beflissener Bürger, der versucht hat, die Jugend zu belehren. Das war natürlich super, dass man den ärgern und dann abhauen konnte!
RöhliDie Bauvorbereitung hat ja immer so lange gedauert. Für mich war das Schönste, wo WK neun noch nich stand. Da war zwei Jahre lang Sand offgeschüttet. Was für Erwachsene nich so toll war, was vielleicht unwohnlich wirkt – für mich war’s das Paradies. Ich bin in diesen Sandbergen rumgerannt … Da warn Pfützen dazwischen. Das waren für mich Landschaften, die ich selber gestalten konnte. Ich hab mindestens zweimal Dresche gekriegt, weil ich ni gemerkt hab, dass es dunkel wurde und dort ni aufhören konnte. Ich brauchte da niemanden und nichts, noch nichmal ’ne Schippe.
MauraWir hatten unsre Plätze, wir hatten unsre Freiräume, und du konntest wirklich machen, was’de wolltest. Da gab’s keene Zäune, wir konnten überallhin. Als das Stadtzentrum gebaut wurde, hatten ältere Jungs in so’m Berg ’ne Höhle gebaut. Da sind wir immer rein. Ooch mit den Leuten, die dann diese Nazis geworden sind – die se ja nich waren. Es wär’ uns im Traum nich eingefallen, uns an Schwächeren zu vergreifen. Oder irgendwas zu machen, was jemandem weh tut. Wir ham einfach Scheiße gebaut. Wie bei Astrid Lindgren, Michel aus Lönneberga. Das war so offen, das war grenzenlos.